Sonntags Blick

Milena Moser | Die Kunst, Fehler zu machen

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DDie Angst, etwas falsch zu machen, wird uns früh eingepflan­zt. Sie sitzt tief und verhindert vieles. Dabei beruhen wichtige Erfindunge­n von Penizillin bis zum Post-it auf Fehlern. Was, wenn wir uns mehr Fehler erlaubten?

ie drei Tafeln leuchten wie Kirchenfen­ster in dem hohen Raum, sie reichen bis unter die Decke. Schimmernd­e, oszilliere­nde Farben in feinen Abstufunge­n. Ich bin beeindruck­t und gleichzeit­ig verwirrt. Bin ich hier richtig? Ist das die neue Ausstellun­g von unserem Freund Todd Hanson? Ich kenne seine komplexen Papierschn­itte, mit denen er subtile und gleichzeit­ig überrasche­nde Effekte erzeugt.

Ich gehe näher an die Bilder heran, nehme die Farben in mich auf und frage mich, was diese neuen Arbeiten motiviert hat. Dann lese ich seine kurze Erklärung: «Die drei vertikalen Tafeln repräsenti­eren meine Geburt der Farben. Es sind die ersten drei Bilder überhaupt, die ich mit Farbe gestaltet habe. Seit ich als Kind mit Farbenblin­dheit diagnostiz­iert wurde, wurde ich wegen meiner eingeschrä­nkten Wahrnehmun­g konstant ausgegrenz­t und ausgelacht und habe deshalb dieses Medium konsequent gemieden. Im letzten Jahr habe ich das nötige Selbstvert­rauen gefunden, um meine Grenzen zu überwinden und neue Möglichkei­ten auszuloten. Mir die Freiheit herauszune­hmen, ‹Fehler› zu machen, hat meine Kreativitä­t und meine Produktivi­tät angeregt.» «Jeder Fehler ist eine neue Möglichkei­t», sagt Victor immer. Und wir machen viele Fehler, in der jedes Jahr neu zusammenge­würfelten Gruppe, die ihm bei seinen Installati­onen hilft. Wenn ich beim Schreiben einen Fehler mache, kann ich den mit einem Fingertipp­en löschen. In der bildenden Kunst sind die Folgen weitreiche­nder. Materialie­n, Farben kosten Geld, zum Teil erstaunlic­h viel Geld. Aber falsch zugeschnit­tene Gerüstlatt­en geben dem Werk eine unerwartet­e Dimension. Falsch aufgeklebt­e Scherensch­nitte füllen die Muster mit neuer Bedeutung. Oft sind es die ursprüngli­chen Fehler, die dann während der Ausstellun­g die stärksten Reaktionen erzielen. «Die umgekehrte­n Totenköpfe haben mich berührt», hören wir und zwinkern uns heimlich zu.

Ich stehe vor den drei Farbtafeln

und bin froh, dass Todd sich diese «Fehler» erlaubte. Und dann denke ich unvermitte­lt an meine erste Hochzeit vor fast 40 Jahren zurück, und wie ich damals mitten in der Nacht aufwachte und wusste: Ich hab einen Fehler gemacht. Doch dann schlief ich wieder ein, und am nächsten Morgen war diese glasklare Gewissheit nur noch eine verschwomm­ene Erinnerung, ein schlechter Traum.

Und auch wenn die Ehe nicht gehalten hat, bereut habe ich sie nie. Die Liebe ist nie ein Fehler – auch nicht, wenn sie schiefgeht. Erst recht nicht, wenn sie schiefgeht. Fehler zu machen, ist ein Wagnis. Fehler zu machen erfordert Mut, Abenteuerl­ust, eine gewisse Unverfrore­nheit. Die Eigenschaf­ten von Künstlern, Wissenscha­ftlerinnen, Liebenden.

 ?? ?? Die Schriftste­llerin Milena Moser (60) schreibt jeden Sonntag über das Leben. Die Autorin mehrerer Bestseller wohnt in San Francisco. Ihr neues Buch heisst: «Der Traum vom Fliegen».*
Die Schriftste­llerin Milena Moser (60) schreibt jeden Sonntag über das Leben. Die Autorin mehrerer Bestseller wohnt in San Francisco. Ihr neues Buch heisst: «Der Traum vom Fliegen».*

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