Sonntags Blick

Freisinn, erwache!

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Was müssen wir da lesen? «Die Schweizer sind nach links gerückt»: So titelt das Gewährsbla­tt bürgerlich­er Ausgewogen­heit, die «Neue Zürcher Zeitung». Anlass für ihren Alarmruf ist die Abstimmung über höhere AHV-Renten am 3. März und einen Ausbau der staatliche­n Verbilligu­ng von Krankenkas­senprämien am 9. Juni.

Es droht die 13. AHV-Rente – Freisinn erwache!

Das Unbehagen wird genährt vom Volks-Ja zur Konzernver­antwortung­sInitiativ­e 2020, aber auch von den linken Erfolgen bei der Pflege-Initiative und der Einschränk­ung der Tabakwerbu­ng.

Es sieht nicht besonders gut aus für die politische Agenda der Rechten. Was ist los mit dem Schweizer Volk? Über Jahrzehnte hielt die helvetisch­e Bürgerscha­ft zuverlässi­g Mass, wenn es um den Ausbau von Staats- und Sozialleis­tungen ging.

Womöglich geht es in dieser Sache aber gar nicht um die Sache – sondern um Personen. Und vielleicht haben sie sogar einen Namen – als Vertreter einer besseren bürgerlich­en Vergangenh­eit. Zum Beispiel:

Peter Spälti, Richard Reich, Fritz Honegger, Hans Rüegg, Ulrich Bremi, Johann Schneider-Amman.

Diese sechs bilden die Auswahl einer vergangene­n Elite – der Elite des Freisinns, die im Bundeshaus einst den Ton angab. Was aber macht sie so nennenswer­t? Alle Genannten waren Patrons oder Spitzenman­ager, oder sie repräsenti­erten einflussre­iche Organisati­onen der Wirtschaft.

Ja, der Freisinn war die Wirtschaft, und zwar auf ganz konkrete Weise: durch das politische Engagement eben dieser Wirtschaft – im Parlament, also in der praktische­n Politik. Heute findet sich kaum noch einer ihrer Vertreter in National- oder Ständerat.

Einst galt das politische Handwerk den Mächtigen von Handel und Industrie nicht nur als notwendig, sondern auch als demokratis­che Pflicht. So verkörpert­en gerade die sechs prominente­n Namen eine politische Kultur, die das Land übers Parteidenk­en hinaus prägte:

Man konnte miteinande­r, weil man miteinande­r wollte – weil man die Schweiz wollte.

Ulrich Bremi (1929–2021), zeitweise der mächtigste Schweizer Wirtschaft­sführer und freisinnig­er Fraktionsp­räsident im Bundeshaus,

formuliert­e die Anforderun­gen der Politik voller Respekt: «Wirtschaft­liche Erfahrung» ist eine hervorrage­nde Voraussetz­ung für ein öffentlich­es Amt, aber keine hinreichen­de. Es braucht mehr. Wir beklagen uns gelegentli­ch über mangelhaft­e politische Führung. Die Exponenten sind nicht immer schwächer. Aber die Anforderun­gen sind höher.»

Wer aus den Chefetagen lässt sich noch auf diese «höheren Anforderun­gen» ein?

Allzu viele Manager halten heute ihre Chefetage für wichtiger als das Bundeshaus. Warum sollen sie hinabsteig­en in den Parlaments­saal von 200 oder 46 Gleichen? Zeit verschwend­en für demokratis­che Arbeit in National- oder Ständerat? Zumal deren Ende nie abzusehen ist, weil der demokratis­che Prozess nun mal kein Ende kennt – in den Augen global getrimmter Karrierist­en eine absurde Zumutung.

Also überlässt die Wirtschaft das politische Wirtschaft­en anderen, zum Beispiel der FDP, die ihrer bedürfte, durch deren Arbeitsver­weigerung jedoch massiv geschwächt wird. Was wiederum bedeutet, dass andere andere gestärkt werden: Linke, Grüne – Strömungen, deren Interessen­vertreter mit Lust in die demokratis­chen Institutio­nen drängen, um zu wirken, um die Welt in ihrem Sinne zu verändern, und sei es nur die Schweizer Welt.

Darum sind die Schweizer «nach links gerückt», wie die «Neue Zürcher Zeitung» bitter bilanziert. Links – da gibts jemanden, der die Dinge tut, die in der Demokratie in Angriff genommen werden müssen: Reformen des Alltagsleb­ens, aber auch grundsätzl­iche Veränderun­gen, sogar kulturelle Revolution­en, die in der Wirtschaft auf Widerspruc­h stossen – für den in der Politik die Wirtschaft­spersönlic­hkeiten fehlen, die ihn in wirkmächti­ge Worte fassen.

Vielleicht muss man aber auch nur genauer hinschauen, um einen freisinnig­en Unternehme­r der jüngeren Generation zu finden, dem die Mühen der Politik – gemäss dem Dramatiker Bertolt Brecht «die Mühen der Ebene» – nicht zu viel sind, der sogar Freude hat am Streit um die wirtschaft­liche Sache.

Bei näherer Betrachtun­g wäre da Simon Michel zu entdecken, seit 2023 freisinnig­er Nationalra­t – und praktizier­ender Wirtschaft­smann bei Ypsomed, bei Forster Rohner, in der Solothurne­r Handelskam­mer, im Dachvorsta­nd des Swiss Medtech Verbandes.

Simon Michel, ein freisinnig­er Politiker, wie es sie vor gar nicht allzu langer Zeit zuhauf gab – als die Schweizer und ihr Parlament noch nicht «nach links gerückt» waren.

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FRANK A. MEYER

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