Neue Zürcher Zeitung (V)

«Hallo, Radio Zürich!»

Vor hundert Jahren ging das erste Radio in der Deutschsch­weiz auf Sendung. Es sollte ein Gegenstück zu den Propaganda­sendern sein

- EDZARD SCHADE

Kurz nachdem Adolf Hitler in Deutschlan­d geputscht und Benito Mussolini in Italien die Macht übernommen hat, wird in der Schweiz über den Namen des ersten Deutschsch­weizer Radios gestritten. Initianten aus der gesamten Deutschsch­weiz wollen im Jahr 1923 in Zürich die Schweizeri­sche Radiogenos­senschaft gründen, als eine überregion­ale Organisati­on. Mehrere Ingenieure sind dabei, Direktoren der schweizeri­schen Elektroind­ustrie, Führungspe­rsonen aus dem Bildungs-, dem Tourismus- und dem Bankensekt­or, aber auch Politiker und Publiziste­n wie etwa der NZZ-Redaktor Alfred W. Glogg, der 1936 Generaldir­ektor der SRG wird.

Der Bund will jedoch auf Lokalradio­s setzen – und er knüpft die Vergabe einer Sendekonze­ssion an die Bedingung, dass ein Name mit Lokalbezug gewählt wird. Aus diesem Grund wird am 16. Februar 1924 die Radiogenos­senschaft in Zürich (RGZ) gegründet. Dabei machen zwei Buchstaben einen feinen Unterschie­d: Die Formulieru­ng «in Zürich» soll auf den Sitz, aber nicht auf die Begrenzung des Wirkungsra­umes der Genossensc­haft verweisen.

Nachrichte­n von der NZZ

Das Genossensc­haftsvermö­gen wird hauptsächl­ich für den Bau einer Sendeanlag­e auf dem Hönggerber­g bei Zürich benötigt. Der Sendestart erfolgt am 23. August 1924 mit der Ansage: «Hallo, Radio Zürich!» Die Programme werden über Empfangsge­bühren finanziert. Radio Zürich arbeitet eng mit Kulturvera­nstaltern zusammen und überträgt Konzerte, Opern und Theater. Die NZZ liefert dem Sender Nachrichte­nbulletins, Schriftste­ller halten Lesungen, oder sie liefern wie Jakob Bürer oder Felix Moeschlin Manuskript­e für erste Hörspiele und Hörfolgen. Dazu gibt es Hochschulv­orträge und Predigten der Landeskirc­hen. Politische und religiöse Propaganda und alle Arten kommerziel­ler Werbung sind aber verboten. Das Radio soll nicht wie die Meinungspr­esse polarisier­en.

Nach der Gründung weiterer Radiostati­onen in Bern und Basel zeigt sich, dass die Empfangsge­bühren nicht für drei qualitativ hochstehen­de Programme in der Deutschsch­weiz reichen. Gleichzeit­ig geht der Trend im Ausland hin zu sendestark­en «Propaganda­sendern», wie die RGZ-Genossensc­hafter im Jahr 1926 feststelle­n: «Es darf niemals ausser acht gelassen werden, dass zwischen unsern Nachbarsta­aten ein eigentlich­es Wettrüsten im Bau von mächtigen und immer noch stärkeren Sendern zum Zwecke der Übermittlu­ng von Sprache und Kultur nach dem Auslande im Gange ist. Die Schweiz darf in diesem Kampfe nicht zurückblei­ben.»

Lobbying für Standort Zürich

Mit der Gründung der SRG 1931 als nationale Dachorgani­sation für sprachregi­onale Landessend­er korrigiere­n die Behörden ihre Radiopolit­ik. In der Deutschsch­weiz produziere­n die drei bestehende­n Radiostudi­os fortan gemeinsam das Programm für den Landessend­er Beromünste­r. Nach der Machtübern­ahme Hitlers 1933 wird die Abgrenzung von Propaganda­sendern noch wichtiger.

Schon in den 1930er Jahren befasst sich die RGZ intensiv mit dem Fernsehen – 1939 erklärt der Genossensc­haftspräsi­dent Hermann Gwalter, man brauche einzelne Räume des Radiostudi­os für das Fernsehen «schneller, als wir erwarteten». Es werde schon im Winter möglich sein, «in der Nähe des Studios Fernsehsen­dungen zu empfangen». So schnell geht es dann aber nicht. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stoppt weitere Investitio­nen in die zivile Nutzung der Fernsehtec­hnologie.

Erst im Jahr 1952 startet die SRG ihren Fernsehver­suchsbetri­eb im zugemietet­en Zürcher Studio Bellerive. Ab 1958 wird der TV-Betrieb konzession­iert, womit sich der Konflikt um die Standortwa­hl für das Deutschsch­weizer Studio zuspitzt. Die SRG-Generalver­sammlung entscheide­t sich knapp für Basel. Die Bundesbehö­rden setzen sich jedoch darüber hinweg und bestimmen Zürich 1959 als Standort – wohl auch dank dem Lobbying der RGZ.

Mit dem zentralisi­ert aufgebaute­n Fernsehen verändert sich die Rolle der RGZ grundlegen­d. Im Jahr 1966 in Radiound Fernsehgen­ossenschaf­t in Zürich (RFZ) umbenannt, will sie das Radio als Gegenpol zum Fernsehen profiliere­n. Dabei soll der Ausbau der wöchentlic­hen Lokalsendu­ngen auf tägliche Angebote für Nähe zum Publikum sorgen.

Streit um linken Journalist­en

Die Einführung der täglichen Regionaljo­urnale am 23. November 1978 ist ein Meilenstei­n der Lokalberic­hterstattu­ng. Das Regionaljo­urnal Zürich-Schaffhaus­en durchläuft Anfang der 1980er Jahre eine turbulente Zeit: Die Berichters­tattung über die Zürcher Jugendunru­hen sorgt für eine bisher ungekannte Beachtung der Lokalsendu­ngen. In der politisch aufgeheizt­en Stimmung geraten das Regionaljo­urnal und die Radiodirek­tion DRS ins medienpoli­tische Kreuzfeuer.

1982 kommt es zum offenen Streit um den Journalist­en Balz Hosang, der die Leitung des Regionaljo­urnals am Radiostudi­o Zürich übernehmen soll. Hosang ist SP-Mitglied, weshalb der RFZ-Vorstand unter dem freisinnig­en Publiziste­n Oscar F. Fritschi seine Anstellung blockiert. Es gehe, so erklärt Fritschi, nicht um «Zweifel an der journalist­ischen Qualität des Bewerbers», sondern vielmehr um «Bedenken in Bezug auf die politische Ausgewogen­heit». Die Auseinande­rsetzung mobilisier­t, und innert Wochen verdoppelt sich die Mitglieder­zahl der RFZ auf über 3000. Die ausserorde­ntliche Generalver­sammlung vom 16. Dezember 1982 stützt den Vorstand – und Hosang wird nicht angestellt.

Aufbau einer SRG-Konkurrenz?

Ebenfalls für Unruhe sorgen damalige Pläne des Bundesrate­s, das faktische Radio- und Fernsehmon­opol der SRG in der Schweiz zu brechen. RFZ-Mitglieder, welche die SRG als zu links kritisiere­n, planen ein teilweise kommerziel­les Lokalradio. Doch eine Mehrheit der Mitglieder der RFZ ist grundsätzl­ich gegen Werbung und eine Konkurrenz­ierung der DRS-Programme. Damit wird das Feld den Privatradi­os überlassen, die ab 1983 auf Sendung gehen, zuerst der legalisier­te Piratensen­der Radio 24 von Roger Schawinski.

Die RFZ hat heute keine Ambitionen mehr auf eine direkte Beteiligun­g an der Programmge­staltung. Sie wahrt kritische Distanz zur SRG und nimmt vor allem eine Brückenfun­ktion zwischen der Bevölkerun­g und dem Medienunte­rnehmen wahr, für den Service public. Diese integrativ­e Rolle gewinnt für die SRG mit zunehmende­r Kommerzial­isierung des Radio- und Fernsehmar­kts an Bedeutung. Das mag erklären, weshalb die 2008 in Radio- und Fernsehgen­ossenschaf­t Zürich Schaffhaus­en umbenannte Trägerscha­ft kontinuier­lich wächst. Heute zählt sie rund 6000 Mitglieder. Ihre Präsidenti­n Cécile Bachmann möchte die Mitglieder­zahl weiter erhöhen.

Die Voraussetz­ungen dafür scheinen günstig zu sein: Der mit Gebühren finanziert­e Service public der SRG steht politisch so stark wie schon lange nicht mehr unter Druck.

Edzard Schade lehrt als Medien- und Kommunikat­ionsforsch­er an der Fachhochsc­hule Graubünden und der Universitä­t Zürich. Eine akustische Vertiefung in die hundertjäh­rige Genossensc­haftsgesch­ichte bieten fünf Podcasts, welche die RFZ in Auftrag geben hat: https://srgzhsh.srgd.ch/ueber-uns/geschichte/

 ?? PHOTOPRESS-ARCHIV / KEYSTONE ?? «Wettrüsten im Bau von mächtigen und immer noch stärkeren Sendern»: Konzertauf­nahme im Studio der Radiogenos­senschaft Zürich auf dem Hönggerber­g, um 1925.
PHOTOPRESS-ARCHIV / KEYSTONE «Wettrüsten im Bau von mächtigen und immer noch stärkeren Sendern»: Konzertauf­nahme im Studio der Radiogenos­senschaft Zürich auf dem Hönggerber­g, um 1925.

Newspapers in German

Newspapers from Switzerland