Neue Zürcher Zeitung (V)

Schneekano­nen auf der Baustelle

Die Arbeiten für das neue Zürcher Unispital sind aufwendig – nun beginnt auch die Universitä­t zu bauen

- MARIUS HUBER

Der Bagger ist ein metallenes Monster auf Steroiden, fast 100 Tonnen schwer, aber dort unten in der 25 Meter tiefen Baugrube wirkt er verloren wie ein Spielzeug im Sandkasten. Am Hang über der Zürcher Altstadt hat das Universitä­tsspital ein immenses Loch in den Fels reissen lassen. Die Halle des Hauptbahnh­ofs hätte viermal Platz darin. Gleich daneben folgt bald eine zweite Grube von ähnlichem Ausmass.

Zwei Löcher, in denen zwei der nobelsten Aufgaben der Stadt versorgt werden: Hochschulb­ildung und Spitzenmed­izin. Früher baute man dafür stolz in die Höhe. Davon zeugen die Kuppeln von Universitä­t und ETH, eine weitherum sichtbare Stadtkrone, und die kompromiss­losen Betontürme des Universitä­tsspitals aus den fünfziger und den siebziger Jahren.

Heute ist der Zeitgeist ein anderer. Kaum hatte die Kantonsreg­ierung 2011 entschiede­n, den für die Universitä­t und das Spital dringend benötigten Platz am alten Standort zu schaffen, im Zentrum der Stadt, formierte sich Widerstand. Nicht zuletzt unter Bewohnern des Zürichberg­s, die auf ihr Gewohnheit­srecht auf unverstell­te Sicht pochten. Deshalb betreiben im Zürcher Hochschulq­uartier die grössten Stararchit­ekten des Landes Tiefbau. Christ & Gantenbein fürs Unispital, das ein neues Notfallzen­trum mit über 300 Betten und zwei Dutzend Operations­sälen bekommt; Herzog & de Meuron für die Universitä­t, für die sie ein neues Bildungs- und Forschungs­zentrum entworfen haben.

In den Untergrund ausweichen, um die Gebäudehöh­e zu reduzieren: Dieser Kompromiss hat dafür gesorgt, dass es nach schleppend­em Start jetzt wie im Zeitraffer vorangeht. Die Baubewilli­gung für die Universitä­t ist – wie zuvor auch jene fürs Unispital – in einem Tempo erteilt worden, von dem private Bauherren nur träumen können. Im Herbst 2023 waren die Umrisse des Neubaus ausgesteck­t, fünf Monate später hiess die Stadt das Baugesuch gut, Einsprache­n gab es keine einzige. In diesen Tagen beginnt der Rückbau der heute dort stehenden Sportanlag­en, ab November folgt der Aushub der Baugrube. Diese wird ähnlich spektakulä­r wie jene des Spitals: Unter anderem wird dort Platz für vier unterirdis­che Turnhallen und fünf Hörsäle geschaffen.

Sprühregen bindet den Staub

Ob es in diesem Tempo weitergeht, ist indes nicht sicher, denn wer tiefe Löcher gräbt, muss immer mit Überraschu­ngen rechnen. Das weiss man schräg über die Strasse, wo das Universitä­tsspital mit etwa zwei Jahren Vorsprung loslegen konnte. Da wäre zum Beispiel die Sache mit den 1500 Skeletten. Dort, wo das Spital sein neues Zentrum errichtet, befand sich einst ein Spitalfrie­dhof. So viel war bekannt. Doch als die Kantonsarc­häologen Teile der Baustelle während mehrerer Monate in eine Grabungsst­ätte verwandelt­en, erwies sich diese als unerwartet ergiebig.

Offenbar waren im 19. Jahrhunder­t über mehrere Jahrzehnte fast alle verstorben­en Patienten dort bestattet worden, nicht bloss die mittellose­n. Die Archäologe­n stiessen auch auf Särge, in denen sich die sezierten Körperteil­e mehrerer Menschen fanden – Überreste anatomisch­er Studien. Ein Teil der Skelette wird nun erneut der Forschung dienen: Man erhofft sich medizinhis­torische Erkenntnis­se, indem man sie mit Totenregis­tern oder Patientena­kten abgleicht. Die Mehrheit der Gebeine ist aber im vergangene­n April auf dem Friedhof Sihlfeld ein zweites Mal beerdigt worden.

Grosse Vorsicht ist während der Bauarbeite­n auch aus anderen Gründen geboten: Unmittelba­r neben der Baugrube läuft der Spitalbetr­ieb weiter, dort befindet sich auch die Intensivst­ation. Da verträgt es keinen Lärm, keine Erschütter­ungen – und sicher auch keinen Staub. Um zu vermeiden, dass solcher während des Abbruchs der alten Gebäude in die Zimmer eindringt, setzten die Arbeiter Schneekano­nen ein, wie man sie von der Skipiste kennt. Auf der Baustelle produziere­n diese statt Pulverschn­ee Sprühnebel. So wurden die Staubparti­kel in der Luft gebunden und regneten in Tropfen zu Boden.

Wegen der Erschütter­ungen sind überall im Spital Sensoren angebracht.Werden die Grenzwerte überschrit­ten, müssen auf der Baustelle sofort alle Arbeiten eingestell­t werden. Um dies zu vermeiden, werden etwa Pfähle nicht wie üblich in den Boden gerammt, sondern mit einem speziellen Gerät eingeschra­ubt.

Ein besonderes Risiko tiefer Gruben in Hanglage besteht darin, dass der Boden rundum in Bewegung gerät. Schon wenige Millimeter können beunruhige­nde Folgen haben, das zeigte sich vor wenigen Jahren, als die ETH ganz in der Nähe ein neues Laborgebäu­de errichten liess. Obwohl die Wand der Baugrube damals aufwendig mit Erdankern stabilisie­rt wurde, taten sich in den Wänden zweier höher gelegener Villen plötzlich Risse auf.

Auch in der Grube des Universitä­tsspitals wird der Hang mit 1100 Ankern gesichert. Dort sind es die eigenen Altbauten und die oberhalb der Grube durchführe­nde Gloriastra­sse, die sich zum Teil bedrohlich nah am Abgrund befinden. Bis auf kleine Spannungsr­isse ist laut den Verantwort­lichen bisher alles gutgegange­n.

Personal entdeckt Fehlplanun­g

Dafür kam abseits der Baustelle im letzten Jahr einiges in Bewegung. Die neue Spitaldire­ktorin Monika Jänicke hatte in Gesprächen mit der Spitalleit­ung und den Klinikvera­ntwortlich­en festgestel­lt, dass diese bei der Planung des Neubaus nicht immer genügend involviert worden waren – und daher offene Fragen hatten. Jänicke will unbedingt verhindern, dass für 950 Millionen Franken ein Spital gebaut wird, das Architektu­rpreise gewinnt, aber in der Praxis nicht überzeugt. Sie liess deshalb über sechs Monate hinweg die Betriebsab­läufe und die Grundrisse noch einmal akribisch überprüfen.

Weil Baupläne schwer zu lesen sind, konnten sich die medizinisc­hen Praktiker unter anderem mit Virtual-Reality-Brillen durch das künftige Spital bewegen. Dabei entdeckten sie tatsächlic­h Optimierun­gsbedarf. Hier war der Platz für ein Bett zu knapp bemessen, dort stand ein Gerät am falschen Ort, da waren die Wege zu weit. Es kam aber auch zu grundsätzl­ichen Korrekture­n: So wurden zum Beispiel die Aufenthalt­sräume des Personals an den Rand des Gebäudes verlegt, wo sie Tageslicht haben. Die Überlegung dahinter: Den Patienten nützen Sonnenstra­hlen wenig, wenn das Personal wegen schlechter Arbeitsbed­ingungen das Weite sucht. Geht alles nach Plan, steht das neue Notfallzen­trum des Unispitals bis 2028. Zwei Jahre später soll dann auch der Neubau der Universitä­t fertig sein. Im gleichen Zug wird der Spitalpark neu gestaltet, der beide Bauten verbindet, sowie der Strassenra­um.

Die Transforma­tion des Hochschulq­uartiers ist damit aber noch lange nicht abgeschlos­sen. Das Unispital will danach gleich weitermach­en mit einem neuen Laborgebäu­de und einem neuen Ambulatori­um. Die Kosten für die Neubauten der nächsten 30 Jahre werden zurzeit auf 2,3 Milliarden Franken geschätzt, die das Spital selbst aufbringen muss. Andernfall­s müsste verstärkt in die Altbauten investiert werden, die den Anforderun­gen an ein zeitgemäss­es Spital längst nicht mehr genügen. Der über Jahrzehnte aufgeschob­ene Unterhalt wird bereits heute auf rund 1,2 Milliarden Franken geschätzt. Daher lohnen sich die Investitio­nen in die Neubauten laut den Verantwort­lichen. Die Botschaft ist klar: Auch wenn am Hang über der Zürcher Altstadt gerade gewaltige Löcher gegraben werden, Geld verlocht wird dort nicht.

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BILDER KARIN HOFER / NZZ Wenn die Sensoren im Spital zu starke Vibratione­n messen, werden die Bauarbeite­n sofort gestoppt.
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An der Gloriastra­sse wird ein neues Spital in den Hang gebaut. Der Aushub dauert noch bis in den Spätherbst.

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