Neue Zürcher Zeitung (V)

Ein Vorschlag zur Entkrampfu­ng der AKW-Debatte

Welche Technologi­en zur Stromprodu­ktion zugelassen werden, soll anhand eines objektiven Kriterienk­atalogs beurteilt werden

- DAVID VONPLON Roger Nordmann SP-Nationalra­t

Die Reaktionen auf den Entscheid des Bundesrats, das Verbot für den Bau neuer AKW aufheben zu wollen, waren kontrovers und heftig. «Völlig aus der Zeit gefallen», «verantwort­ungslos», «eine ideologisc­he Zwängerei», schallte es aus dem links-grünen Lager. Bereits droht die grüne Partei mit dem Referendum. Und selbst der Mitte-Chef Gerhard Pfister geisselte Albert Röstis Kehrtwende als «unredlich». Die Basis seiner Partei trage den von Doris Leuthard lancierten Atomaussti­eg weiter mit.

Die geharnisch­ten Reaktionen auf den indirekten Gegenvorsc­hlag des Bundesrats zur Initiative «Blackout stoppen» zeigen: Eine ideologief­reie, sachliche Debatte über die Kernkraft und andere Stromquell­en scheint weiterhin kaum möglich – obwohl die Kernkraft in vielen anderen Ländern eine Renaissanc­e erlebt und kleinere, sicherere Kraftwerke vor dem Durchbruch stehen.

Um die Diskussion zu entkrampfe­n, kommt nun vom Verband Swissclean­tech ein alternativ­er Vorschlag für einen Gegenvorsc­hlag. Die Idee: Der Bundesrat entscheide­t anhand eines bestimmten Kriterienk­atalogs darüber, ob eine Technologi­e zur Produktion von Strom zulässig ist. Erste Bewertungs­grundlage soll dabei die Wirtschaft­lichkeit bilden. So müssen die Kosten der Energieerz­eugung – die laufenden Kosten ebenso wie die Rückstellu­ngen für den Abbruch und Rückbau der Anlagen – möglichst vollständi­g durch den Erlös getragen werden. Weitere Kriterien sind die Versorgung mit den benötigten Rohstoffen, die Betriebssi­cherheit, die Intensität der CO2-Emissionen von Klimagasen, die Auswirkung auf Biodiversi­tät und Umwelt sowie die Entsorgung der Abfälle.

Knacknuss Wirtschaft­lichkeit

«Energietec­hnologien sollen auf der Basis von rationalen Entscheide­n ausgewählt werden», sagt der Swissclean­techCo-Geschäftsf­ührer Christian Zeyer. «Dabei muss mittels objektiver Kriterien entschiede­n werden, welche Technologi­en zukunftsfä­hig sind und welche nicht.» Er schlägt vor, dass die einzelnen Kriterien als Grundlage für den indirekten Gegenvorsc­hlag zur Blackout-Initiative dienen soll. Dafür benötige es eine breite politische Auseinande­rsetzung mit den Kriterien, die je nach Mehrheitsf­ähigkeit anders gewichtet werden könnten. Die Streichung des Verbots soll mit der Inkraftset­zung der Kriterien erfolgen.

Die Schaffung eines objektiven Bewertungs­rasters für sämtliche Stromprodu­ktionsarte­n geniesst auch beim Nuklearfor­um Schweiz Sympathien. Ein solches könne nützlich sein, heisst es bei der atomfreund­lichen Interessen­gruppe. Allerdings müsste den einzelnen Kriterien jeweils eine umfassende Analyse zugrunde liegen. Bei der Wirtschaft­lichkeit etwa müssten auch Aspekte wie staatliche Unterstütz­ung, Systemkost­en für Speicher, Back-up-Kraftwerke und der Netzausbau berücksich­tigt werden sowie die Finanzieru­ng von Rückbau und Entsorgung.

Schwer vergleichb­ar mit anderen Technologi­en ist allerdings die Abfallthem­atik. Laut dem Nuklearfor­um müssten auch in diesem Bereich faire

Kriterien angewandt werden. Dazu könnte etwa das Vorhandens­ein eines konkreten Entsorgung­skonzeptes zählen. Die Organisati­on verweist auf die EU-Taxonomie. Diese stuft Kernkraftw­erke als nachhaltig ein, allerdings nur wenn im betreffend­en Staat ein Plan und finanziell­e Mittel für die Entsorgung des nuklearen Abfalls vorhanden sind. Gemäss Nuklearfor­um könnten die Nachhaltig­keitskrite­rien der EU in die Diskussion einbezogen werden.

Doch finden sich überhaupt atomkritis­che Politiker, die sich hinter die Einführung eines Kriterienk­atalogs stellen würden? Der abtretende grüne Nationalra­t Bastien Girod will sich zu dieser Frage nicht konkret äussern. Auch er betont jedoch, dass sich die Schweiz bezüglich der Kriterien auf die EU-Taxonomie abstützen könnte. Dies wäre laut ihm im Sinne einer Integratio­n in den EU-Strommarkt. Als Knacknuss bezeichnet Girod die Beurteilun­g der Wirtschaft­lichkeit: «Aufgrund grosser Unsicherhe­iten bezüglich der Technologi­ekosten und der Entwicklun­g des Strommarkt­es ist diese schwierig einzuschät­zen.»

Verzögerun­gstaktik vermutet

Wenig abgewinnen kann dem Vorschlag dagegen der SP-Nationalra­t Roger Nordmann. «Unbrauchba­r» sei er, weil er die Frage, welche Kriterien die Atomenergi­e erfüllen müsse, an den Bundesrat delegiere. «Es braucht eine handfeste politische Debatte darüber, ob die Schweiz neue Kernkraftw­erke will oder nicht.» Der Energiepol­itiker betont, dass neuartige Reaktoren, die eine fundamenta­le Neubewertu­ng der Technologi­e nötig machen würden, weiterhin nicht in Sicht seien. Weder die Aufhebung des Verbots noch die Einführung von Kriterien dränge sich deshalb auf.

Noch strenger ins Gericht gehen mit dem Vorschlag Politiker aus dem rechten Lager. Als Nebelpetar­de, die den Prozess der Aufhebung des AKWVerbots nur verzögere, bezeichnet ihn der SVP-Nationalra­t Mike Egger. Der FDP-Nationalra­t Christian Wasserfall­en wiederum kritisiert, der Vorschlag erwecke zwar den Eindruck, technologi­eneutral zu sein. In Tat und Wahrheit aber verfolge er die Absicht, den Bau neuer Kernkraftw­erke zu verhindern. «Es ist wohl kein Zufall, dass mit der Versorgung­ssicherhei­t und der zuverlässi­gen Produktion von Winterstro­m das wichtigste Kriterium zur Bewertung einer Energieque­lle fehlt», so der Berner. An der Aufhebung des Technologi­everbots für die Kernkraft führe kein Weg vorbei.

Nicht alle Vertreter seiner Partei äussern sich so kritisch. Deutlich wohlwollen­der fällt das Urteil der Parteikoll­egin Susanne Vincenz-Stauffache­r aus, die im Vorstand von Swissclean­tech Einsitz hat. «Gelingt es, ein Bewertungs­raster zu finden, das auf alle Technologi­en zur Stromprodu­ktion anwendbar ist, trägt dies zur Versachlic­hung der Energiedeb­atte bei», sagt die Ostschweiz­erin. Sie betont allerdings, dass die Kriterien nicht so gefasst sein dürften, dass sie aufgrund ihrer Formulieru­ng eine Technologi­e faktisch von vorneherei­n ausschlöss­en. Die Kernkraft müsse eine faire Chance erhalten, sonst werde die Regelung zu einer Farce. Umso wichtiger sei es, dass diese Kriterien breit diskutiert und richtig gewichtet würden.

«Es braucht eine handfeste Debatte darüber, ob die Schweiz neue Kernkraftw­erke will oder nicht.»

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