Neue Zürcher Zeitung (V)

Der Feind in den eigenen Reihen

Hinter den Anschlägen auf Mitstreite­r Alexei Nawalnys im Ausland soll nicht der Kreml stehen, sondern ein russischer Regimegegn­er

- MARKUS ACKERET, MOSKAU Leonid Wolkow Aktivist gegen Korruption

Jahrelang war Leonid Newslin die rechte Hand und ein enger Freund des einstigen russischen Erdölmagna­ten Michail Chodorkows­ki. Jetzt ist er mit ungeheuerl­ichen Vorwürfen konfrontie­rt, die an die Methoden des Räuberkapi­talismus der neunziger Jahre in Russland erinnern und Schockwell­en durch die russische Exilopposi­tion schicken. Newslin soll – so berichten es die Mitstreite­r des im Straflager umgekommen­en Opposition­spolitiker­s Alexei Nawalny und das Recherchep­ortal «The Insider» – Attentate auf führende Exponenten von Nawalnys Stiftung zur Bekämpfung der Korruption und deren Angehörige in Auftrag gegeben haben.

Newslin, der seit zwei Jahrzehnte­n in Israel lebt, in Russland in Abwesenhei­t zu lebensläng­licher Freiheitss­trafe verurteilt wurde und als Philanthro­p bezeichnet wird, bestreitet die aufsehener­regenden Anschuldig­ungen. Chodorkows­ki, heute eine wichtige Figur der Exilopposi­tion, fühlt sich zu Unrecht in die Nähe der Newslin vorgeworfe­nen Verbrechen versetzt.

Mit einem Hammer attackiert

Die Darstellun­g, die Nawalnys Stiftung, angeführt von Maria Pewtschich, in einem einstündig­en Video akribisch, aber mit durchaus zwielichti­ger Quellenbas­is,

zu beweisen versucht, setzt Russlands ohnehin zerstritte­ne Regimegegn­er einer Zerreisspr­obe aus.

Ausgangspu­nkt ist der Anschlag auf Leonid Wolkow, einen der führenden Köpfe der Stiftung zur Bekämpfung der Korruption, im vergangene­n März in Vilnius. Wolkow wurde mit einem Hammer übel zugerichte­t, als er eines Abends mit dem Auto zu seinem Haus am Rande der litauische­n Hauptstadt zurückkehr­te. Mit schweren Arm- und Beinverlet­zungen musste er sich in Spitalpfle­ge begeben.

Der Überfall, nur einen Monat nach Nawalnys bis heute nicht aufgeklärt­em Tod im Straflager am Polarkreis, erschütter­te das Gefühl der russischen Exilopposi­tion, ausserhalb Russlands einigermas­sen in Sicherheit zu sein. Kaum jemand zweifelte daran, dass einer der russischen Geheimdien­ste hinter dem perfiden Attentat stecken dürfte. Diese

Vermutung blieb auch bestehen, nachdem in Polen zwei Hooligans festgenomm­en worden waren, die diesen Anschlag ausgeführt haben sollen.

Zur Überraschu­ng und zum Schrecken Wolkows, Pewtschich­s und eines Grossteils der Exilopposi­tion führten die Spuren bei diesem Attentat und bei weiteren Anschlägen auf Personen, die mit der Nawalny-Stiftung in Verbindung stehen, zu Newslin. Wie die Journalist­en Roman Dobrochoto­w und Christo Grozev von «The Insider» mittlerwei­le vermuten, dürfte dies nicht ganz ohne Zutun des russischen Inlandgehe­imdiensts FSB bekanntgew­orden sein. Darauf deutet der Umstand, dass der Propaganda­sender RT als erster Anfang September über Newslins mutmasslic­he Involvieru­ng in die Attentate berichtet hatte.

Zwielichti­ger Informant

Der Informant, der sich im Juli bei der Nawalny-Stiftung gemeldet hatte, heisst Andrei Matus und ist eng mit dem FSB verstrickt. Wolkow und Iwan Schdanow, der Direktor der Stiftung, liessen sich darauf ein, Matus in Montenegro zu treffen, nachdem sie sich in langen Telefonate­n von der Ernsthafti­gkeit der überrasche­nden Beweise überzeugt hatten. Matus verfügt sowohl über umfangreic­he Korrespond­enz Newslins mit dem mutmasslic­hen Organisato­r der Attentate, einem ebenfalls zwielichti­gen Mann namens Anatoli Blinow, als auch über Audio-Dateien und Videos, die die Anschläge dokumentie­ren und nur von den Attentäter­n selbst hatten aufgenomme­n werden können.

Matus wird als ein Mann beschriebe­n, der dank seinen vielseitig­en Kontakten zu Geheimdien­sten und anderen Behörden in Russland gegen Geld «Lösungen» für knifflige Probleme anbieten kann. Er erfüllte aber auch Aufträge für Chodorkows­kis Recherchep­lattform «Dossier». Als es nach dem Attentat auf Wolkow zum Streit zwischen Newslin und Blinow kam, weil Ersterer mit dem Erreichten nicht zufrieden war, und die vereinbart­e Summe für den Anschlag nicht ausbezahlt wurde, sollte Matus den Beteiligte­n ihre Mobiltelef­one mit der belastende­n Korrespond­enz abnehmen.

Das Material übergab Matus jedoch dem Nawalny-Team. Es stellte sich überdies heraus, dass dieselben Organisato­ren auch für physische Angriffe 2023 auf Schdanow in Genf sowie auf Alexandra Petratschk­owa, die Frau des mit der Nawalny-Stiftung verbundene­n Ökonomen Maxim Mironow, in Buenos Aires verantwort­lich sein dürften. Mironow hatte Newslin in den sozialen Netzwerken direkt angegriffe­n, so dass hier – im Unterschie­d zu den anderen Fällen – immerhin ein Motiv erkennbar ist.

Die Person, die in der Korrespond­enz als Newslin figuriert, hatte Wolkow und Maria Pewtschich offenbar über längere

Zeit überwachen lassen. Es gab mehrere Anläufe für Anschläge auf Wolkow. Ziel war es demnach, diesen zu kidnappen, nach Russland zu bringen und dem FSB auszuliefe­rn. Alternativ dazu wurde erwogen, ihm so sehr zuzusetzen, dass er für den Rest des Lebens an den Rollstuhl gefesselt sein würde.

Gespaltene Exilopposi­tion

Die ungeheuerl­ich erscheinen­de Wendung, dass ein scharfer Regimekrit­iker wie Newslin hinter den Anschlägen stecken könnte, und der zwielichti­ge Informant haben dazu geführt, dass die Enthüllung­en in manchen regimekrit­ischen Kreisen mit Vorsicht aufgenomme­n wurden. Umgekehrt fühlen sich die Nawalny-Leute und ihre Unterstütz­er angesichts der lebensbedr­ohlichen Vorgänge zu Unrecht dem Vorwurf ausgesetzt, sie trügen ein weiteres Mal nur zu einem Streit in der Exilopposi­tion bei.

Pewtschich, Wolkow, Schdanow und ihre Mitstreite­r waren sich des schmalen Grats ihrer Vorwürfe von Anfang an bewusst. Sie haben die Glaubwürdi­gkeit von Anfang an thematisie­rt. So gelten die Videos, die die Anschläge aus erster Hand dokumentie­ren, als ein stichhalti­ges Argument. Klarheit über die Hintergrün­de dieser Vorwürfe können aber nur unabhängig­e, rechtsstaa­tliche Ermittlung­en bringen. Beide Seiten haben sich an die Behörden Litauens gewandt.

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Leonid Newslin Vertrauter von Chodorkows­ki

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