Kampf um Kursk spitzt sich zu
Moskau und Kiew gehen immer höhere Risiken ein
Nach russischen Gegenangriffen haben die Ukrainer am Wochenende zurückgeschlagen. Dennoch bleibt die Frage, welche längerfristigen Ziele Kiew verfolgt. Ein politisches Kalkül ist aber deutlich sichtbar.
In der russischen Grenzregion Kursk toben seit Tagen Gefechte mit neuer Intensität. Nach der überraschenden Offensive der Ukrainer Anfang August mit einem Gebietsgewinn von knapp 1000 Quadratkilometern hatten sich die Fronten zunächst stabilisiert. Doch nun hat Moskau mit einem Gegenangriff eine unberechenbare Dynamik in Gang gesetzt.
Letzte Woche sah es so aus, als mache Russland Ernst damit, die Ukrainer aus seinem Staatsgebiet zu vertreiben. Am Mittwoch attackierten mechanisierte Truppen die ukrainischen Stellungen rund um das Dorf Snagost an der Westflanke des besetzten Territoriums. Laut der Analysegruppe Deep State Map verlor die ukrainische Armee etwa ein Zehntel des von ihr kontrollierten Gebiets, stabilisierte die Linien aber rasch. Diese sind nur punktuell befestigt, in vielen Gebieten sprechen Analysten von einer umkämpften Grauzone. Diese hat sich nun stark ausgeweitet.
Ukrainer brechen wieder durch
Am Donnerstag nutzten die Ukrainer die Bewegung auf russischer Seite zu einem Stoss in den Rücken der gegnerischen Armee aus. Wie Videos zeigen, räumten sie mit schweren Fahrzeugen die Befestigungen und Minenfelder an der russischen Grenze etwa 20 Kilometer westlich der Kursker Front weg und drangen in neues Territorium vor. Dabei gelang es ihnen laut Informationen beider Seiten, sich beim Dorf Wesjoloje einzugraben. Die Deep State Map weist rund 40 Quadratkilometer als umkämpft aus.
Am Wochenende erfolgten weitere Aktionen an der Grenze, dieses Mal beim Dorf Tjotkino, knapp 20 Kilometer westlich von Wesjoloje. Hier ist unklar, ob die Ukrainer eine permanente Präsenz anstreben oder die Russen nur mit Nadelstichen schwächen wollen. Bereits vor einigen Wochen waren diese gezwungen, sich aus einem sumpfigen Streifen unmittelbar westlich Tjotkinos zurückzuziehen.
Kiew hat sich damit weitere Orte an der Grenze freigekämpft, über die Vorstösse möglich sind. Deren Ziel besteht mutmasslich darin, die feindlichen Kräfte von der Versorgung abzuschneiden: Die Russen verteidigen zwischen Snagost und Tjotkino einen Streifen, den die Ukrainer von drei Seiten umfassen. Im Norden fliesst der Fluss Seim als natürliches Hindernis. Von ukrainischer Seite liesse sich der Streifen gut verteidigen.
Die Angaben darüber, wie nahe die Ukrainer diesem Ziel bereits gekommen sind, lassen sich schwer überprüfen. So erklärte die «Khorne Group»-Spezialeinheit, die laut eigenen Angaben am Durchbruch bei Wesjoloje beteiligt war, 8000 gegnerische Soldaten müssten sich entweder rasch aus dem Gebiet zurückziehen oder sie würden eingekreist. Bereits vor Wochen hatten die Ukrainer die Brücken über den Seim zerstört.
Für den ukrainischen Analysedienst Frontelligence Insight ist klar, dass die Kriegsparteien Kursk hohe Priorität beimessen. Für Putin seien die Kämpfe auf dem eigenen Staatsgebiet ein Symbol der Schwäche, während Kiew dafür erhebliche Reserven einsetze, die im Donbass dringend gebraucht würden. «Es ist immer wahrscheinlicher, dass beide Seiten überproportionale Ressourcen für die Schlacht einsetzen, sie politisieren und so die Risiken für Selenski und Putin erhöhen», schreiben die ukrainischen Experten.
Da sich der russische Präsident aber im Gegensatz zu seinem ukrainischen Amtskollegen nicht vor der Öffentlichkeit rechtfertigen muss, ist dieser Druck stärker in Kiew spürbar. Fast täglich treten Selenski und seine Militärberater mit der Behauptung auf, Russland habe bedeutende Reserven aus dem Donbass verlegt, obwohl es dafür kaum Anhaltspunkte gibt. Vor allem südlich von Pokrowsk rückt der Invasor weiter vor, jüngst wieder mit starken Panzerangriffen, die teilweise Erfolg hatten.
Die Armeeführung in Kiew beziffert die Zahl der in Kursk eingesetzten russischen Soldaten mit 30 000, der Präsident spricht sogar von 60 000 bis 70 000. Überprüfbar ist das nicht. Sollten die Angaben stimmen, wäre Russland bis jetzt entweder logistisch nicht in der Lage oder willens, die neuen Truppen gezielt einzusetzen: Militärexperten beschreiben die Qualität der Einheiten als sehr durchzogen, wobei neben zahlreichen relativ unerfahrenen Soldaten auch Formationen zum Einsatz kommen, die als gut ausgerüstet gelten.
Unterstützung bleibt prekär
Auch wenn die Kursk-Offensive den Ukrainern weiterhin Optionen für begrenzte Geländegewinne bietet, stellt sich die Frage nach ihrem längerfristigen Sinn. Neben der Hoffnung, Russland militärisch zu schwächen, lässt Kiew ein tieferes politisches Kalkül erahnen. Die Operation entstand wohl auch aus der akuten Angst, bei einem Sieg Trumps in den USA über Nacht den wichtigsten Waffenlieferanten zu verlieren und in Verhandlungen gezwungen zu werden.
Mit Kursk, so die Hoffnung, hätte man etwas in der Hand, was allenfalls gegen russisch besetztes ukrainisches Gebiet getauscht werden könnte. Mit Harris’ Eintritt ins Rennen hat das Risiko aus Washington etwas abgenommen. Dennoch weiss Selenski, dass die militärische Unterstützung prekär bleibt, gerade aus Deutschland. Sie kommt oft mit Verzögerungen und politischen Auflagen, etwa bei Langstreckenwaffen.
Der politische und militärische Druck, mit Russland zu verhandeln und Friedensgespräche zu führen, wird weiter wachsen, auch wenn die Positionen radikal auseinanderliegen. Die Entwicklung der Lage in Kursk und im Donbass wird darüber mitentscheiden, wer sich in eine bessere Ausgangslage manövrieren kann.
In den vergangenen zweieinhalb Jahren galt der russische Krieg gegen die Ukraine als Beleg für die These, dass Atommächte massiv im Vorteil seien, wenn sie imperial ausgriffen, also benachbarte oder nahe gelegene Staaten ihrer Herrschaft unterwerfen wollten. In der Tat gab es viel Anschauungsmaterial dafür, dass die Gegenwehr von Drittstaaten schwächer ausfällt, wenn ein Angreifer über Nuklearwaffen verfügt.
Schon im Vorfeld des Krieges hatte Washington im Herbst 2021 als Grundmaxime für die Unterstützung der Ukraine festgelegt: so viel Hilfe wie möglich zu leisten, ohne die Schwelle zu übertreten, bei der ein direkter Krieg mit Russland wahrscheinlicher wird. Diese Strategie war ein Echo des Kalten Krieges, den der amerikanische Präsident Joe Biden als Senator ab den 1970er Jahren noch mitgestaltend erlebt hat. Der gesamte Kalte Krieg bestand im Grunde darin, einerseits der Gegenseite keinen Landgewinn zu erlauben, andererseits aber eine direkte Auseinandersetzung zu verhindern, weil eine solche in eine Eskalationsspirale hätte führen können, in der eine der Kriegsparteien keine andere Möglichkeit mehr gesehen hätte, als Atomwaffen einzusetzen.
Die Sorge, dass Russland Nuklearwaffen einsetzen könnte, um den Willen der Ukraine zur Gegenwehr und die Bereitschaft des Westens zur Unterstützung der Ukraine zu brechen, war seit dem Grossangriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 gross – und wurde offen kommuniziert.
Westliche Atomängste
Bereits am 11. März 2022 sagte Biden auf einer Pressekonferenz, wenn Amerika «offensive Ausrüstung» in die Ukraine senden würde, wenn es Flugzeuge und Panzer mit amerikanischen Piloten und Crews schicken würde, dann wäre man im
Die Schwelle für Russland, nukleare Waffen einzusetzen, liegt erheblich höher, als das Weisse Haus in Washington und das Kanzleramt in Berlin angenommen hatten.
dritten Weltkrieg. Amerika werde aber «nicht den dritten Weltkrieg in der Ukraine» führen. Von da an gehörte die Warnung vor einem weiteren Weltkrieg zum offiziellen Sprachgebrauch des Weissen Hauses. Im April 2022 gab der deutsche Bundeskanzler dem Magazin «Spiegel» ein Interview, dessen Titel lautete: «Es darf keinen Atomkrieg geben». Man müsse «alles tun, um eine direkte militärische Konfrontation zwischen der Nato und einer hochgerüsteten Supermacht wie Russland, einer Nuklearmacht, zu vermeiden», sagte Scholz. Er tue «alles, um eine Eskalation zu verhindern, die zu einem dritten Weltkrieg führt. Es darf keinen Atomkrieg geben.»
Biden und Scholz warnten vor einem dritten Weltkrieg beziehungsweise einem Atomkrieg, um Forderungen abzuwehren, der Ukraine durch die Lieferung von weiterreichenden Waffen stärker in ihrer Verteidigung gegen Russland zu helfen. Doch zugleich kommunizierten sie damit gegenüber Moskau ihre Ängste offen. Im Gegenzug nutzen Putin und russische Propagandisten jede Gelegenheit, auf das nukleare Potenzial Russlands zu verweisen. Doch die roten Linien, die sich Washington und Berlin bei der militärischen Unterstützung der Ukraine setzten, lösten sich nach und nach auf. Je deutlicher die Ukraine Russland 2022 zurückdrängte, umso mehr wuchs die Bereitschaft im Westen, die Ukraine auch mit Panzern, schwerer Artillerie und Kampfflugzeugen auszurüsten.
Die zahlreichen Verweise auf russische Nuklearwaffen, die von Putin selbst, von Ministern und stellvertretenden Ministern kamen – vom amerikanischen Think-Tank CSIS in einer Datenbank gesammelt –, hielten den Westen zwar in steter Anspannung. Doch mit jeder Warnung, auf die nicht Taten folgten, gewann der Westen an Zuversicht, dass Putin nicht wirklich bereit sei, zum Äussersten zu gehen, dass Moskau also im Wesentlichen geblufft habe. Im September 2022 sah sich Putin sogar gezwungen, sein nukleares Säbelrasseln – die Erklärung, dass er «alle verfügbaren Mittel» zur Verteidigung Russlands benutzen werde – mit dem Zusatz zu versehen: «Dies ist kein Bluff.»
Die roten Linien entfallen
Nach und nach hat die Ukraine mithin alle imaginierten russischen roten Linien überschritten: von der Rückeroberung von ukrainischem Territorium, das Russland als annektiert deklariert hatte, bis hin zu Angriffen auf die Krim. Jetzt ist auch die roteste aller roten Linien überschritten: Die Ukraine hat sich auf russisches Territorium vorgewagt. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat daraufhin verkündet, das «naive, illusorische Konzept der sogenannten roten Linien in Bezug auf Russland» sei in sich zusammengebrochen.
Klar ist: Die Schwelle für Russland, nukleare Waffen einzusetzen, liegt erheblich höher, als das Weisse Haus in Washington und das Kanzleramt in Berlin angenommen oder befürchtet hatten. Trotz seinem Dementi hat Putin regelmässig geblufft. Anders gesagt: Russland bleibt davon überzeugt, dass die Kosten des Einsatzes von nuklearen Waffen höher wären als ihr Nutzen. Der Zweck der nuklearen Drohungen aus Moskau war, den Westen – insbesondere Washington und Berlin – davon abzubringen, die Ukraine militärisch stärker zu unterstützen.
Biden und Scholz hatten sich mehr als deutlich öffentlich zu ihren Ängsten bekannt, was der Kreml offenbar als Einladung verstanden hat, mit den Atomkriegsängsten des Westens zu spielen, sie einzusetzen, um die Überlegenheit auf dem Schlachtfeld zu erhalten. Damit war Russland nur begrenzt erfolgreich. Das hat im Wesentlichen drei Gründe: Die öffentliche Unterstützung für die Selbstverteidigung der Ukraine ist im Westen erheblich; die Ukraine hat es geschafft, die roten Linien zu überwinden; und die nukleare Drohung aus Moskau hat sich durch inflationären Gebrauch abgenutzt.
Es scheint sich das zu bewahrheiten, was kühle Köpfe in den letzten zweieinhalb Jahren immer wieder betont haben, dass nämlich die Wahrscheinlichkeit, dass Russland die nukleare Karte ziehe, äusserst gering sei. Russland würde kaum Vorteile vom Einsatz nuklearer Waffen haben, aber jede Menge Nachteile – Moskau ist sich dessen bewusst.
Begrenzter Nutzen
Auf dem Gefechtsfeld selbst nützen Nuklearwaffen kaum, weil es keine Zusammenballungen der feindlichen Truppen gibt – stattdessen nur eine enorm lange Frontlinie. Zudem ist es kaum möglich, gezielt nur den Feind zu treffen. Es würde auch zahlreiche russische Opfer geben.
Mit einem nuklearen Angriff auf zivile Ziele in der Ukraine würde Russland zum Paria werden – gerade im globalen Süden, den Moskau auf seine Seite zu bringen versucht. Ein atomarer Angriff würde es China erheblich erschweren, weiterhin an Russlands Seite zu stehen. Zudem hat Washington offenbar Moskau deutlich gemacht, dass es massiv konventionell auf einen russischen Nuklearangriff reagieren würde.
All dies verfolgen die anderen Nuklearmächte genau. Man kann davon ausgehen, dass China die Dynamiken auf dem Schlachtfeld in der Ukraine und Russland wie auch das Ringen zwischen dem Westen und Russland insgesamt genau beobachtet. China hat ähnlich wie Russland revisionistische territoriale Pläne, insbesondere in Bezug auf Taiwan und das Südchinesische Meer, das es schleichend zu annektieren versucht.
Auch Iran, das mit Russland und China enger zusammenrückt, wird Schlüsse daraus ziehen für seine hegemonialen Ambitionen und seine nuklearen Pläne: Lohnt es sich, die Schwelle zu überschreiten und Nuklearmacht zu werden, oder ist der Vorteil eines solchen riskanten Schrittes womöglich geringer als erhofft?
Bis vor nicht allzu langer Zeit konnten ambitionierte, revisionistisch gesinnte Mächte aus dem Kriegsgeschehen in der Ukraine den Schluss ziehen, dass der Besitz von Nuklearwaffen einen erheblichen Vorteil für einen Angreifer darstelle – weil insbesondere der Westen erfolgreich abgeschreckt werden könne, damit er sich nicht allzu sehr in einen regionalen Konflikt einmische.
Der Erfolg der Ukraine beim Überschreiten von vermeintlichen russischen roten Linien stellt solche Schlussfolgerungen infrage. All das spricht für die These, dass Nuklearwaffen vor allem ein starkes psychologisches Argument sind, ein Instrument der Abschreckung, dass sie aber im konkreten Konfliktfall womöglich weniger relevant sind als von vielen angenommen.