Stricken als Prävention
Auf eines freue ich mich zu Herbstbeginn immer besonders: neue Strickprojekte. Wenn es stürmischer und kälter wird, brauche ich Wolle zwischen den Fingern. Es locken Farben, neue Wollmischungen und neue Muster für Pullover, Schals, Decken. Und wenn ich dann nadele, tue ich meiner gegenwärtigen wie künftigen Gesundheit etwas richtig Gutes. Das ist weder Autosuggestion noch Entschuldigung, warum es noch ein neuer Pullover werden soll, wo ich doch schon einige habe. (Ich erhalte auch keine Provisionen von der Wollindustrie.)
Mehrere kleine Studien bestätigen mir, dass Stricken entspannt, Stresslevel und Blutdruck senkt. Es beugt Herzerkrankungen vor. Und das gilt nicht nur, wenn man zusammen mit Freundinnen bei Tee und Keksen mit den Nadeln klappert, sondern auch in einem weit weniger angenehmen Umfeld. Gefängnisinsassen, die im Rahmen eines speziellen Programms mit Handarbeiten beschäftigt waren, waren weniger aggressiv als ihre nadellosen Mitgefangenen.
Manche Forscher sind sogar überzeugt, dass die gleichmässigen, ruhigen Bewegungen beim Stricken eine Form der Meditation sein können. Bei kreativen Tätigkeiten seien dieselben Hirnregionen aktiv wie bei der Meditation oder auch beim Yoga. Zugegeben: Wenn ich zum zweiten Mal ein gestricktes Stück aufziehen muss, weil ich mich beim Muster verzählt habe, dann bin ich nicht ganz im Zen. Aber sogar solchen Situationen können Psychologen noch etwas Positives abgewinnen: Das steigere das Vermögen, auch im Alltag Stress zu kanalisieren. Na bitte.
Handarbeiten steigere zudem das Selbstwertgefühl, versichern Experten. Es könne Ängste lösen und dem ständigen Gedankenkreisen Einhalt gebieten. Ich bin sicher, allein schon das Gefühl wunderbar weicher Wolle in den Händen hilft. Und wenn ich mich beim Zählen von Maschen auf das Muster konzentriere, bleibt meinem Hirn weniger Kapazität, an nervige Ereignisse oder Personen zu denken.
Viele der positiven Auswirkungen des Strickens – zu anderen Handarbeiten gibt es kaum Studien – sind laut Experten darauf zurückzuführen, dass dabei die Konzentration des Hormons Serotonin steigt. Serotonin hat in unserem Körper zahlreiche Wirkungen. Unter anderem führt es zu einer Blutdrucksenkung. Im Gehirn ist es ein wahrer Tausendsassa: Es sorgt für bessere Stimmung, ein allgemeines Gefühl des Wohlbefindens und der inneren Ruhe.
Mein Kopf profitiert auch langfristig von meinen Strickübungen. Eine Untersuchung der Mayo Clinic in Rochester vor einigen Jahren hat ergeben, dass strickende Seniorinnen geistig fitter waren als Kontrollpersonen. Klar, das ist jetzt eine Korrelation und kein Beweis für Kausalität. Aber ich kann das aus persönlicher Sicht bestätigen: Ich gehöre der vierten Generation einer Reihe von Strickerinnen an. Alle meine Vorfahrinnen waren bis ins sehr hohe Alter geistig rege, und keine war dement.
Stricken ist zudem sozial. Wenn ich mit Nadelwerk im Zug sitze, komme ich fast immer mit einer anderen Lismetante oder Strickliesel ins Gespräch. Ich habe schon Freundschaften durchs Stricken geschlossen. Und am Puls der Zeit sind wir Strickerinnen ohnehin. Trendforscher sagen, Stricken sei nachhaltig. Und Entautomatisierung.
Handarbeiten steigern das Selbstwertgefühl und können Ängste lösen.