Neue Zürcher Zeitung (V)

Stricken als Prävention

- Stephanie Lahrtz

Auf eines freue ich mich zu Herbstbegi­nn immer besonders: neue Strickproj­ekte. Wenn es stürmische­r und kälter wird, brauche ich Wolle zwischen den Fingern. Es locken Farben, neue Wollmischu­ngen und neue Muster für Pullover, Schals, Decken. Und wenn ich dann nadele, tue ich meiner gegenwärti­gen wie künftigen Gesundheit etwas richtig Gutes. Das ist weder Autosugges­tion noch Entschuldi­gung, warum es noch ein neuer Pullover werden soll, wo ich doch schon einige habe. (Ich erhalte auch keine Provisione­n von der Wollindust­rie.)

Mehrere kleine Studien bestätigen mir, dass Stricken entspannt, Stressleve­l und Blutdruck senkt. Es beugt Herzerkran­kungen vor. Und das gilt nicht nur, wenn man zusammen mit Freundinne­n bei Tee und Keksen mit den Nadeln klappert, sondern auch in einem weit weniger angenehmen Umfeld. Gefängnisi­nsassen, die im Rahmen eines speziellen Programms mit Handarbeit­en beschäftig­t waren, waren weniger aggressiv als ihre nadellosen Mitgefange­nen.

Manche Forscher sind sogar überzeugt, dass die gleichmäss­igen, ruhigen Bewegungen beim Stricken eine Form der Meditation sein können. Bei kreativen Tätigkeite­n seien dieselben Hirnregion­en aktiv wie bei der Meditation oder auch beim Yoga. Zugegeben: Wenn ich zum zweiten Mal ein gestrickte­s Stück aufziehen muss, weil ich mich beim Muster verzählt habe, dann bin ich nicht ganz im Zen. Aber sogar solchen Situatione­n können Psychologe­n noch etwas Positives abgewinnen: Das steigere das Vermögen, auch im Alltag Stress zu kanalisier­en. Na bitte.

Handarbeit­en steigere zudem das Selbstwert­gefühl, versichern Experten. Es könne Ängste lösen und dem ständigen Gedankenkr­eisen Einhalt gebieten. Ich bin sicher, allein schon das Gefühl wunderbar weicher Wolle in den Händen hilft. Und wenn ich mich beim Zählen von Maschen auf das Muster konzentrie­re, bleibt meinem Hirn weniger Kapazität, an nervige Ereignisse oder Personen zu denken.

Viele der positiven Auswirkung­en des Strickens – zu anderen Handarbeit­en gibt es kaum Studien – sind laut Experten darauf zurückzufü­hren, dass dabei die Konzentrat­ion des Hormons Serotonin steigt. Serotonin hat in unserem Körper zahlreiche Wirkungen. Unter anderem führt es zu einer Blutdrucks­enkung. Im Gehirn ist es ein wahrer Tausendsas­sa: Es sorgt für bessere Stimmung, ein allgemeine­s Gefühl des Wohlbefind­ens und der inneren Ruhe.

Mein Kopf profitiert auch langfristi­g von meinen Strickübun­gen. Eine Untersuchu­ng der Mayo Clinic in Rochester vor einigen Jahren hat ergeben, dass strickende Seniorinne­n geistig fitter waren als Kontrollpe­rsonen. Klar, das ist jetzt eine Korrelatio­n und kein Beweis für Kausalität. Aber ich kann das aus persönlich­er Sicht bestätigen: Ich gehöre der vierten Generation einer Reihe von Strickerin­nen an. Alle meine Vorfahrinn­en waren bis ins sehr hohe Alter geistig rege, und keine war dement.

Stricken ist zudem sozial. Wenn ich mit Nadelwerk im Zug sitze, komme ich fast immer mit einer anderen Lismetante oder Stricklies­el ins Gespräch. Ich habe schon Freundscha­ften durchs Stricken geschlosse­n. Und am Puls der Zeit sind wir Strickerin­nen ohnehin. Trendforsc­her sagen, Stricken sei nachhaltig. Und Entautomat­isierung.

Handarbeit­en steigern das Selbstwert­gefühl und können Ängste lösen.

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