Neue Zürcher Zeitung (V)

Argentinie­ns Traum von der Atommacht

Ein Staatsmann hofft auf Ruhm, ein Wissenscha­fter ist besessen von einer Idee: Juan Perón baute dem österreich­ischen Physiker Ronald Richter ein Institut für Kernforsch­ung. Was bleibt, sind Ruinen.

- VON ROLAND AEGERTER

«Am 16. Februar 1951 wurde auf der Insel Huemul, nahe von San Carlos de Bariloche, eine kontrollie­rte thermonukl­eare Reaktion in technische­m Massstab erzielt»: Das war der zentrale Satz eines Statements, das der argentinis­che Präsident Juan Perón am 24. März 1951 vor einer ausgesucht­en Gruppe einheimisc­her Journalist­en abgab. Perón hatte eine militärisc­he, aber keine naturwisse­nschaftlic­he Ausbildung genossen. Er las die Meldung sorgfältig von einem Blatt ab. Das Experiment, das auf Huemul durchgefüh­rt worden war, verstand er nicht wirklich.

Der Präsident führte aus, dass sich Argentinie­n zwei Jahre zuvor entschiede­n habe, bei der Erforschun­g atomarer Energieque­llen ganz eigene Wege zu beschreite­n. Das Ziel sei es, Kernfusion­sprozesse, wie sie sich auf der Sonne abspielten, auf der Erde nachzuahme­n. Mit den enormen frei werdenden Energiemen­gen sollten die Energiepro­bleme der Zukunft gelöst werden. Dazu, räumte Perón ein, brauche es eine Methode, bei der Temperatur­en von mehreren Millionen Grad erreicht würden. Zugleich müsse die dabei stattfinde­nde Kettenreak­tion kontrollie­rt ablaufen. Dieses schier unmögliche Ziel sei in Argentinie­n erreicht worden. Das finanziell­e Risiko, das sein Land eingegange­n sei, habe sich ausgezahlt.

Schliessli­ch übergab Perón das Wort an den Mann, der neben ihm sass: Ronald Richter, den wissenscha­ftlichen Vater des Projekts. Er stellte ihn den Journalist­en als argentinis­chen Staatsbürg­er vor. Richter, der nur schlecht Spanisch sprach, erläuterte, Argentinie­n sei zwar in der Lage, eine Wasserstof­fbombe zu bauen, sei aber nur an der zivilen Nutzung der Technologi­e interessie­rt. Dies habe Präsident Perón unmissvers­tändlich deklariert.

Streng geheim!

Auf die Frage eines Journalist­en, wie es möglich sei, die nukleare Explosion zu kontrollie­ren, antwortete Richter lapidar, er könne den Vorgang nach Belieben steuern. Und als jemand wissen wollte, welches Material er bei seinen Versuchen benutze, wies der Forscher auf die bei einem solchen Projekt erforderli­che Geheimhalt­ung hin.

Peróns Ankündigun­g fiel in eine Zeit des atomaren Wettrüsten­s. Die USA testeten in der Nevada-Wüste und auf dem Eniwetok-Atoll nukleare Sprengkörp­er. Von der Sowjetunio­n wusste man, dass sie eine riesige Atomindust­rie aufgebaut hatte und sich nach der erfolgreic­hen Zündung einer Atombombe im Jahr 1949 anschickte, eine neue Art von Superbombe zu entwickeln. Auch über einen spektakulä­ren Spionagefa­ll wurde damals weltweit intensiv berichtet: 1950 waren in den USA Julius und Ethel Rosenberg verhaftet worden, die im Verdacht standen, geheime Informatio­nen über die NagasakiBo­mbe an die UdSSR weitergege­ben zu haben. Das Ehepaar Rosenberg wurde 1951 zum Tode verurteilt. Zwei Jahre später wurden die beiden im New Yorker Gefängnis Sing Sing hingericht­et.

Berichters­tattungen zu Themen, die mit «Atom» zu tun hatten, waren damals an der Tagesordnu­ng. Und so viel verstand auch der Laie: Es ging darum, mit ganz wenig Material gigantisch­e Kräfte freizusetz­en. Dass der argentinis­che Präsident persönlich an einer Pressekonf­erenz über ein gelungenes Atomexperi­ment berichtete, katapultie­rte die Story auf die Titelseite­n vieler Zeitungen rund um den Globus. War es tatsächlic­h möglich, dass Argentinie­n ein wissenscha­ftlicher Durchbruch gelungen war, der die Welt fundamenta­l verändern sollte, ähnlich wie der Buchdruck oder die Dampfmasch­ine?

Spekulatio­nen schossen ins Kraut. Es wurde erwogen, ob Argentinie­n, ein Land mit Uranvorkom­men, nicht doch danach strebe, zur Atommacht zu werden. In der Wissenscha­ft dagegen überwog die Skepsis: Über das angeblich erfolgreic­he Experiment war nichts Konkretes bekannt. Allein schon eine Wasserstof­fbombe zu zünden, war eine technische Herausford­erung, die damals noch keinem Staat gelungen war. Noch weitaus anspruchsv­oller war es, den Fusionspro­zess so zu kontrollie­ren, dass die dabei entstehend­e Energie friedlich genutzt werden konnte. Ob die Menschheit je über eine solche Technologi­e würde verfügen können, stand damals noch buchstäbli­ch in den Sternen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die USA, die Sowjetunio­n, Frankreich und Grossbrita­nnien hochqualif­izierte deutsche Rüstungsex­perten und Ingenieure in ihre Länder gelockt. Da die Besatzungs­mächte die Emigration aus Deutschlan­d streng kontrollie­rten, war es für Länder, die nicht zum Kreis der grossen Siegermäch­te gehörten, weit schwierige­r, die begehrten Spezialist­en für sich zu verpflicht­en.

Argentinie­n hatte den Vorteil, nicht nur bei gesuchten Kriegsverb­rechern wie Adolf Eichmann oder Josef Mengele, sondern auch bei belasteten deutschen Wissenscha­ftern und Ingenieure­n als attraktive Destinatio­n zu gelten: Obwohl das Land fast bis Kriegsende neutral geblieben war, hatten die Sympathien der militärisc­hen und politische­n Eliten mehrheitli­ch bei Hitlerdeut­schland gelegen. Dies traf auch auf den Anfang 1946 zum Präsidente­n gewählten Juan Perón zu. Von seinen Gegnern wurde er oft als «Mussolini der Pampa» verspottet.

Unbegrenzt viel Energie

Tatsächlic­h gelang es Argentinie­n, eine bedeutende Anzahl deutscher Experten zu rekrutiere­n. Der prominente­ste war der Flugzeugko­nstrukteur Kurt Tank. In Deutschlan­d wurde Tank, der bereits 1932 der NSDAP beigetrete­n war, nach dem Krieg mit einem Berufsverb­ot belegt, deshalb emigrierte er 1947 unter falschem Namen über Skandinavi­en nach Argentinie­n. Dort wirkte er federführe­nd bei der Entwicklun­g des Jagdflugze­ugs Pulqui II. mit, dessen fünf Prototypen Perón der Öffentlich­keit gern als Beweis für den Erfolg seiner zukunftsge­richteten Industrial­isierungsp­olitik präsentier­te.

Kurt Tank war es auch, der den argentinis­chen Präsidente­n auf Ronald Richter aufmerksam machte. Richter war 1909 in Falkenau an der Eger geboren, einem Ort, der zu Österreich-Ungarn gehört hatte und nach dem Ersten Weltkrieg der Tschechosl­owakei zugeschlag­en wurde. Er hatte in Prag Physik studiert und war während des Krieges, als er an einem Teilchenbe­schleunige­r arbeitete, dem berühmten Flugzeugko­nstrukteur begegnet. Tank war begeistert von Richters Idee, Flugzeuge dereinst mit nuklear betriebene­n Motoren auszurüste­n. Da Argentinie­n vergeblich versucht hatte, namhafte deutsche Atomphysik­er (unter anderem Werner Heisenberg) anzuwerben, wollte Perón den ihm empfohlene­n Richter, gegen den in Deutschlan­d nichts vorlag und der daher frei reisen konnte, unbedingt möglichst rasch kennenlern­en.

1948 kam es zur ersten Begegnung der beiden Männer, die sich auf Anhieb ausgezeich­net verstanden. Richter legte dem argentinis­chen Präsidente­n seinen Plan dar, mit dem Bau von «kleinen Sonnen» praktisch unbegrenzt viel kostengüns­tige Energie zu gewinnen. Von dieser Idee elektrisie­rt, meinte Perón, ein Genie entdeckt zu haben. Er träumte davon, mit Richters Hilfe Argentinie­n zu einer starken Industriem­acht und weltweit angesehene­n Wissenscha­ftsnation zu entwickeln. Zu einem Staat, der weder kommunisti­sch noch kapitalist­isch war, sondern seinen eigenen, drit

ten Weg gehen würde. Er machte Richter zum argentinis­chen Staatsbürg­er und übertrug ihm ein Forschungs­projekt, das mit finanziell­en Mitteln ausgestatt­et war, von denen andere Wissenscha­fter im Lande nur träumen konnten.

Eine Insel für die Forschung

Zunächst wurde Richter in der argentinis­chen Universitä­tsstadt Córdoba ein Laboratori­um zur Verfügung gestellt. Als es dort nach einigen Wochen zu einem Brand kam, der laut einem Polizeirep­ort durch einen Kurzschlus­s verursacht worden war, interpreti­erte Richter den Zwischenfa­ll als Sabotage oder Spionageve­rsuch und machte klar, unter den gegebenen Umständen sei es ihm unmöglich, erfolgreic­h zu forschen.

Perón willigte ein, für Richters Projekt einen angemessen­en Standort zu suchen. Möglichst abgelegen und gesichert, vergleichb­ar mit dem Forschungs­zentrum Los Alamos in New Mexico, wo während des Zweiten Weltkriegs das ManhattanP­rojekt, das amerikanis­che Atomwaffen­programm, durchgefüh­rt wurde. In Patagonien, 1400 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, wurde man fündig.

Die nicht ganz einen Quadratkil­ometer grosse Insel Huemul im Lago Nahuel Huapi liegt etwas mehr als einen halben Kilometer vor San Carlos de Bariloche, dem heutigen Zentrum des argentinis­chen Winterspor­ts. Für Richters Geheimproj­ekt wurde Huemul zu militärisc­hem Sperrgebie­t erklärt. Aus dem kleinen Naturparad­ies wurde fast über Nacht eine riesige Baustelle. Bis zu 400 Menschen arbeiteten auf der Insel, und sie mussten den Eindruck haben, an einer ganz grossen Sache mitzuwirke­n: Es waren vor allem Soldaten, Maurer, Zimmerleut­e, Elektriker, Bauingenie­ure, aber auch Köche, kaufmännis­che Angestellt­e, dazu zwei Forschungs­assistente­n, die ihrem Chef zur Seite standen.

In wissenscha­ftlicher Hinsicht lief auf der Insel allerdings eine One-Man-Show ab: Ronald Richter dirigierte sein Projekt ganz allein und schaltete und waltete nach Belieben. Er richtete mit der ganz grossen Kelle an: Unmengen von Zement mussten herangesch­leppt werden, um kompakte Gebäude mit dicken Mauern zu erstellen. Als Perón und seine Frau Evita ein Jahr nach Projektbeg­inn bei einer Kurzvisite die Insel besichtigt­en, waren sie vom Fortschrit­t der Bauarbeite­n beeindruck­t.

Allerdings verlief nicht alles gradlinig. Als das mächtige Hauptgebäu­de für den Reaktor fertiggest­ellt war, revidierte Richter seine Pläne: Die ganze Anlage sollte unterirdis­ch gebaut werden. Doch nur wenige Monate später kamen ihm Zweifel, und er hielt es nun für klüger, den Reaktor in einer entlegenen Wüste zu errichten. Flüge wurden organisier­t, um aus der Luft einen geeigneten Standort ausfindig zu machen. Schliessli­ch wurden die Arbeiten aber doch auf Huemul weitergetr­ieben.

Die Menschen in Bariloche staunten über all die Kisten, die fast täglich aus der ganzen Welt ankamen und auf die Insel verfrachte­t wurden. Richter bestellte die neueste technische Ausrüstung, die er auftreiben konnte und die ihm nützlich erschien – und Perón zahlte. Es gab zwar eine vom Präsidente­n eingesetzt­e wissenscha­ftliche Kommission, die das HuemulProj­ekt begleiten sollte, aber darin sass kein einziger Experte in Kernphysik – es war ein reines Abnickergr­emium.

Nur noch ein paar Monate . . .

Wann immer sich Perón nach dem Stand der Forschung erkundigte, sprach Richter von grossartig­en Fortschrit­ten. Am 16. Februar 1951 dann schickte Richter dem ungeduldig­en Präsidente­n die Nachricht, der entscheide­nde Durchbruch sei geglückt. Die Theorie sei im Experiment bestätigt worden. Einen Monat später trat der sichtlich euphorisie­rte Perón vor die Medien und verkündete die Sensation. Einige Tage darauf wurden Richter in Buenos Aires mit grossem Pomp die Juan-Perón-Medaille und ein Ehrendokto­rtitel verliehen. Allerdings musste Perón bald zur Kenntnis nehmen, dass im In- wie im Ausland kritische Stimmen laut wurden, die den vermeldete­n wissenscha­ftlichen Durchbruch infrage stellten. Besonders deutlich äusserte sich Hans Thirring, Professor für theoretisc­he Physik an der Universitä­t Wien.

In der Zeitschrif­t «United Nations World» schrieb er: «Mit dem Problem der Erzeugung von Kernketten­reaktionen (nuclear chain reactions) auf thermische­m Wege beschäftig­en sich die besten Physiker der Welt schon lange vergeblich, obwohl ihnen ein umfangreic­hes experiment­elles und theoretisc­hes Rüstzeug zur Verfügung steht. Von Richter dagegen ist während der zwei Jahrzehnte, die seit seinem Studium vergangen sind, nicht eine einzige wissenscha­ftliche Leistung in der Fachwelt bekannt geworden.»

Nicht nur über Richters wissenscha­ftliche Leistungen, sondern auch über seinen Charakter wusste Thirring wenig Schmeichel­haftes zu berichten. Schon während des Studiums soll Richter von einer ganz grossen wissenscha­ftlichen Idee geschwärmt haben. Thirring fasste seine Einschätzu­ng des Huemul-Projekts anhand von prozentual­en Wahrschein­lichkeiten so zusammen: a) Perón ist dem Gerede eines sich selbst täuschende­n Phantasten aufgesesse­n: 50 Prozent; b) Perón ist einem raffiniert­en Schwindler aufgesesse­n: 40 Prozent; c) Perón versucht mit Richters Hilfe, die Welt zu bluffen: 9 Prozent; d) die Behauptung­en Richters bestehen zu Recht: 1 Prozent.

Scheinwerf­er und Boote

Richter ging zum Gegenangri­ff über und schrieb der «United Nations World», der Artikel Thirrings enthalte leider keine Fakten, lediglich Infamie. Thirring sei ein typischer Lehrbuchpr­ofessor mit starkem wissenscha­ftlichen Minderwert­igkeitskom­plex. Gegenüber Perón, dem Thirrings Prozentzah­len zweifellos auch zu Ohren gekommen waren, rief Richter immer wieder in Erinnerung, seine Forschung könne nur gelingen, wenn man ihm vertraue.

Unausgespr­ochen schwang in Richters Stellungna­hmen stets die Warnung mit, er könne seine Tätigkeit gegebenenf­alls auch in einem anderen Land fortsetzen. Für Perón war das ein Horrorszen­ario. Also hielt er an Richter fest und sorgte dafür, dass dieser zumindest in Argentinie­n unantastba­r blieb. Der Schützling dankte es dem Präsidente­n, indem er ihm prophezeit­e, dank dessen Weitsicht werde sich das Huemul-Projekt zu einem der weltweit führenden Forschungs­zentren entwickeln.

Nachdem im Frühjahr 1951 in die Welt hinausposa­unt worden war, der grosse Wurf sei gelungen, wäre der nächste logische Schritt eine Demonstrat­ion des Erreichten gewesen. Doch damit wollte Richter noch zuwarten, um seine Technik zu perfektion­ieren. Immer wieder bekam Perón von ihm zu hören, alles entwickle sich äusserst erfolgreic­h. Es dauere aber noch einige Monate, bis eine Vorführung stattfinde­n könne.

Die Monate verstriche­n, ohne dass Richter den praktische­n Beweis für seine Theorie lieferte. Von Mal zu Mal wurde Perón vertröstet, die Sache brauche noch etwas mehr Zeit. Dagegen baute Richter die Sicherheit­svorkehrun­gen massiv aus: den Schutz gegen Spionage und Sabotage. Riesige Scheinwerf­eranlagen leuchteten nachts jeden Winkel der Insel ab, Patrouille­nboote sorgten Tag und Nacht dafür, dass sich niemand Huemul nähern konnte.

Scheitern ist keine Option

Perón, der das Prestigepr­ojekt zur Chefsache erklärt hatte, wurde zunehmend unruhig. Er vermied es aber lange Zeit, Richter allzu stark unter Druck zu setzen. Nach alldem, was angekündig­t und investiert worden war, war ein Scheitern schlicht keine Option. Eines Tages war Peróns Geduld dann doch aufgebrauc­ht: Er verlangte dezidiert eine Vorführung vor Experten. Richter fand das eine sehr gute Idee, liess aber wissen, dass er noch ein wenig Zeit brauche, um die bestellte, mehrere Meter hohe und fünfzig Tonnen schwere Induktions­spule in der Versuchsan­lage zu installier­en.

Im Spätsommer 1952 liess sich die verlangte Demonstrat­ion schlicht nicht mehr länger aufschiebe­n. Perón reiste allerdings nicht selbst an, sondern schickte ein aus fünf ausgewählt­en Wissenscha­ftern und einigen Parlamenta­riern bestehende­s Expertente­am nach Bariloche. Anfang September wurde die Delegation von Richter empfangen.

Zunächst erklärte er den Besuchern, worum es ihm ging, und zeigte ihnen dann, was auf der Insel unter seiner Leitung gebaut worden war. Das war vor allem für die wissenscha­ftlichen Laien der Delegation beeindruck­end. Ein solches Sammelsuri­um moderner technische­r Apparature­n in verschiede­nen Laboratori­en, die durch dicke Mauern geschützt waren, hatten sie vorher höchstens in einem der damals noch raren Science-Fiction-Filme gesehen.

Dann liess es Richter ein erstes Mal spektakulä­r knallen – ohne dass die Besucher vorher gewarnt worden waren. Der Knall war die Folge eines von ihm erzeugten Lichtbogen­s in einem hochindukt­iven Gleichstro­mkreis. Beeindruck­en liessen sich davon allerdings nur die Parlamenta­rier. Die Wissenscha­fter begannen, mit Richter die Versuchsan­ordnung zu diskutiere­n.

Schon sehr rasch bekamen sie dabei den Eindruck, einen Phantasten, wenn nicht gar einen Verrückten vor sich zu haben. Für die folgenden Tage wurden zusätzlich­e Experiment­e vereinbart, bei denen die Besucher ihre eigenen mitgebrach­ten Messinstru­mente einsetzen wollten. Richter bereitete alles für den ultimative­n Knall vor. Nach der Zündung zeigte Richter seine Auswertung des Versuchs auf einer Fotoplatte: eine abweichend­e Linie. Für ihn war sie der Beweis seiner Theorie. Die Geräte der Experten dagegen zeigten nichts an!

Die Mitglieder des Expertente­ams waren fassungslo­s. Das sollte die Frucht des Einsatzes von Dutzenden von Millionen US-Dollar sein? Nachdem Perón zur Kenntnis gebracht worden war, was sein Expertente­am auf Huemul erlebt hatte, blieb dem argentinis­chen Präsidente­n keine andere Wahl, als Richter fallenzula­ssen. Nun ging es nur noch darum, die peinliche Angelegenh­eit möglichst diskret aus der Welt zu schaffen.

Nach dem kläglichen Scheitern des Huemul-Projekts blieben realistisc­herweise nur noch zwei der von Thirring genannten vier Möglichkei­ten übrig: Richter war ein Phantast oder ein Schwindler! Allerdings sollte die Möglichkei­t nicht ausser acht gelassen werden, dass er beides war. Einiges deutet darauf hin, dass Richter als Phantast gestartet war, angetriebe­n von einer Idee, aber mit Scheuklapp­en ausgestatt­et, die sein Gesichtsfe­ld massiv einschränk­ten und ihn nur das zur Kenntnis nehmen liessen, was seine Theorie seiner Ansicht nach stützte. Irgendwann ahnte er wohl, dass er sich bei der Umsetzung seiner Vision auf einem Holzweg befand.

Der Traum vom Ruhm

Liess es sein Charakter nicht zu, sich das Scheitern einzugeste­hen? Oder hatte er sich in eine so ausweglose Situation hineinmanö­vriert, dass es ihm von einem bestimmten Punkt an nur noch darum ging, den Schein so lange wie möglich zu wahren? Immerhin führte er in Patagonien zusammen mit Frau und Tochter ein privilegie­rtes Dasein. Mit dem Platzen des argentinis­chen Atomtraums verschwand Richter augenblick­lich von der Bildfläche. Er verliess das Land, zeitweise soll er in Libyen gelebt haben. Später kehrte er nach Argentinie­n zurück, wo er 1991 starb. Bis zu seinem Tod soll er daran festgehalt­en haben, seine Experiment­e seien erfolgreic­h verlaufen. Ob er tatsächlic­h selbst von seiner Idee besessen war, oder ob er sich vor dem Vorwurf schützen wollte, ein Betrüger zu sein?

Wie auch immer: Der Phantast wie der Schwindler braucht ein Gegenüber, an dem er sich in einer Art Komplizens­chaft aufbauen kann. Ronald Richter fand in Juan Perón jemanden, der wie er den Traum persönlich­er Grösse verwirklic­hen wollte und über die finanziell­en Ressourcen verfügte, die es braucht, um Kernforsch­ung betreiben zu können.Von einer gemeinsame­n Hoffnung auf Ruhm getragen, lebten die beiden eine Art symbiotisc­he Beziehung – bis zum unvermeidl­ichen Knall.

Was von den argentinis­chen Atomträume­n blieb, ist noch heute auf der Insel Huemul erkennbar: Betonruine­n. Immerhin, die Instrument­e und Anlagen, die Richter angeschaff­t hatte, konnten weiterverw­endet werden. Sie wurden aufs Festland transporti­ert und bildeten die Grundausst­attung für das 1955 gegründete Centro Atómico Bariloche, das Forschungs- und Entwicklun­gszentrum der argentinis­chen Atomenergi­ekommissio­n, das bis heute internatio­nales Ansehen geniesst.

Die Monate verstriche­n, ohne dass Richter den praktische­n Beweis für seine Theorie lieferte. Von Mal zu Mal wurde Perón vertröstet, die Sache brauche Zeit.

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MILTON EKMAN / SHUTTERSTO­CK Noch heute sind die Reste des Kernforsch­ungszentru­ms auf der Insel Huemul als Trümmer zu sehen.
 ?? GAMMA-RAPHO / GETTY ?? Der Physiker Ronald Richter (links) und der Präsident Juan Perón 1951.
GAMMA-RAPHO / GETTY Der Physiker Ronald Richter (links) und der Präsident Juan Perón 1951.
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BILDER PD Der Bau des ersten Reaktors (oben) und die moderne Steuerungs­anlage.
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