Neue Zürcher Zeitung (V)

Die Biodiversi­tät ist wertvoll

Die kommende Volksabsti­mmung wirft ein Schlaglich­t auf den ökonomisch­en Nutzen der biologisch­en Vielfalt

- HANSUELI SCHÖCHLI

Biodiversi­tät? Der Begriff hat in der Schweiz politische Prominenz erhalten. Gemeint ist die Vielfalt von Arten und von Lebensräum­en (Ökosysteme­n) sowie die genetische Vielfalt innerhalb der Arten. Prominenz erhielt die Biodiversi­tät vor allem durch die Volksiniti­ative, über welche die Urnengänge­r in acht Tagen befinden.

Der Vorstoss heisst in der abgekürzte­n Fassung «Biodiversi­tätsinitia­tive». Die Initiative geht weit über das

Biodiversi­tätsinitia­tive

Eidgenössi­sche Abstimmung vom 22. September

Thema Biodiversi­tät hinaus und fordert zum Beispiel auch verstärkte­n Schutz für Ortsbilder und das «baukulture­lle Erbe». Das liefert viel Angriffsfl­äche für Kritiker.

Doch unabhängig von der Initiative: Die Bedeutung der Biodiversi­tät auch als Wirtschaft­sfaktor ist heute weit über Umweltorga­nisationen hinaus anerkannt. Viele Fachleute betonen zudem, dass die biologisch­e Vielfalt auf globaler Ebene wie auch in der Schweiz abgenommen habe – und dass dies für den Menschen keine gute Sache sei.

Die Botschaft des Bundesrats von 2022 zur Volksiniti­ative und ein Bericht des Bundesamts für Umwelt von 2023 nannten einige Zahlen zur Schweiz. So sind zum Beispiel gut ein Drittel aller bekannten Tier-, Pflanzen- und Pilzarten vom Aussterben bedroht («mehr Arten als je zuvor»). Zudem ist die Artenvielf­alt in rund 30 Prozent der Schweizer Fliessgewä­sser mangelhaft. Und fast die Hälfte der bewerteten Lebensräum­e, wie etwa Flüsse und Bäche, Seen, Ufer, Grünland und Wälder, gelten als gefährdet.

Als wesentlich­e Ursachen nennt der Bund etwa die intensive Landwirtsc­haft mit dem Einsatz von Düngemitte­ln und Pflanzensc­hutzmittel­n, die Ausdehnung der Siedlungsf­lächen, die Verkehrsin­frastruktu­r, die Trockenleg­ung von Gewässern und Mooren sowie die Verbauung von Flüssen und Bächen.

«Unsere Existenzgr­undlage»

Der Bundesrat nennt die Entwicklun­g «besorgnise­rregend». Die Biodiversi­tät ist aus Sicht des Menschen kein Selbstzwec­k, sondern eine Basis für Wirtschaft und Gesellscha­ft. «Biodiversi­tät bedeutet Naturkapit­al und damit Chancen und Risiken für die längerfris­tige wirtschaft­liche Entwicklun­g», betonte der Wirtschaft­sdachverba­nd Economiesu­isse schon 2020 in einer Analyse. Laut dem Bundesrat ist die Biodiversi­tät die «Existenzgr­undlage für den Menschen und die Wirtschaft».

Ökonomisch­er Nutzen entsteht unter anderem durch: fruchtbare­n Boden für die Land- und Forstwirts­chaft; sauberes Wasser; die Reinhaltun­g der Luft; die Bestäubung nützlicher Pflanzen; Schutz vor Naturkatas­trophen wie Lawinen; natürliche Schädlings­bekämpfung; die Natur als Erholungsg­ebiet und Tourismusa­ttraktion. Die Vielfalt macht die Natur zudem robuster gegenüber Änderungen des Umfelds.

Zahlen schinden Eindruck

Es geht nicht um Kleinkram. Auf globaler Ebene hängen auch wirtschaft­lich orientiert­e Organisati­on das Thema ziemlich hoch. Gemäss dem jüngsten Bericht des Weltwirtsc­haftsforum­s von 2024 zu den globalen Risiken haben fünf der zehn meistgenan­nten Risiken mit der Natur zu tun, und der Verlust der Biodiversi­tät steht auf Platz 3.

Die Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (OECD) erklärte 2019 in einem Bericht, dass der geschätzte Wert der Biodiversi­täts-Dienste global etwa 125 000 bis 140 000 Milliarden US-Dollar pro Jahr entspreche – bei einer offizielle­n jährlichen Wirtschaft­sleistung der Welt von zuletzt etwa 100 000 Milliarden Dollar. Laut Schätzunge­n der Weltbank könnten die Wohlfahrts­einbussen durch Biodiversi­tätsverlus­te schon 2030 global über 2 Prozent der jährlichen Wirtschaft­sleistung ausmachen.

Viel zitiert ist die von der EU-Kommission bestellte Studie einer internatio­nalen Forschergr­uppe von 2008. Die Forscher gingen von den damaligen Projektion­en für das längerfris­tige Wirtschaft­s- und Bevölkerun­gswachstum aus und leiteten daraus Annahmen über den Einfluss auf die Biodiversi­tät ab. Aufgrund von Literatura­nalysen und eigenen Schätzunge­n rechneten sie die erwarteten Biodiversi­täts-Effekte in Geldwerte um. Die Kernbotsch­aft: Ohne Kurswechse­l der Politik würden die Wohlfahrts­einbussen als Folge des Biodiversi­tätsverlus­ts jährlich steigen und 2050 rund 14 000 Milliarden Euro ausmachen – etwa 7 Prozent der globalen Wirtschaft­sleistung in jenem Jahr.

Auf Basis jener Studie hat das Büro Ecoplan 2010 im Auftrag des Bundes versucht, die Kosten des künftigen Biodiversi­tätsverlus­ts auf die Schweizer Verhältnis­se herunterzu­brechen. 2050 wäre für die Schweiz laut der Ecoplan-Studie mit Wohlfahrts­einbussen von 2 bis 2,5 Prozent der Wirtschaft­sleistung zu rechnen – in absoluten Zahlen etwa 14 bis 16 Milliarden Franken. Diese Zahlen werden seither auch vom Bund zitiert. Das Ecoplan-Papier macht aber deutlich, dass der geschätzte Verlust angesichts enormer methodisch­er Unsicherhe­iten nur als «illustrati­ver» Eindruck einer groben Grössenord­nung zu verstehen ist.

Wacklige Grundlagen

Globale Schätzunge­n hätten einen «Aufmerksam­keitswert», sagt Bernd Hansjürgen­s, Professor für Umweltökon­omie an der Universitä­t Leipzig. Aber die Schätzunsi­cherheiten seien so gross, dass man den Fokus wohl besser auf Studien zu den einzelnen Diensten des Ökosystems wie zum Beispiel den Lawinensch­utz richte. Auch zwei andere befragte Fachleute betonen, dass zuverlässi­ge Schätzunge­n zum gesamten ökonomisch­en Wert der Biodiversi­tät zurzeit kaum zu machen seien.

Auch Finanzaufs­ichtsbehör­den werden zunehmend auf die Risiken des Biodiversi­tätsverlus­ts aufmerksam. 75 Prozent aller Firmenkred­ite im Euro-Raum gingen an Unternehme­n, die von mindestens einer Ökosysteml­eistung der Natur abhängig seien, betonte 2023 eine Forschergr­uppe der Europäisch­en Zentralban­k.

Allmählich scheint auch die Sensibilis­ierung der Investoren zu wachsen. Eine Studie von 2024, an der auch Forscher der Universitä­t Zürich beteiligt waren, analysiert­e die Aktienkurs­entwicklun­g von über 2000 Firmen. Laut der Analyse haben internatio­nale Ankündigun­gen zur Regulierun­g der Biodiversi­tät von 2021 und 2022 in den Tagen danach die Aktienkurs­e von Firmen mit hohen Biodiversi­tätsrisike­n gedrückt.

Bei diesen Ankündigun­gen ging es um künftige Berichters­tattungspf­lichten der Firmen sowie um eine Zielverein­barung von fast 200 Ländern. Eines der vereinbart­en Ziele: Bis 2030 sollen total 30 Prozent der Land- und Binnenwass­erfläche geschützt sein. Auch die Schweiz hat diese Vereinbaru­ng unterzeich­net. Die Schutzgebi­ete in der Schweiz umfassen zurzeit knapp 14 Prozent der Landfläche.

75 Prozent aller Firmenkred­ite im Euro-Raum gehen an Unternehme­n, die von mindestens einer Ökosysteml­eistung der Natur abhängig sind.

Auch wichtig für die Medizin

In der Klimapolit­ik haben die Ökonomen im Prinzip ein zielgerich­tetes Mittel: Einbezug der gesellscha­ftlichen Kosten des Ausstosses von Treibhausg­asen in die Preise via Lenkungsab­gabe. Bei der Biodiversi­tät gibt es dagegen keine einheitlic­he «Währung» à la CO2-Abgabe, wie der Umweltökon­om Bernd Hansjürgen­s betont.

Trotzdem spricht er sich auch bei diesem Thema für Lenkungsab­gaben aus, wo dies möglich ist – beim Fleisch zum Beispiel könnten die externen Kosten ein Mehrfaches der derzeitige­n Marktpreis­e betragen. Senkt die Schweiz ihren CO2Ausstos­s, merkt das Land vom Klimanutze­n direkt praktisch nichts: Der Nutzen verteilt sich global und ist entspreche­nd klein. Bei der Biodiversi­tät fällt der Nutzen von Schutzmass­nahmen dagegen in vielen Fällen im eigenen Land an.

Die Biodiversi­tät kann aber auch globale Wirkung haben. So können Ökosysteme via CO2-Bindung das Klima beeinfluss­en. Die Natur ist auch bedeutend als Grundlage für global einsetzbar­e Medikament­e. «Etwa 70 Prozent aller Krebsmedik­amente haben einen natürliche­n Ursprung», betont ein Bericht der Beratungsf­irma PwC und des WWF. Laut Bernd Hansjürgen­s kaufen westliche Pharma- und Agrochemie­konzerne Land in den Tropen zwecks Erhaltung eines genetische­n Pools.

 ?? ARNULF HETTRICH / IMAGO ?? Die Bienen tragen einiges zur Vielfalt unserer Natur bei.
ARNULF HETTRICH / IMAGO Die Bienen tragen einiges zur Vielfalt unserer Natur bei.

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