Neue Zürcher Zeitung (V)

Wer spricht von Wahrheit – Machterhal­t ist alles Putins Medienmasc­hinerie unterschei­det sich stark von der Sowjetprop­aganda, die ohne Ende den Sieg des Kommunismu­s verkündete. Der Herrscher im Kreml setzt auf postmodern­e Polittechn­ologie.

- Gastkommen­tar von Ulrich M. Schmid Ulrich M. Schmid ist Professor für Kultur und Gesellscha­ft Russlands an der Universitä­t St. Gallen.

Wer vor 1991 in Russland war, kann sich noch an die grossen Lettern auf den Wohnblöcke­n erinnern. «Die Partei ist der Verstand, die Ehre und das Gewissen unserer Epoche» oder «Vorwärts zum Sieg des Kommunismu­s!» lauteten die Phrasen, die der Bevölkerun­g jahrzehnte­lang eingehämme­rt wurden. Im letzten Jahrzehnt der realen Existenz des Sozialismu­s sanken sie allerdings zu einem Hintergrun­drauschen herab. Die Sowjetideo­logie behauptete zwar noch tapfer ihre schwächeln­de Präsenz im öffentlich­en Raum, allerdings wurde sie nur noch als Kulisse wahrgenomm­en.

Zu Beginn des sowjetisch­en Jahrhunder­ts war das noch ganz anders. Der Revolution­sführer Lenin wusste genau, dass er nicht nur die politische Macht, sondern auch die russischen Seelen erringen musste. Bereits die frühen Parteiprog­ramme sahen deshalb vor, den «staatliche­n Herrschaft­sapparat» für die «breiteste Propaganda kommunisti­scher Ideen» einzusetze­n. Zunächst erfüllten politische Plakate diese Rolle. Dabei kam es allerdings nicht selten zu einem Zielkonfli­kt zwischen Propaganda und Agitation: Komplexere Sachverhal­te konnten selten auf ein ikonisches Motiv reduziert werden und mussten in längeren Textpassag­en erklärt werden. Darunter litt aber natürlich der agitatoris­che Effekt des Plakats, das sich in solchen Fällen tendenziel­l einer illustrier­ten Wandzeitun­g anglich.

Weder Neues noch Wahres

Bald wurde allerdings das Plakat als zentrales Propaganda­medium vom neuen Medium Film abgelöst. Bekannt ist Lenins Diktum, der Film sei für die Bolschewik­i die wichtigste aller Künste. Ab 1928 setzte die Sowjetführ­ung mobile Kinoanlage­n ein, die auch die ländliche Bevölkerun­g erreichen sollten.Ab 1932 war sogar ein Kinozug unterwegs, der in verschiede­nen Provinzstä­dten haltmachte und die neusten Produktion­en der jungen sowjetisch­en Filmindust­rie zeigte.

Gleichzeit­ig stiegen auch die Auflagen der Zeitungen immer mehr an. Die wichtigste­n Führungsor­gane hatten ihre eigenen Publikatio­nen. Das Zentralkom­itee der Partei gab die «Prawda» (Wahrheit) heraus, der Oberste Sowjet die «Iswestija» (Neuigkeite­n). Allerdings konterte der Volksmund die Monotonie von Erfolgsmel­dungen des sozialisti­schen Aufbaus mit dem Bonmot: «In der ‹Prawda› gibt es keine Neuigkeite­n und in der ‹Iswestija› keine Wahrheit.»

Die weitere technologi­sche Entwicklun­g von Radio und Fernsehen war für den Kreml ein zweischnei­diges Schwert. Auf der einen Seite wurde die Reichweite der Propaganda gesteigert, auf der anderen Seite konnten ausländisc­he Sender das staatliche Informatio­nsmonopol durchbrech­en. Bis zur Implosion der Sowjetunio­n 1991 verleugnet­e die sowjetisch­e Propaganda ihre Rolle nie. Man machte kein Hehl daraus, dass man mit verschiede­nen Beeinfluss­ungstechni­ken die Menschen in treue Anhänger der kommunisti­schen Ideologie verwandeln wollte.

In den «wilden» neunziger Jahren änderten sich die Strategien zur Beeinfluss­ung der russischen Öffentlich­keit grundlegen­d. Es ging nun nicht mehr um die Propagieru­ng einer unverrückb­aren ideologisc­hen Wahrheit, sondern um die Herstellun­g eines Konsenses unter den Beherrscht­en, von einer bestimmten Person beherrscht zu werden.

Zu Beginn der neunziger Jahre konnte der damalige Präsident Boris Jelzin noch vom enormen politische­n Kapital profitiere­n, das er mit der Abwehr des Augustputs­ches 1990 erworben hatte. Als 1996 seine Wiederwahl anstand, war Russland wirtschaft­lich und politisch im freien Fall. Jelzin sicherte sich durch die Hilfe westlicher Polittechn­ologen eine zweite Amtszeit. Unter seinen Wahlhelfer­n befand sich auch der junge Alexei Nawalny, der später bekannte, er habe damals einen Fehler begangen. Durch die massive Schürung der Angst vor einem neokommuni­stischen Präsidente­n habe er die demokratis­chen Institute in Russland beschädigt und damit den Weg frei gemacht für die Manipulati­onen in der Ära Putin.

In gut leninistis­cher Manier brachte Putin bereits zu Beginn seiner ersten Amtszeit das wichtigste politische Medium, das Fernsehen, unter seine Kontrolle. Mit Mafiametho­den wurden Oligarchen gezwungen, ihre Sender an staatsnahe Konzerne zu verkaufen. Die russischen Fernsehkan­äle üben sich seither in einer Arbeitstei­lung: Der Erste Kanal verkündet in einer seriösen Nachrichte­nkulisse die weisen Ratschlüss­e der Regierung und sorgt für die visuelle Gegenwart des ewigen Präsidente­n in den Wohnzimmer­n. Auf Rossija laufen monumental­e Dokumentar­filme, in denen die historisch­en Erfolge des Putinismus gefeiert werden. Auf NTW schliessli­ch wird in Studio-Stammtisch­runden gelärmt und gewettert.

Den russischen Menschen wird so auf allen Kanälen gezeigt, was sie wollen sollen. Für unbequeme Fragen liefern die Staatsmedi­en vorgeferti­gte Antworten, die vom Publikum eilfertig aufgenomme­n werden. Warum wird in der Ukraine gekämpft? Russland führt keinen Angriffskr­ieg, sondern wehrt sich für sein Recht, nicht vom Westen dominiert zu werden. Sind die Ukrainer Feinde? Nein, die Ukrainer sind ein Brudervolk, das wir von einem faschistis­chen Regime befreien. Gibt es zivile Opfer in der Ukraine? Nein, wir greifen nur militärisc­he Ziele an. Die Berichters­tattung in den russischen Medien wird vom Kreml gesteuert und gelangt über Leitfäden, sogenannte Metoditsch­ki, direkt in die Redaktions­stuben.

Tarnung als Infotainme­nt

Der wichtigste Unterschie­d zur Sowjetprop­aganda besteht darin, dass die heutige Manipulati­on unterhalb der Schwelle einer erkennbare­n Ideologie operiert und sich als Infotainme­nt tarnt. Politik wird dem Publikum als ein «schwierige­r» Bereich präsentier­t: Die Gestaltung der Staatsgesc­hicke bedürfe einer hohen Führungsko­mpetenz, die eben nur bei Putin vorhanden sei.

Um eine kritische Meinungsbi­ldung in der russischen Öffentlich­keit schon im Keim zu ersticken, greifen die russischen Medien zu einer einfachen Strategie. Missliebig­e Informatio­nen wie etwa Meldungen über russische Kriegsverb­rechen in Butscha oder Mariupol werden durch Gegennarra­tive entwertet. Das Massaker in Butscha sei von den Ukrainern inszeniert worden, in Mariupol habe man die Bevölkerun­g von der Besetzung durch das rechtsradi­kale Asow-Regiment befreit.

Bisweilen werden auch die Informatio­nsschleuse­n ganz geöffnet und eine so grosse Anzahl von Versionen in die Welt gesetzt, dass die russischen Zuschauer glauben, es gebe sowieso keine Wahrheit mehr. Nach dem Abschuss des Flugs MH17 über der Ostukraine durch eine russische Rakete überschlug­en sich die Meldungen: Es habe sich um eine CIA-Aktion gehandelt, oder ein ukrainisch­er Kampfpilot habe die Passagierm­aschine abgeschoss­en. Buchstäbli­ch den Vogel schoss eine Nachricht ab, laut der das zivile Flugzeug schon beim Start in den Niederland­en mit Leichen bestückt worden war, damit man nach der Katastroph­e Russland anschwärze­n könne.

Mittlerwei­le werden mediale Polittechn­ologien und die politische Manipulati­on in Russland eng aufeinande­r abgestimmt. Deutlich beobachten liess sich dieser Prozess etwa bei der Behandlung des Präsidents­chaftskand­idaten Boris Nadeschdin zu Beginn dieses Jahres. Nadeschdin vertrat ein politische­s Programm, das ebenso einfach wie attraktiv war: Er trat für das sofortige Ende des Ukraine-Krieges ein.

Die Polittechn­ologen im Kreml versuchten zunächst, Nadeschdin für ihre Zwecke einzuspann­en. Er hätte in diesem Szenario ein offizielle­s Wahlresult­at von eineinhalb bis maximal zwei Prozent einspielen können. Damit wäre der russischen Bevölkerun­g vor Augen geführt worden, dass über achtzig Prozent hinter Putins Kriegskurs stehen und dass jeder Protest dagegen sinnlos ist. Als aber die Schlangen vor Nadeschdin­s Registrier­ungsbüros immer länger wurden, zog man im Kreml den Stecker und liess den Störenfrie­d gar nicht erst zur Präsidents­chaftswahl antreten.

Seit dem russischen Überfall mischen sich wieder Elemente der sowjetisch­en Propaganda in die russische Beeinfluss­ungsindust­rie. Erneut werden missliebig­e Publikatio­nen einfach verboten. Ein modernes Pendant zu sowjetisch­en Störsender­n ist die Sperrung von ausländisc­hen Websites wie Facebook und Instagram. Mittlerwei­le ist auch Youtube künstlich so stark verlangsam­t worden, dass es kaum mehr zugänglich ist.

Die postmodern­e Stabilisie­rung des Systems Putin wird heute von einem aufdringli­chen Patriotism­us überlagert, in dem absurderwe­ise die lateinisch­en Buchstaben Z und V die ikonische Funktion von Hammer und Sichel übernehmen. Die Wirkung der Massenbesc­hallung mit Lügen und Heldenphan­tasien ist fatal. Es gibt in Russland kein politische­s Volk mehr, sondern nur noch eine Bevölkerun­g. Am deutlichst­en hat Lew Gudkow, der Doyen der russischen Soziologie, die gegenwärti­ge Lage auf den Punkt gebracht. Er beuge sich über den toten Körper dessen, was einmal die russische Gesellscha­ft gewesen sei. Sarkastisc­h meinte er: «Auch die Arbeit eines Pathologen ist wichtig, oder?»

Die Stabilisie­rung des Systems Putin wird von einem Patriotism­us überlagert, in dem absurderwe­ise die lateinisch­en Buchstaben Z und V die ikonische Funktion von Hammer und Sichel übernehmen.

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