Wer spricht von Wahrheit – Machterhalt ist alles Putins Medienmaschinerie unterscheidet sich stark von der Sowjetpropaganda, die ohne Ende den Sieg des Kommunismus verkündete. Der Herrscher im Kreml setzt auf postmoderne Polittechnologie.
Wer vor 1991 in Russland war, kann sich noch an die grossen Lettern auf den Wohnblöcken erinnern. «Die Partei ist der Verstand, die Ehre und das Gewissen unserer Epoche» oder «Vorwärts zum Sieg des Kommunismus!» lauteten die Phrasen, die der Bevölkerung jahrzehntelang eingehämmert wurden. Im letzten Jahrzehnt der realen Existenz des Sozialismus sanken sie allerdings zu einem Hintergrundrauschen herab. Die Sowjetideologie behauptete zwar noch tapfer ihre schwächelnde Präsenz im öffentlichen Raum, allerdings wurde sie nur noch als Kulisse wahrgenommen.
Zu Beginn des sowjetischen Jahrhunderts war das noch ganz anders. Der Revolutionsführer Lenin wusste genau, dass er nicht nur die politische Macht, sondern auch die russischen Seelen erringen musste. Bereits die frühen Parteiprogramme sahen deshalb vor, den «staatlichen Herrschaftsapparat» für die «breiteste Propaganda kommunistischer Ideen» einzusetzen. Zunächst erfüllten politische Plakate diese Rolle. Dabei kam es allerdings nicht selten zu einem Zielkonflikt zwischen Propaganda und Agitation: Komplexere Sachverhalte konnten selten auf ein ikonisches Motiv reduziert werden und mussten in längeren Textpassagen erklärt werden. Darunter litt aber natürlich der agitatorische Effekt des Plakats, das sich in solchen Fällen tendenziell einer illustrierten Wandzeitung anglich.
Weder Neues noch Wahres
Bald wurde allerdings das Plakat als zentrales Propagandamedium vom neuen Medium Film abgelöst. Bekannt ist Lenins Diktum, der Film sei für die Bolschewiki die wichtigste aller Künste. Ab 1928 setzte die Sowjetführung mobile Kinoanlagen ein, die auch die ländliche Bevölkerung erreichen sollten.Ab 1932 war sogar ein Kinozug unterwegs, der in verschiedenen Provinzstädten haltmachte und die neusten Produktionen der jungen sowjetischen Filmindustrie zeigte.
Gleichzeitig stiegen auch die Auflagen der Zeitungen immer mehr an. Die wichtigsten Führungsorgane hatten ihre eigenen Publikationen. Das Zentralkomitee der Partei gab die «Prawda» (Wahrheit) heraus, der Oberste Sowjet die «Iswestija» (Neuigkeiten). Allerdings konterte der Volksmund die Monotonie von Erfolgsmeldungen des sozialistischen Aufbaus mit dem Bonmot: «In der ‹Prawda› gibt es keine Neuigkeiten und in der ‹Iswestija› keine Wahrheit.»
Die weitere technologische Entwicklung von Radio und Fernsehen war für den Kreml ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite wurde die Reichweite der Propaganda gesteigert, auf der anderen Seite konnten ausländische Sender das staatliche Informationsmonopol durchbrechen. Bis zur Implosion der Sowjetunion 1991 verleugnete die sowjetische Propaganda ihre Rolle nie. Man machte kein Hehl daraus, dass man mit verschiedenen Beeinflussungstechniken die Menschen in treue Anhänger der kommunistischen Ideologie verwandeln wollte.
In den «wilden» neunziger Jahren änderten sich die Strategien zur Beeinflussung der russischen Öffentlichkeit grundlegend. Es ging nun nicht mehr um die Propagierung einer unverrückbaren ideologischen Wahrheit, sondern um die Herstellung eines Konsenses unter den Beherrschten, von einer bestimmten Person beherrscht zu werden.
Zu Beginn der neunziger Jahre konnte der damalige Präsident Boris Jelzin noch vom enormen politischen Kapital profitieren, das er mit der Abwehr des Augustputsches 1990 erworben hatte. Als 1996 seine Wiederwahl anstand, war Russland wirtschaftlich und politisch im freien Fall. Jelzin sicherte sich durch die Hilfe westlicher Polittechnologen eine zweite Amtszeit. Unter seinen Wahlhelfern befand sich auch der junge Alexei Nawalny, der später bekannte, er habe damals einen Fehler begangen. Durch die massive Schürung der Angst vor einem neokommunistischen Präsidenten habe er die demokratischen Institute in Russland beschädigt und damit den Weg frei gemacht für die Manipulationen in der Ära Putin.
In gut leninistischer Manier brachte Putin bereits zu Beginn seiner ersten Amtszeit das wichtigste politische Medium, das Fernsehen, unter seine Kontrolle. Mit Mafiamethoden wurden Oligarchen gezwungen, ihre Sender an staatsnahe Konzerne zu verkaufen. Die russischen Fernsehkanäle üben sich seither in einer Arbeitsteilung: Der Erste Kanal verkündet in einer seriösen Nachrichtenkulisse die weisen Ratschlüsse der Regierung und sorgt für die visuelle Gegenwart des ewigen Präsidenten in den Wohnzimmern. Auf Rossija laufen monumentale Dokumentarfilme, in denen die historischen Erfolge des Putinismus gefeiert werden. Auf NTW schliesslich wird in Studio-Stammtischrunden gelärmt und gewettert.
Den russischen Menschen wird so auf allen Kanälen gezeigt, was sie wollen sollen. Für unbequeme Fragen liefern die Staatsmedien vorgefertigte Antworten, die vom Publikum eilfertig aufgenommen werden. Warum wird in der Ukraine gekämpft? Russland führt keinen Angriffskrieg, sondern wehrt sich für sein Recht, nicht vom Westen dominiert zu werden. Sind die Ukrainer Feinde? Nein, die Ukrainer sind ein Brudervolk, das wir von einem faschistischen Regime befreien. Gibt es zivile Opfer in der Ukraine? Nein, wir greifen nur militärische Ziele an. Die Berichterstattung in den russischen Medien wird vom Kreml gesteuert und gelangt über Leitfäden, sogenannte Metoditschki, direkt in die Redaktionsstuben.
Tarnung als Infotainment
Der wichtigste Unterschied zur Sowjetpropaganda besteht darin, dass die heutige Manipulation unterhalb der Schwelle einer erkennbaren Ideologie operiert und sich als Infotainment tarnt. Politik wird dem Publikum als ein «schwieriger» Bereich präsentiert: Die Gestaltung der Staatsgeschicke bedürfe einer hohen Führungskompetenz, die eben nur bei Putin vorhanden sei.
Um eine kritische Meinungsbildung in der russischen Öffentlichkeit schon im Keim zu ersticken, greifen die russischen Medien zu einer einfachen Strategie. Missliebige Informationen wie etwa Meldungen über russische Kriegsverbrechen in Butscha oder Mariupol werden durch Gegennarrative entwertet. Das Massaker in Butscha sei von den Ukrainern inszeniert worden, in Mariupol habe man die Bevölkerung von der Besetzung durch das rechtsradikale Asow-Regiment befreit.
Bisweilen werden auch die Informationsschleusen ganz geöffnet und eine so grosse Anzahl von Versionen in die Welt gesetzt, dass die russischen Zuschauer glauben, es gebe sowieso keine Wahrheit mehr. Nach dem Abschuss des Flugs MH17 über der Ostukraine durch eine russische Rakete überschlugen sich die Meldungen: Es habe sich um eine CIA-Aktion gehandelt, oder ein ukrainischer Kampfpilot habe die Passagiermaschine abgeschossen. Buchstäblich den Vogel schoss eine Nachricht ab, laut der das zivile Flugzeug schon beim Start in den Niederlanden mit Leichen bestückt worden war, damit man nach der Katastrophe Russland anschwärzen könne.
Mittlerweile werden mediale Polittechnologien und die politische Manipulation in Russland eng aufeinander abgestimmt. Deutlich beobachten liess sich dieser Prozess etwa bei der Behandlung des Präsidentschaftskandidaten Boris Nadeschdin zu Beginn dieses Jahres. Nadeschdin vertrat ein politisches Programm, das ebenso einfach wie attraktiv war: Er trat für das sofortige Ende des Ukraine-Krieges ein.
Die Polittechnologen im Kreml versuchten zunächst, Nadeschdin für ihre Zwecke einzuspannen. Er hätte in diesem Szenario ein offizielles Wahlresultat von eineinhalb bis maximal zwei Prozent einspielen können. Damit wäre der russischen Bevölkerung vor Augen geführt worden, dass über achtzig Prozent hinter Putins Kriegskurs stehen und dass jeder Protest dagegen sinnlos ist. Als aber die Schlangen vor Nadeschdins Registrierungsbüros immer länger wurden, zog man im Kreml den Stecker und liess den Störenfried gar nicht erst zur Präsidentschaftswahl antreten.
Seit dem russischen Überfall mischen sich wieder Elemente der sowjetischen Propaganda in die russische Beeinflussungsindustrie. Erneut werden missliebige Publikationen einfach verboten. Ein modernes Pendant zu sowjetischen Störsendern ist die Sperrung von ausländischen Websites wie Facebook und Instagram. Mittlerweile ist auch Youtube künstlich so stark verlangsamt worden, dass es kaum mehr zugänglich ist.
Die postmoderne Stabilisierung des Systems Putin wird heute von einem aufdringlichen Patriotismus überlagert, in dem absurderweise die lateinischen Buchstaben Z und V die ikonische Funktion von Hammer und Sichel übernehmen. Die Wirkung der Massenbeschallung mit Lügen und Heldenphantasien ist fatal. Es gibt in Russland kein politisches Volk mehr, sondern nur noch eine Bevölkerung. Am deutlichsten hat Lew Gudkow, der Doyen der russischen Soziologie, die gegenwärtige Lage auf den Punkt gebracht. Er beuge sich über den toten Körper dessen, was einmal die russische Gesellschaft gewesen sei. Sarkastisch meinte er: «Auch die Arbeit eines Pathologen ist wichtig, oder?»
Die Stabilisierung des Systems Putin wird von einem Patriotismus überlagert, in dem absurderweise die lateinischen Buchstaben Z und V die ikonische Funktion von Hammer und Sichel übernehmen.