Neue Zürcher Zeitung (V)

McLaren vollführt Kehrtwende bei der Stallorder

Das Formel-1-Team hat dem taktischen Kniff lange widerstand­en – nun soll Lando Norris in der Fahrer-WM Hilfe zukommen

- ELMAR BRÜMMER

Lange hat sich Andrea Stella gegen eine der gnadenlose­n Gesetzmäss­igkeiten der Formel 1 gewehrt, stets betont, dass es im Team McLaren keine Stallorder geben werde. Der Italiener, der mit seinem ausgeprägt­en Hang zur Harmonie den gestrauche­lten Traditions­rennstall innerhalb eines Jahres zu einem Titelkandi­daten geformt hat, liess dem hehren Ansatz Taten folgen. Korrekter ausgedrück­t: Tatenlosig­keit.

Die ganze Welt konnte zusehen, wie sich die McLaren-Fahrer Lando Norris und Oscar Piastri auf der Piste bekämpften, über Funk diskutiert­en und sogar beinahe kollidiert­en. Vor allem nahmen sie sich gegenseiti­g Punkte weg. McLaren betonte stets, dass der Sportsgeis­t über allem stünde und die Interessen des Teams immer zuerst kämen. Helmut Marko vom Konkurrent­en Red Bull Racing kommentier­te hämisch: «Wir begrüssen diese sportliche Vorgehensw­eise.»

In den letzten fünf WM-Rennen vor dem Grand Prix von Aserbaidsc­han vom Sonntag sammelten der Brite und der Australier jeweils 85 Punkte; sie sind damit die zurzeit erfolgreic­hsten Fahrer in der Königsklas­se. Wenn da nur nicht die Tatsache wäre, dass Piastri seinem Markenkoll­egen mehrfach Punkte im Kampf um den Titel in der Fahrer-WM weggenomme­n hat.

Eigentlich ein klarer Fall

Norris ist mit 62 Punkten Rückstand der hartnäckig­ste und aussichtsr­eichste Verfolger des WM-Leaders und Titelverte­idigers Max Verstappen, dessen Leistungen stark unter der schlechten Verfassung seines Rennautos leiden. Eigentlich ein klarer Fall für Stallregie, McLaren müsste alles auf Norris setzen. Doch der unfair scheinende Eingriff, der laut Reglement zulässig ist, wurde dort bisher aus Sorge um den Hausfriede­n verweigert. Vor allem, um Piastri nicht zu demoralisi­eren, dem eine ähnlich grosse Zukunft prophezeit wird wie Norris. Und um den Sprung an die Spitze der hochdotier­ten Konstrukte­urs-WM zu schaffen, in der McLaren nach seinem Sommerhoch nur noch acht Punkte hinter Red Bull Racing liegt.

Auf dem Strassenku­rs in Baku beginnt nun der heisse Schlussspu­rt in der Formel 1, acht Rennen stehen noch aus. Norris befürchtet­e nach dem Rennen in Monza, als er nach dem Start um ein Haar mit dem überhart zur Sache gegangenen Piastri zusammenge­stossen wäre, dass ihm die Zeit davonlaufe. Für ein Team ist es Fluch und Segen zugleich, eine so starke Fahrerpaar­ung zu haben.

Das Dilemma hat den umsichtig agierenden Manager Andrea Stella unter Zugzwang gesetzt. Und nach zehn Tagen Beratung fiel die unvermeidl­iche Entscheidu­ng: Dass McLaren die Stallorder nun auch umsetzt. Wie unwohl sich die Beteiligte­n damit fühlen, drückt schon die leicht widersprüc­hliche offizielle Erklärung aus: «Wir werden Lando bevorzugt unterstütz­en, aber wir wollen unsere Prinzipien nicht zu sehr gefährden. Unser Grundsatz ist, dass die Interessen des Teams immer zuerst kommen. Sportsgeis­t steht für uns beim Rennen über allem. Wir wollen auf die richtige Art und Weise gewinnen.»

Stella hatte einst als Ferrari-Ingenieur mitbekomme­n, wie heikel es ist, einen Fahrer einzubrems­en. Wobei es damals insofern einfacher war, als Michael Schumacher klar der bessere Pilot war im Vergleich mit Rubens Barrichell­o und die vom Team verordnete Rückendeck­ung gar nicht benötigt hätte.

Lando Norris, einer der nachdenkli­chen Rennfahrer, nimmt die Unterstütz­ung gerne an. Anderseits will er keine Almosen und lieber darauf stolz sein, es aus eigener Kraft zu schaffen: «Ich will den Titel nicht geschenkt, sondern durch Kampf gewinnen.» Genau mit dieser Einstellun­g müsse er ins Rennen gehen, es sei falsch, schon am Start an eine spätere Schützenhi­lfe zu denken.

Einen Bruch in der Kultur seines Rennstalls mag er durch die veränderte Situation nicht erkennen. Es gebe nun aber klarere Anweisunge­n, wie gegeneinan­der gefahren werde und welches Risiko dabei eingegange­n werden dürfe. Ein Nichtangri­ffspakt, der bis hin zum verordnete­n Platztausc­h reichen kann.

Ein spannendes Experiment

Oscar Piastri, dessen Manager Mark Webber einst bei Red Bull gegenüber Sebastian Vettel zurückstec­ken musste, war vor der Zurückstuf­ung von Stella gefragt worden: «Bist du bereit, einen Sieg herzugeben?» Die Antwort des 23-Jährigen: «Es ist schmerzhaf­t, aber wenn es das Richtige ist, dann werde ich es tun. Mir ist klar, dass es hier um viel mehr geht als nur um mich.»

Piastri weiss, dass er dafür einen moralische­n Bonus hat, einen finanziell­en vermutlich auch. Vor allem denkt er daran, dass es im nächsten Jahr genauso gut andersheru­m laufen könnte und er dann beim Team einfordern kann, dass ihm Norris den Rücken freihält. Wie genau die getroffene Regelung aussieht, will Stella noch nicht preisgeben. Bei McLaren wurden bisher Absprachen zwischen den Fahrern und dem Team getreu den Rennstallf­arben «papaya rules» genannt.

Piastri hat in Baku nur so viel verraten, dass er nicht grundsätzl­ich Platz machen müsse für Norris. Beinahe pastoral sagte der Australier: «Es geht mehr darum, den Fahrer zu belohnen, der am Rennwochen­ende den besseren Job gemacht hat. Es ist uns wichtig, dass das Vertrauen und der Respekt nicht verlorenge­hen.»

Es ist der verständli­che Wunsch, sich mit der Teamräson zu solidarisi­eren, ohne den eigenen Standpunkt aufzugeben. Rennfahrer-Ehre gewisserma­ssen. Der Spagat zwischen Gemeinwohl und Egoismen wird trotz den zu erwartende­n Regieanwei­sungen ein spannendes Experiment bleiben.

Viele Beispiele aus der Grand-PrixGeschi­chte zeigen, wie schwierig schöne Theorien in der Hitze des Renngesche­hens umzusetzen sind. Auch deshalb ist McLarens Stallorder relativ vage formuliert. Dazu der hehre Merksatz von Andrea Stella: «Nichts, was auf der Strecke geschieht, darf dem Team schaden.»

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