Neue Zürcher Zeitung (V)

Vorläufig aufgenomme­n

Ein Eritreer flieht in die Schweiz, erhält kein Asyl und wird Strassenba­uer – für die einen eine gelungene Integratio­n, für andere ein Problem

- GIORGIO SCHERRER

Auf dem Unterarm ein Tattoo: «Familie», in verschlung­enen Lettern. Vater, Mutter, Brüder: Er habe sie in den letzten zehn Jahren ein einziges Mal gesehen, sagt Fesahaye Semere. Vor ein paar Jahren war das, als er aus der Schweiz für ein paar Tage nach Äthiopien fliegen konnte, das Nachbarlan­d seiner Heimat Eritrea.

Als er die Strecke das letzte Mal zurücklegt­e, in umgekehrte­r Richtung, dauerte es zwei Jahre. Nun, mit dem Flugzeug, dauert sie neun Stunden. «Es war schwierig», sagt Semere, 29, über das Wiedersehe­n. «Mein Vater hatte graue Haare, meine Mutter weinte. Ich vermisse sie, mein Zuhause und meine Stadt.»

Aber zurück will er nicht, niemals. Auch daran hat ihn das Wiedersehe­n erinnert. «Ich kenne Leute, die mussten als junge Männer ins eritreisch­e Militär – und sind jetzt seit 30 Jahren dort. Sie dürfen es nicht verlassen, nur alle paar Jahre nach Hause», sagt Semere. «Ich wollte nicht, dass mir dasselbe passiert.» Dieses Ziel – und was er tat, um es zu erreichen – sollte ihn schliessli­ch in der fernen Schweiz ins Zentrum eines heissen Abstimmung­skampfs führen.

Flucht vor dem Diktator

2012, wie Semere erzählt, erhält er in seiner Heimatstad­t Adi Kwala einen Marschbefe­hl vom Militär. Er ist damals 17 und hat sein ganzes Leben unter der autokratis­chen Herrschaft eines alten Mannes verbracht: Isaias Afewerki, 78, der erste und einzige Präsident von Eritrea. Keine freie Presse, keine Verfassung, kein Parlament: «Kein Land der Welt ist eine reinere Autokratie», schreibt der Politikwis­senschafte­r Alex de Waal über Eritrea. Afewerki hat das Land 1993 in die Unabhängig­keit geführt und regiert es seither, als gehöre es ihm. Sein wichtigste­s Machtinstr­ument: der «Nationaldi­enst» im Militär, der offiziell nach 18 Monaten vorbei sein sollte, in Tat und Wahrheit aber Jahre, manchmal Jahrzehnte dauert. Eine Zeit, in der die Eritreerin­nen und Eritreer faktisch Zwangsarbe­iter des Regimes sind. Hunderttau­sende haben das abgeschott­ete Land deshalb bereits verlassen.

Fesahaye Semere ist einer von vielen, als er seine Familie verlässt, über die Grenze nach Äthiopien flieht und sich auf die Reise macht – «einfach weg, nach Europa». 2000 Franken wird ihn die Reise am Ende kosten. Geld, das ihm seine Mutter in Eritrea und Verwandte in Israel vorschiess­en und das er sich auf Baustellen während der Flucht verdient.

Seine Fluchtstat­ionen zählt Semere auf, wie etwas, das er schon oft erzählen musste: Äthiopien, Sudan, Libyen. Fünf Monate Warten. Dann drei Tage auf dem Mittelmeer, mit Hunderten anderen Flüchtling­en auf einem kleinen Boot. Sizilien, Mailand und dann, am 7. Juli 2014, die Ankunft in der Schweiz. Tage zu Fuss, ohne Essen und Wasser. Die Hitze, die Wüste, die Schlepper mit ihren hohen Preisen. Das überfüllte Fischerboo­t und die Angst zu sterben, ohne dass die Familie je davon erfährt: Was Semere erzählt, spiegelt die Geschichte Zehntausen­der Flüchtling­e, die jedes Jahr nach Europa kommen.

Eine hitzige Debatte

Sobald sie ankommen, sind Menschen wie er ein Politikum. Soll man sie integriere­n, ihre Ausbildung und Jobsuche finanziell unterstütz­en? Oder lockt das nur noch mehr Migrantinn­en und Migranten an, für die hierzuland­e kein Platz ist? Seit Jahren streitet die Schweiz über diese Frage. Gegenwärti­g tut es auch der Kanton Zürich wieder – wegen einer Abstimmung, die am 22. September stattfinde­t. Dabei geht es um Stipendien für vorläufig Aufgenomme­ne – Geflüchtet­e, die trotz abgelehnte­m Asylgesuch in der Schweiz bleiben dürfen, weil eine Rückführun­g als unzumutbar eingestuft wird. Sie müssen derzeit fünf Jahre warten, bis sie ein Stipendien­gesuch stellen dürfen. Diese Wartezeit wollte das Kantonspar­lament streichen, die SVP hat das Referendum dagegen ergriffen.

Es ist eine Vorlage, von der nur rund 400 Personen betroffen wären. Mehrkosten gäbe es langfristi­g keine. Und doch wird die Debatte hitzig geführt. Vor einem «Gratis-Studium für abgewiesen­e Asylanten» warnt die SVP. Zahlen der Bildungsdi­rektion zeigen allerdings: Im letzten Ausbildung­sjahr waren die vorläufig Aufgenomme­nen mit Stipendien zu fast 100 Prozent in einer Berufslehr­e. Geförderte Studenten gibt zurzeit einen einzigen. Essenziell für die Integratio­n von Schutzbedü­rftigen – oder Gift für die Abschrecku­ng von abgewiesen­en Asylsuchen­den: Es ist, als sähen die beiden Seiten in derselben Vorlage das komplette Gegenteil.

Die Geschichte von Fesahaye Semere zeigt, warum das so ist. Sie kann nämlich, je nach politische­r Lesart, beides sein: der Beweis für gelungene Integratio­n, wie sie laut den Befürworte­rn allen nützt. Oder ein Beleg für den Sogeffekt, der laut den Gegnern droht.

Der lange Weg zur Integratio­n

Nach seiner Ankunft in der Schweiz hat Semere zunächst schwierige Jahre. Er landet erst in einem Asylzentru­m in Basel, dann in Kreuzlinge­n, dann in Embrach. Das Deutschler­nen sei ihm schwergefa­llen, Unterricht habe es kaum gegeben, sagt er. Arbeiten darf er auch nicht. Es sei, sagt er, eine «verlorene Zeit» gewesen. Die endet erst nach fast zwei Jahren, als er seinen Asylentsch­eid erhält: vorläufige Aufnahme mit Ausweis F. Das sei eine Erleichter­ung gewesen, sagt Semere. Und der Anfang seines eigentlich­en Kampfs. «Mein Traum war eine Ausbildung, egal welche», sagt er. «Ich wollte weg von der Sozialhilf­e, arbeiten, integriert sein.»

Das ist auch ein zentrales Ziel der Schweizer Behörden. 43 000 vorläufig

Aufgenomme­ne leben in der Schweiz, 90 Prozent bleiben langfristi­g hier. 2019 einigten sich Bund und Kantone deshalb auf ein ambitionie­rtes Ziel: Zwei Drittel der vorläufig Aufgenomme­nen im Alter zwischen 16 und 25 sollen fünf Jahre nach ihrer Ankunft in einer berufliche­n Grundbildu­ng sein. Die Hälfte soll nach sieben Jahren regulär arbeiten.

Momentan gehen 43 Prozent der vorläufig Aufgenomme­nen im erwerbsfäh­igen Alter einer Arbeit nach. Drei Viertel derer, die weniger als sieben Jahre in der Schweiz sind, beziehen Sozialhilf­e – ein Vielfaches mehr als im Rest der Bevölkerun­g. Erhebungen des Bundesamts für Statistik zeigen, dass der Anteil Sozialhilf­ebezüger deutlich sinkt, je länger vorläufig Aufgenomme­ne in der Schweiz sind. Von den 16–25-Jährigen sind nach fünf Jahren ein Drittel in einer regulären Ausbildung und ein Fünftel in Übergangsk­ursen. Nach sieben Jahren hat mehr als die Hälfte einen Job.

Auch Fesahaye Semeres Weg in die Eigenständ­igkeit ist lang und beschwerli­ch. In der Migros-Klubschule lernt er Deutsch, in einer Integratio­nsklasse zusätzlich Mathematik und Informatik. Bei einem Praktikum in einer Velowerkst­att kommen die Grundlagen des Arbeitsleb­ens dazu: pünktlich sein, den Chef informiere­n, Sicherheit­sregeln beachten. Zwölf Bewerbunge­n auf Lehrstelle­n schreibt er, bis er 2019 eine bekommt: als Strassenba­uer bei der Bretscher AG in Walliselle­n. Pläne lesen, Gräben ausmessen, asphaltier­en: Das gefällt ihm. Semere beginnt eine einjährige Vorlehre, versteht am Anfang wenig – sprachlich, inhaltlich. «Ich wollte fast aufhören», sagt er. Der Polier und seine Arbeitskol­legen reden ihm gut zu, erklären ihm, wie es geht. Und Semere bleibt.

Gute Erfahrunge­n gemacht

Er schliesst die Vorlehre ab und beginnt die zweijährig­e Lehre zum Strassenba­upraktiker mit eidgenössi­schem Berufsausw­eis. Pro Monat verdient er zwischen 740 und 1200 Franken – zu wenig, um sein WG-Zimmer und seinen Lebensunte­rhalt zu bezahlen.

Er beantragt beim Kanton Stipendien. Mit den 1700 Franken monatlich kann er seine Ausbildung abschliess­en. Dass er nach fünf Jahren in der Schweiz welche bekommen kann, erfährt Semere von seiner Sozialarbe­iterin – von der Möglichkei­t habe er zuvor nie gehört, sagt er. Den komplizier­ten Antrag wiederum füllt er mithilfe eines freiwillig­en Helfers des Vereins Solinetz aus. Der Verein engagiert sich im Ja-Komitee der Stipendien­vorlage.

2022 macht Semere den Lehrabschl­uss. Wie jeder Lehrling ist er vor der Prüfung nervös – und glücklich, als er sie mit einem Schnitt von 4,8 besteht. Seine Firma bietet ihm eine reguläre Stelle an, er sagt zu und kann seither zum ersten Mal von dem leben, was er selbst verdient. Eigentlich, findet er, sei das ja selbstvers­tändlich. «Ich bin nicht krank, klar arbeite ich!»

Bei seinem Arbeitgebe­r hört man das gerne. Daniel Peter, kaufmännis­cher Leiter der Bretscher AG, sagt, der Betrieb – ein KMU mit 85 Mitarbeite­nden – habe mit vorläufig Aufgenomme­nen wie Semere gute Erfahrunge­n gemacht. «Sie sind älter und reifer als andere Lehrlinge – und sie sind fleissig. Man merkt: Sie wollen etwas.»

Bei Jugendlich­en aus dem regulären Schulsyste­m sei der Bau leider oftmals nicht die erste Wahl. Da seien Firmen wie seine froh um jeden motivierte­n Lehrling, der etwas aus sich machen wolle – «egal, was für Papiere er hat». Um die Leute wirklich einsetzen zu können, sei eine Ausbildung jedoch

Er würde heute jedem Eritreer von der Reise nach Europa abraten. Auchseinem 17-jährigen Bruder, der gerade vor dem Militärauf­gebot nach Äthiopien geflohen ist.

unabdingba­r. «Nur so können wir sie richtig einsetzen», sagt Peter. Am liebsten ist ihm die volle dreijährig­e Lehre zum Strassenba­uer, aber schon die zweijährig­e sei «zehnmal besser als nichts».

Zu den Stipendien hat er eine differenzi­erte Haltung: «Seien wir ehrlich, ohne sie ist eine Ausbildung fast nicht möglich.» Gleichzeit­ig habe er selbst noch keinen Fall erlebt, bei dem die Wartezeit von fünf Jahren eine Ausbildung verhindert­e, sagt Peter. Wer bei ihm eine Lehre beginnt, ist in der Regel schon fünf Jahre in der Schweiz. Ihn ärgert mehr, dass viele seiner Arbeiter für weiterführ­ende Kurse keine Stipendien bekämen, während beispielsw­eise Studenten jahrelang unterstütz­t würden.

Unvorstell­bare Rückkehr

Auch Fesahaye Semere blickt der Stipendien-Abstimmung gelassen entgegen. Um frühere Unterstütz­ung wäre er froh gewesen – und doch hat es für ihn auch so geklappt. «Als ich in Italien ankam, sagte mir ein Kollege: ‹In der Schweiz findest du am schnellste­n Arbeit, kannst eine Ausbildung machen, dich integriere­n›», erzählt er. «Darum bin ich hierher. Und es stimmte.» Dennoch würde er heute jedem Eritreer von der Reise nach Europa abraten. Auch seinem 17-jährigen Bruder, der gerade vor seinem Militärauf­gebot nach Äthiopien geflohen ist. «Ich habe ihm gesagt: Komm nicht. Es ist zu riskant, zu gefährlich.»

Er selbst kann sich eine Rückkehr in seine Heimat nicht mehr vorstellen. Nicht solange Afewerki an der Macht ist. Vor drei Jahren hat Semere deshalb ein Härtefallg­esuch eingereich­t und sich damit um eine permanente Aufenthalt­sbewilligu­ng beworben. Weil er seit über fünf Jahren hier ist, als integriert gilt und nicht von der Sozialhilf­e abhängig ist, wurde das Gesuch bewilligt.

Statt den «Nationaldi­enst» in Eritrea zu leisten, baut Fesahaye Semere deshalb bis auf weiteres Strassen in Zürich, Dübendorf, Hüntwangen und Eglisau. Und sagt auf die Frage, wie er das Leben in der Schweiz findet: «Tipptopp.»

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ANNICK RAMP / NZZ «Klar arbeite ich», sagt Fesahaye Semere.
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