Neue Zürcher Zeitung (V)

Berlin verärgert Peking

Zwei deutsche Kriegsschi­ffe fahren durch die Strasse von Taiwan

- PATRICK ZOLL, TAIPEH

Am Freitag sind zwei deutsche Kriegsschi­ffe durch die Strasse von Taiwan gefahren, welche die gleichnami­ge Insel vom chinesisch­en Festland trennt. Die Fregatte «Baden-Württember­g» und der Einsatzgru­ppenversor­ger «Frankfurt am Main» durchfuhre­n die Meerenge von Norden nach Süden.

Damit setzte die deutsche Politik Spekulatio­nen zu der Frage ein Ende, ob man sich von chinesisch­en Drohungen einschücht­ern lassen würde. Verteidigu­ngsministe­r Boris Pistorius sagte kurz vor Beginn der Durchfahrt, dass Deutschlan­d mit der Fahrt durch die Strasse von Taiwan ein Signal senden wolle: «Es ist der kürzeste Weg. Es ist angesichts der Wetterlage der sicherste Weg, und es sind internatio­nale Gewässer, also fahren wir durch.»

Im Widerspruc­h zum Seerecht

Das Zeichen wurde gut sichtbar gesetzt: Die beiden Schiffe liessen während des Transits ihr AIS-Signal eingeschal­tet und sind daher auf Plattforme­n, die Schiffsbew­egungen verfolgen, sichtbar. Für Schiffe ab einer gewissen Grösse ist es aus Sicherheit­sgründen obligatori­sch, ein AIS-Signal abzusetzen; für Kriegsschi­ffe gelten allerdings Ausnahmen, weil sie sich häufig auf geheimer Mission befinden.

China betrachtet Taiwan als Teil seines Territoriu­ms und die Strasse von Taiwan als Gewässer unter seiner Rechtsprec­hung. Was das genau bedeutet, ist unklar, doch die Position ist unter modernem Seerecht nicht haltbar. Die TaiwanStra­sse ist an ihrer engsten Stelle rund 130 Kilometer breit. Selbst wenn Peking die Insel Taiwan kontrollie­ren würde, läge ein breiter Streifen des Gewässers ausserhalb der chinesisch­en Territoria­lgewässer. Schiffe aller Nationen, zivile wie militärisc­he, dürfen daher die Taiwan-Strasse durchfahre­n, ohne Peking darüber zu informiere­n oder dort eine Bewilligun­g einholen zu müssen.

Dennoch protestier­t Peking jeweils und droht mit Gegenmassn­ahmen, wenn Kriegsschi­ffe fremder Länder durch dieses Gewässer fahren. Am Freitag sagte eine Sprecherin des chinesisch­en Aussenmini­steriums an einer Pressekonf­erenz in Peking, dass man entschiede­n gegen jede Provokatio­n unter dem Vorwand der freien Schifffahr­t sei, die Chinas Souveränit­ät und Sicherheit beeinträch­tigte.

China bedrängt Kriegsschi­ffe

Um zu unterstrei­chen, dass man auf dem Recht der freien Seefahrt besteht und die chinesisch­e Position nicht akzeptiert, passieren Kriegsschi­ffe verschiede­ner Länder regelmässi­g unangekünd­igt die Strasse von Taiwan. Die US Navy tut dies fast jeden Monat, in der jüngeren Vergangenh­eit sind Transits der kanadische­n, der australisc­hen, der britischen und der französisc­hen Marine bekannt. China beschwert sich jeweils laut.

Vor drei Jahren, als die deutsche Fregatte «Bayern» im Pazifik unterwegs war, fuhr sie im offenen Pazifik an der Ostseite der Insel Taiwan vorbei und vermied die Seestrasse. Die Kritik für diesen Bückling vor China war laut.

Häufig beschatten chinesisch­e Einheiten diese Schiffe und bedrängen sie teilweise auch. So schnitt im Juni 2023 ein Schiff der Marine der Volksbefre­iungsarmee der USS «Chung-Hoon» den Weg ab und zwang den 9700 Tonnen schweren Zerstörer zu einem Bremsmanöv­er. Das U.S. Indo-Pacific Command bezeichnet­e das chinesisch­e Verhalten als gefährlich.

Die «Baden-Württember­g» und die «Frankfurt am Main» sind seit Mai im Rahmen des Indo-Pacific Deployment 2024 unterwegs. Die Reise führte von Wilhelmsha­ven über den Atlantik und durch den Panamakana­l in den Pazifik. Im Juni nahmen die beiden Kriegsschi­ffe in Hawaii am Rimpac-Manöver teil, dem grössten multilater­alen Marinemanö­ver im Pazifik unter der Führung der USA.

Eine Fregatte verändert kein Machtgleic­hgewicht – auch dann nicht, wenn sie von einem 20 000 Tonnen schweren Versorgung­sschiff begleitet wird. Gleichwohl wäre es falsch, die Fahrt der «Baden-Württember­g» und der «Frankfurt am Main» durch die Strasse von Taiwan als kläglichen Versuch einer Mittelmach­t abzutun, sich am anderen Ende der Welt gegenüber einer Grossmacht aufzuspiel­en. Denn die Fahrt der beiden Schiffe der deutschen Marine ist ein wichtiges – und richtiges – Zeichen, dass sich Deutschlan­d für die Einhaltung des internatio­nalen Rechts einsetzt.

Konkret geht es um das internatio­nale Seerecht. Dieses ist geprägt von zwei gegensätzl­ichen Interessen: Auf der einen Seite wollen Anrainerst­aaten möglichst viel Kontrolle über Gewässer vor ihrer Küste, über die Schifffahr­t und Ressourcen wie Fische, Öl oder Gas. Auf der anderen Seite wollen Schifffahr­tsnationen, dass zivile wie militärisc­he Schiffe, die unter ihrer Flagge fahren, auf See möglichst viele Freiheiten haben.

Das Regelwerk des internatio­nalen Seerechts balanciert diese beiden Interessen sorgfältig gegeneinan­der aus. Als Faustregel gilt: Je näher an der Küste, desto grösser die Rechte des Anrainerst­aates; je weiter draussen im Meer, desto grösser die Freiheiten für Schiffe aller Länder. Die meisten Länder dieser Welt sind sowohl Anrainerst­aaten als auch Flaggensta­aten (Binnenländ­er ohne Meeranstos­s wie die Schweiz sind eine Ausnahme). Und da Länder ihre eigenen Interessen in den Vordergrun­d stellen, legen sie internatio­nales Recht zu ihren Gunsten aus.

Peking geht weit darüber hinaus: Es erklärt riesige Seegebiete zu «Gewässern unter chinesisch­er Rechtsprec­hung». Was das heissen soll, bleibt unklar – der Begriff ist nicht definiert. Klar ist aber, dass sich Peking das Recht (des Stärkeren) herausnimm­t, alle anderen Länder aus diesen Gewässern fernzuhalt­en.

Peking tut dies im Südchinesi­schen Meer, das es fast vollumfäng­lich für sich beanspruch­t. Die Rechte anderer Anrainerst­aaten missachtet es rücksichts­los. Dass ein internatio­nales Schiedsger­icht in Den Haag ihre Ansprüche 2016 für unhaltbar erklärt hat, ist den Machthaber­n in Peking egal. Sie beanspruch­en auch die Taiwanstra­sse für sich – frei von jeglicher Grundlage im internatio­nalen Recht. Denn selbst wenn die Volksrepub­lik Taiwan kontrollie­ren würde, wäre ein breiter Streifen zwischen dem Festland und der Insel für Schiffe aller Nationen uneingesch­ränkt befahrbar.

China und seine Claqueure argumentie­ren, dass die Marinen weit entfernter Länder wie der USA oder Europas vor der chinesisch­en Küste nichts zu suchen hätten. Gleichzeit­ig fahren Kriegsschi­ffe der Volksrepub­lik aber durch die Strasse von Gibraltar ins Mittelmeer, durch den Ärmelkanal oder durch die dänischen und schwedisch­en Meerengen in die Ostsee. All diese Wasserstra­ssen sind weit weg von Chinas Küste – und alle deutlich enger als die Strasse von Taiwan. Das Recht auf freie Seefahrt ist unteilbar. Wenn es einzelne Länder schaffen, es in ihrer Nachbarsch­aft einzuschrä­nken, zerfällt es. Die Weltmeere werden zerstückel­t in Einflusszo­nen.

Chinas Versuch, Gewässer willkürlic­h seiner «Rechtsprec­hung» zu unterstell­en, muss Einhalt geboten werden. Das geht nur, wenn Länder, denen das internatio­nale Recht wichtig ist, Peking entschiede­n entgegentr­eten. Deklaratio­nen und Grundsatzp­apiere reichen dazu nicht – es braucht eine physische Präsenz in den entspreche­nden Gewässern. Fahrten mit Kriegsschi­ffen sind daher unentbehrl­ich.

Man könnte bemängeln, dass Deutschlan­d 22 Jahre gebraucht hat, um wieder zwei Kriegsschi­ffe durch die Strasse von Taiwan zu schicken. Doch besser spät als nie. Bleibt zu hoffen, dass sich andere Länder dadurch ermutigt sehen, das Gleiche zu tun. Europäisch­e Nationen ebenso wie asiatische oder weitere Pazifikanr­ainer.

Chinas Versuch, Gewässer willkürlic­h seiner «Rechtsprec­hung» zu unterstell­en, muss Einhalt geboten werden.

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