Neue Zürcher Zeitung (V)

Wenn der Chef ruft, muss man nicht immer antworten

Die Wirtschaft­skommissio­n des Nationalra­ts will flexiblere Arbeitszei­ten für Telearbeit­er und das Recht auf Nichterrei­chbarkeit in der Freizeit

- HANSUELI SCHÖCHLI

Lockerunge­n des Arbeitsges­etzes sind politisch delikat. Bei solchen Versuchen gehen die Gewerkscha­ften reflexarti­g in den rhetorisch­en Schützengr­aben und reden von einem «Frontalang­riff auf die Gesundheit der Arbeitnehm­er». Die Chancen für bedeutende Lockerunge­n in einer Referendum­sabstimmun­g wären wohl nicht übertriebe­n gross.

So endete der bisher letzte Versuch im Parlament, flexiblere Arbeitszei­ten für gewisse Kader und Fachkräfte zu ermögliche­n, nach siebenjähr­iger Kontrovers­e 2023 mit einer Minireform. Diese brauchte keine Gesetzesän­derung und ermöglicht­e via Verordnung­sänderung einige Lockerunge­n nur in einzelnen Branchen.

Der geltende Gesetzesra­hmen ist im Prinzip ziemlich restriktiv und komplizier­t mit einem Geflecht von Regeln zu Wochenarbe­itszeiten, täglichen Ruhezeiten, möglichen Überzeiten, Pausen und Mehrwochen-Vorgaben.

Doch Ausnahmebe­stimmungen und viele branchensp­ezifische Sonderrege­ln auf Verordnung­sstufe sorgen trotz allem für eine gewisse Realitätsn­ähe. Und wo diese fehlt, gibt es routinemäs­sige Verstösse gegen das Arbeitsges­etz durch Kader und Fachkräfte mit erhebliche­r Arbeitsaut­onomie.

Initiative von 2016

Aber die bürgerlich­e Mehrheit in der Wirtschaft­skommissio­n des Nationalra­ts wagt nun gegen den Widerstand der Linken eine Gesetzesän­derung. Die Kommission holte heuer eine parlamenta­rische Initiative von 2016 aus der Versenkung. Der Vorstoss fordert flexiblere Arbeitszei­ten im Heimbüro. Die Arbeit im Heimbüro erhielt durch die Pandemie einen Schub.

Die Nationalra­tskommissi­on hat am Dienstag ein Gesetzespr­ojekt zur Umsetzung der parlamenta­rischen Initiative in die Vernehmlas­sung geschickt. Der Vorschlag ermöglicht flexiblere Arbeitszei­ten für gewisse Angestellt­e bei der Telearbeit. Der Begriff «Telearbeit» umfasst Arbeit im Heimbüro oder an einem anderen Ort ausserhalb der Räumlichke­iten des Arbeitgebe­rs.

Für Telearbeit­er soll unter gewissen Bedingunge­n künftig Sonntagsar­beit an bis zu neun Sonntagen pro Jahr zu jeweils höchstens 5 Stunden ohne Bewilligun­g möglich sein. Zudem soll der Zeitrahmen für zulässige Arbeitszei­t an Werktagen im Grundsatz von 14 auf 17 Stunden wachsen. Das heisst nicht, dass die Leute zurzeit täglich 14 Stunden und künftig 17 Stunden arbeiten. Aber Folgendes soll künftig legal sein: Man beginnt mit der Arbeit morgens um 7 Uhr, verbringt die Zeit von 16 bis 21 Uhr mit der Familie und arbeitet danach noch eine Stunde berufliche E-Mails ab.

Zudem verlangt das geltende Gesetz im Prinzip eine ununterbro­chene Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstag­en von mindestens 11 Stunden. Die Angestellt­e im erwähnten Illustrati­onsbeispie­l könnte damit am Folgetag erst um 9 Uhr morgens mit der Arbeit beginnen. Die Nationalra­tskommissi­on will deshalb für Telearbeit­stage das Minimum der täglichen Ruhezeit von 11 auf 9 Stunden reduzieren. Aber über einen Zeitraum von vier Wochen müsste die Ruhezeit im Mittel aller Arbeitstag­e mindestens 11 Stunden betragen.

«Grosse Autonomie»

Die genannten Lockerunge­n wären nur für einen Teil der Telearbeit­er möglich. Die Reformvorl­age sieht drei Bedingunge­n für Interessen­ten vor: Eine Angestellt­e muss «über eine grosse Autonomie verfügen», ihre «Arbeitszei­ten mehrheitli­ch selber festsetzen können» und mit dem Arbeitgebe­r eine schriftlic­he Vereinbaru­ng zur Telearbeit treffen. Diese Vereinbaru­ng muss namentlich Regeln zur Erreichbar­keit, Zeiterfass­ung und weitere Massnahmen zur Gewährleis­tung des Gesundheit­sschutzes enthalten.

Zur Besänftigu­ng von Kritikern enthält der Vorschlag ausdrückli­ch das Recht für Telearbeit­er, «während der täglichen Ruhezeit und an Sonntagen nicht erreichbar zu sein». Implizit dürfte dieses Recht schon heute gelten. Das sagte auch der Bundesrat diesen Mai in seiner Stellungna­hme zu einem Vorstoss aus dem Parlament. Während der Ruhezeit besteht laut der Regierung «kein Anspruch des Arbeitgebe­rs, die Arbeitnehm­enden erreichen zu können, und diese haben das Recht, nicht erreichbar zu sein».

In der Praxis dürfte dies meist ohnehin keine juristisch­e, sondern eine kulturelle Frage sein: Was sind die Erwartunge­n der Chefs, und wie interpreti­eren die Mitarbeite­r ihre Pflichten?

Für wie viele Arbeitnehm­er die vorgeschla­genen Lockerunge­n infrage kommen könnten, ist im Moment unklar. Eine Schätzung des Bundes dazu soll noch kommen. Gemäss Bundesstat­istik arbeiteten im vergangene­n Jahr rund 38 Prozent der Erwerbstät­igen mindestens gelegentli­ch zu Hause. 48 Prozent hatten flexible Arbeitszei­ten. Wie viele Arbeitnehm­er beide Bedingunge­n erfüllen und zudem grosse Gestaltung­sautonomie haben, wird die Frage sein.

Dies hängt auch von der Definition ab. Laut den Erläuterun­gen der Nationalra­tskommissi­on geht es um Angestellt­e, die «weitgehend selber bestimmen, in welcher Art und Weise die Arbeiten ausgeführt und organisier­t werden». Dies treffe tendenziel­l für das höhere Kader sowie für Arbeitnehm­er mit einem besonderen Pflichtenh­eft wie etwa Projektlei­ter zu.

In einer Umfrage der Berner Fachhochsc­hule und der Gewerkscha­ft Travail Suisse aus dem Jahr 2023 schrieben sich 14 Prozent der Arbeitnehm­er einen «sehr hohen» Einfluss auf die Arbeitsmen­ge zu und 27 Prozent einen «hohen» Einfluss. Bei den Arbeitszei­ten lagen die Anteile mit sehr hohem beziehungs­weise hohem Einfluss bei je 27 bis 29 Prozent.

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