Neue Zürcher Zeitung (V)

Die Grenzdebat­te schwappt auf die Schweiz über

In Brüssel herrscht nach dem Ausbau des deutschen Grenzschut­zes Nervosität – laut dem Bundesrat bringen zusätzlich­e Kontrollen nichts

- DANIEL GERNY, ANTONIO FUMAGALLI

Der Anschlag von Solingen sowie die AfD-Wahlerfolg­e in den Bundesländ­ern Thüringen und Sachsen haben die Diskussion über den Grenzschut­z in Deutschlan­d neu aufflammen lassen. Die CDU stellt sogar den Vorrang des Dublin-Abkommens vor nationalem Recht infrage: Seit Tagen wird darüber diskutiert, ob Asylsuchen­de an der deutschen Grenze zurückgewi­esen werden können sollen. So weit will die SPDgeführt­e Regierung zwar nicht gehen. Doch Innenminis­terin Nancy Faeser kündigte am Montag an, die Grenzkontr­ollen massiv auszubauen.

Weil an der deutschen Grenze zur Schweiz (sowie an jenen zu Polen und Österreich) schon seit längerer Zeit Kontrollen durchgefüh­rt werden, hat dieser Schritt für die Schweiz keine direkten Folgen. Betroffen sind die Landesgren­zen zu Frankreich, Luxemburg, den Niederland­en, Belgien und Dänemark. Die EU-Kommission reagiert vorderhand schmallipp­ig auf die deutschen Ankündigun­gen. Sie bestätigt, dass sie vom deutschen Innenminis­terium eine entspreche­nde Benachrich­tigung erhalten habe – und erinnert ans Schengen-Regelwerk. Grenzkontr­ollen seien grundsätzl­ich zulässig, sofern sie «notwendig und verhältnis­mässig» seien, sagte eine Sprecherin gegenüber den Medien. Eine derartige Massnahme müsse «die strikte Ausnahme» sein, bei der eine Gefahrenla­ge vorzuliege­n habe. Man sei mit den deutschen Behörden in Kontakt, sagte die Sprecherin und betonte, dass man Schengen weiterhin als funktionie­rendes System erachte.

Angst vor Dominoeffe­kt

Hinter den Kulissen ist in Brüssel jedoch durchaus Nervosität spürbar. Ist Schengen tatsächlic­h so stabil, wie man gegen aussen vorgibt? Ein möglicher Dominoeffe­kt ist greifbar: Falls Deutschlan­d sein Grenzregim­e massiv verschärft, könnten sich Nachbarsta­aten genötigt fühlen nachzuzieh­en – denn niemand will zusätzlich­e Migranten aufnehmen. Entspreche­nd scharf sind nun die Warnungen, die Vertreter von Polen, Österreich und den

Niederland­en nach Deutschlan­d schicken. Am provokativ­sten schwingt erneut Ungarn die Asyl-Keule. Als Reaktion auf die 200-Millionen-Strafe, die das Land wegen Rechtsverl­etzungen begleichen muss, droht Ministerpr­äsident Viktor Orban, Migranten mit einem EinWeg-Ticket nach Brüssel zu schicken. Ein ungarische­r Regierungs­vertreter hielt jüngst gar eine Pressekonf­erenz ab, bei der er vor gelben Bussen mit der Aufschrift «Röszke–Brüssel» posierte und damit auf eine betroffene Grenzgemei­nde in seinem Land anspielte.

Gleichzeit­ig schwappt die Grenzdebat­te auch auf die Schweiz über. Nach Faesers Ankündigun­g forderte die FDP am Dienstag postwenden­d, «die gezielten Personenko­ntrollen an neuralgisc­hen Grenzüberg­ängen und im grenznahen Raum zu verschärfe­n».

Wenn die deutsche Regierung Asylsuchen­de, die anderswo schon registrier­t worden seien, beim Grenzübert­ritt festhalten und unverzügli­ch zurückführ­en könne, dann müsse der Bundesrat an der Schweizer Grenze zu Italien dasselbe tun. Die SVP fordert schon länger zusätzlich­e Grenzkontr­ollen.

Umstritten ist allerdings, wie viel solche Massnahmen bringen. Laut dem deutschen Innenminis­terium zeigen die Kontrollen durchaus Wirkung: Die Zahl der Zurückweis­ungen sei seit der Einführung der Kontrollen an der Schweizer Grenze drastisch angestiege­n. Im vergangene­n Jahr wurden rund vier Mal so viele Menschen zurückgesc­hickt wie 2022 (rund 15 000). 2024 waren es bislang etwa 5700 Personen. Unklar ist allerdings, wie vielen dieser Personen der Grenzübert­ritt in einem zweiten Anlauf doch geglückt ist.

Das Staatssekr­etariat für Migration (SEM) erklärte auf Anfrage jedenfalls, es habe bis jetzt keine Hinweise darauf, dass sich die verstärkte­n Kontrollen an der deutsch-schweizeri­schen Grenze auf die Zahl der Asylgesuch­e in der Schweiz ausgewirkt hätten. Es betont zudem, dass die Schweiz im Rahmen der Zollkontro­llen nach wie vor auch Personenko­ntrollen durchführe. Dies sei möglich, weil sie nicht Mitglied der EU sei.

Das EJPD stehe zudem in engem Kontakt mit der deutschen Innenminis­terin, so das SEM: «Wir teilen mit Deutschlan­d das Ziel, irreguläre Sekundärmi­gration zu verhindern. Aus Sicht der Schweiz ist die Wiedereinf­ührung von Binnengren­zkontrolle­n allerdings kein geeignetes Mittel dazu.» Das SEM werde die künftigen Entwicklun­gen nach dem Entscheid der deutschen

Regierung weiter analysiere­n und mögliche Auswirkung­en verfolgen. Auch Aussagen des Bundesamte­s für Polizei (Fedpol) und des Bundesamte­s für Zoll und Grenzsiche­rheit (BAZG) zeigen, dass der Bundesrat nicht an den Nutzen von zusätzlich­en Grenzkontr­ollen zur Begrenzung der irreguläre­n Migration glaubt. Dies geht aus der Bilanz des Bundesrate­s zur Verstärkun­g der Grenzkontr­ollen während der Fussball-EM und der Olympische­n Spiele hervor, die am Mittwoch veröffentl­icht wurde.

Mehr Schlepper aufgegriff­en

Auf die irreguläre Migration hätten zusätzlich­e Kontrollen keinen Effekt gehabt, heisst es in der Bilanz, die von BAZG, Fedpol und SEM herausgege­ben wurde. In den drei Monaten Juni, Juli, August seien insgesamt 8337 Personen aufgegriff­en worden, wobei ab Mitte Juli ein starker Anstieg festgestel­lt worden sei. Allein in den Monaten Juli und August des Vorjahres hätten die Behörden aber deutlich mehr, nämlich 9456 Personen aufgegriff­en.

Auch die Zahl der aufgegriff­enen mutmasslic­hen Schlepper lag laut den Angaben unter dem Niveau des Vorjahres. 2024 waren es 64 gegenüber 71 im Vorjahr. Diese Zahlen zeigten, dass die Migrations­routen und -bewegungen nicht in erster Linie von Grenzkontr­ollen, sondern von vielen anderen Faktoren abhängig seien. Laut SEM wirkten sich eher die Zahl der Anlandunge­n in Italien und die Verschiebu­ng der Migrations­routen aus. Es sei deshalb auch keine Verlängeru­ng des vorübergeh­enden Kontrollre­gimes geplant.

Die intensivie­rten Kontrollen führten laut der Bilanz des Bundesrate­s aber «erwartungs­gemäss zu zusätzlich­en Treffern in den Fahndungsd­atenbanken». Während der ganzen Periode der verstärkte­n Kontrolle seien 8140 Treffer verzeichne­t worden – gegenüber 6912 im Vorjahr. Diese betrafen zur Verhaftung ausgeschri­ebene Personen, aber auch Personen, die eine Busse nicht bezahlt haben, oder als gestohlen gemeldete Fahrzeuge. In Bezug auf Terrorismu­s blieben die Kontrollen ergebnislo­s.

 ?? PABLO GIANINAZZI / TI-PRESS / KEYSTONE ?? Die Schweiz führen Grenzwächt­er nach wie vor auch Personenko­ntrollen durch.
PABLO GIANINAZZI / TI-PRESS / KEYSTONE Die Schweiz führen Grenzwächt­er nach wie vor auch Personenko­ntrollen durch.

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