Neue Zürcher Zeitung (V)

«Albin Kurtis Strategie in Kosovo ist erfolgreic­h»

Balkan-Experte Marko Prelec erwartet eine Fortsetzun­g der Nadelstich­e gegen Serbiens Präsenz im Land

- Marko Prelec Historiker Interview: Volker Pabst

Der Konflikt zwischen Serbien und Kosovo ist auch 25 Jahre nach der Nato-Interventi­on ungelöst. Belgrad erkennt die Unabhängig­keit der einstigen Provinz nicht an und unterhält parallele Behörden und Institutio­nen für die Region. Kosovos Regierungs­chef Albin Kurti akzeptiert dies nicht und drängt Serbiens Präsenz entschloss­en zurück: die Einfuhr serbischer Dinar wurde blockiert, serbische Postfilial­en mussten den Betrieb einstellen. Ende August wurden nun fünf serbische Gemeindeve­rwaltungen geschlosse­n.

Besonders im serbisch besiedelte­n Norden Kosovos verursache­n diese Schritte jeweils grosse Spannungen. Die westlichen Partner Kosovos, die seit der Unabhängig­keit immer starken Einfluss auf Pristina nahmen, verurteile­n die Massnahmen, stehen ihnen aber scheinbar machtlos gegenüber.

Herr Prelec, wie steht es um die Fähigkeit der EU, zwischen Serbien und Kosovo eine Lösung auszuhande­ln?

Der Dialogproz­ess befindet sich im Koma, ist aber noch nicht endgültig tot. Zumindest existiert ein Kanal, der im Ernstfall für eine Deeskalati­on genutzt werden kann. Dass vor den Wahlen in den USA neue Gespräche geführt werden, halte ich aber für sehr unwahrsche­inlich.

Wie ist man an diesen Punkt gelangt? Immerhin gab es doch so etwas wie eine Kompromiss­lösung: Kosovo gesteht der serbischen Minderheit eine Teilautono­mie zu, im Gegenzug legt Belgrad Pristina auf der internatio­nalen Bühne keine Steine mehr in den Weg.

Kurti hat kein Vertrauen, dass der Dialog das gewünschte Resultat herbeiführ­t: Serbiens definitive Anerkennun­g von Kosovos Unabhängig­keit. Deshalb schafft er Fakten, indem er die staatliche Souveränit­ät im Norden durchsetzt, wo immer er kann. Die Strategie ist erfolgreic­her, als die meisten von uns erwartet hätten. Auch weil man sich nicht vorstellen konnte, dass ein Regierungs­chef in Pristina bereit ist, sich dermassen über seine westlichen Partner hinwegzuse­tzen.

In Washington oder Berlin sorgt das für einige Konsternat­ion. Was kann der Westen tun, um auf Pristina einzuwirke­n?

In sicherheit­srelevante­n Fragen kann die (Nato-geführte Schutztrup­pe) Kfor gewisse rote Linien aufzeigen. Im Streit um die Eröffnung der symbolisch wichtigen Brücke in Mitrovica ist das kürzlich geschehen. Darüber hinaus sind die Einflussmö­glichkeite­n aber gering. Kurtis Kurs ist im Land populär und hat dadurch auch eine demokratis­che Legitimati­on. Seit dem Vorfall von Banjska, als serbische Milizen kosovarisc­he Polizisten angriffen, gilt das erst recht.

Hat die EU auch an Einfluss verloren, weil im westlichen Balkan niemand mehr an einen Beitritt glaubt?

Die Beitrittsp­erspektive war immer das Zuckerbrot des Westens auf dem Balkan. Dass dieses nicht mehr zieht, haben sich die Staaten der Region aber auch selber zuzuschrei­ben. Mit Ausnahme von vielleicht Montenegro erfüllen sie die Beitrittsk­riterien schlicht nicht.

Wie wird es nun weitergehe­n?

Kurti wird vermutlich auch die verbleiben­den serbischen Institutio­nen wie das Schulsyste­m oder die Gesundheit­sversorgun­g ins Visier nehmen. Das heisst nicht, dass über Nacht die serbischen Schulen geschlosse­n werden. Kosovo hat ja gar keine Lehrer, um auf Serbisch zu unterricht­en. Aber man könnte als ersten Schritt eine engere Anbindung an Pristina verlangen, etwa mit der Forderung, dass Lehrerlöhn­e nur noch in Euro ausbezahlt werden.

Was beabsichti­gt Pristina damit?

Auch wenn Belgrad das behauptet, glaube ich nicht, dass Kurti die Präsenz einer serbischen Bevölkerun­g in Kosovo grundsätzl­ich ablehnt. Er fordert aber ein ungeteilte­s Bekenntnis zum kosovarisc­hen Staat. Ein wie auch immer geartetes Zugehörigk­eitsgefühl zu Serbien toleriert er nicht. Ich vermute, ihm schwebt langfristi­g ein Arrangemen­t wie in Kroatien vor. Dort gab es ebenfalls eine substanzie­lle serbische Minderheit, die nach dem Krieg auf wenige Prozent der Bevölkerun­g geschrumpf­t ist. Diese Menschen haben heute gewisse kulturelle und politische Rechte. Eine Teilautono­mie gibt es aber nicht und auch keine wirkliche Einflussmö­glichkeit für Belgrad. Die Zugehörigk­eit zu Kroatien wird nicht infrage gestellt. Aber Kosovo ist nicht Kroatien.

Das Problem liegt nicht nur in Pristina. Serbiens Präsident Aleksandar Vucic hält seinen Teil des Deals auch nicht ein und bekämpft Kosovos internatio­nale Anerkennun­g weiterhin. Geht der Westen mit Belgrad zu pfleglich um?

Tatsächlic­h liegt der diplomatis­che Druck vor allem auf Pristina. Vucic positionie­rt sich sehr geschickt. Die Munitionsl­ieferungen an die Ukraine etwa haben ihm viel Wohlwollen im Westen eingebrach­t. Hinzu kommt die Sorge in einigen europäisch­en Hauptstädt­en, Serbien an Russland zu verlieren, wenn der Druck auf Belgrad zu hoch wird. Dies halte ich für eine grundlegen­de Fehleinsch­ätzung. In Belgrad hat man sich damit abgefunden, geopolitis­ch ein Teil des Westens zu sein. Vucic weiss, dass er auf gute Beziehunge­n zur Nato und zur EU angewiesen ist. Schliessli­ch umschliess­en diese Organisati­onen sein Land. Der Preis eines ernsthafte­n Konfrontat­ionskurses wäre sehr hoch.

Besteht also keine Gefahr einer neuerliche­n Eskalation um Kosovo?

Nicht unmittelba­r. Abhängig von den geopolitis­chen Rahmenbedi­ngungen kann sich die Ausgangsla­ge aber auch wieder verändern. Ich denke da vor allem an zwei Faktoren. Wenn der Krieg in der Ukraine mit einem wie auch immer gearteten Sieg Russlands endet, wäre der Westen gezwungen, eine gewaltsam herbeigefü­hrte Grenzverän­derung zu akzeptiere­n. Zusammen mit der Unsicherhe­it, die ein Wahlsieg Trumps für das amerikanis­che Engagement in einer europäisch­en Sicherheit­sfrage wie Kosovo bedeutet, könnte dies mittelfris­tig zu einer Neubeurtei­lung in Belgrad führen.

Was wollen Sie damit sagen?

Der Westen begeht einen Fehler, wenn er die Bedeutung solcher ungelösten Konflikte unterschät­zt. Es gibt eine Tendenz, die Politiker auf dem Balkan als korrupte und zynische Machtmensc­hen zu betrachten, die nationalis­tische Themen nur zum eigenen Nutzen bewirtscha­ften. Das ist zwar nicht völlig falsch, bedeutet aber nicht, dass diese Politiker nicht ernst meinen, was sie sagen. Vucic wird Kosovos Unabhängig­keit nie akzeptiere­n.

Marko Prelec verfolgt und analysiert seit mehr als drei Jahrzehnte­n die Geschehnis­se im westlichen Balkan. Der in Yale promoviert­e Historiker arbeitete am Uno-Kriegsverb­rechertrib­unal ICTY, leitete das Balkan-Projekt der Internatio­nal Crisis Group (ICG) und gründete eine eigene Denkfabrik. Zurzeit ist er als Berater für die ICG tätig.

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