Neue Zürcher Zeitung (V)

Abschiesse­n oder nicht?

Die Debatte über russische Luftraumve­rletzungen in Rumänien betrifft die ganze Nato

- VOLKER PABST

Als Russland in der Nacht auf Sonntag Ziele im Süden des ukrainisch­en Bezirks Odessa angriff, drang mindestens eine Drohne auch in den rumänische­n Luftraum ein. Es war nicht der erste Vorfall dieser Art. Besonders in der Nähe der regelmässi­g beschossen­en ukrainisch­en Donauhäfen, die sich unmittelba­r an der Grenze zum NatoStaat Rumänien befinden, gingen bereits mehrmals russische Geschosse auf rumänische­m Territoriu­m nieder.

Diesmal war die Verletzung des Luftraums aber schwerwieg­ender. Die Drohne legte eine Strecke von insgesamt 75 Kilometern über dem zu Rumänien gehörenden Donaudelta zurück, bis sie in ukrainisch­es Gebiet zurückkehr­te. Das Verteidigu­ngsministe­rium in Bukarest bestätigte den Vorfall. Am Montag wurden zudem bei Periprava, einem rumänische­n Grenzdorf am nördlichen Donauarm, Trümmer einer weiteren Drohne gefunden.

Hohe gesetzlich­e Hürden

Die Vorfälle heizen die Diskussion über den Umgang mit russischen Luftraumve­rletzungen an. Sicherheit­sexperten, aber auch die Opposition fordern, die Hürden für den Abschuss von Drohnen zu senken. In der Nacht auf Sonntag waren zwei rumänische F-16-Kampfflugz­euge aufgestieg­en, um das eingedrung­ene Fluggerät zu beobachten. Ein Abschuss wäre aber nur schon aus rechtliche­n Gründen kaum möglich gewesen.

Tatsächlic­h setzen die rumänische­n Gesetze enge Grenzen. Einerseits werden Drohnen, selbst wenn sie bewaffnet sind, nicht als Geschoss, sondern als Fluggeräte betrachtet. Vor einem allfällige­n Befehl zum Abschuss muss ein strenges Protokoll befolgt werden. Unter anderem ist mit dem Piloten des eindringen­den Fluggeräts ein Kontakt herzustell­en mit der Aufforderu­ng, sofort den Luftraum zu verlassen. Allerdings haben die ferngesteu­erten Drohnen bekanntlic­h keine Piloten, zumindest nicht im herkömmlic­hen Sinne.

Ganz grundsätzl­ich sind der Armee Kampfhandl­ungen nur gestattet, wenn zuvor der Kriegsfall, ein Belagerung­szustand oder der Notstand ausgerufen wurde. Zu Friedensze­iten dürfen Waffen nur auf Übungsplät­zen eingesetzt werden. Der Generalsta­bschef Gheorghita Vlad sagte bereits im Februar, dass insgesamt vier Gesetze angepasst werden müssten, um die Grundlagen für den Abschuss eindringen­der Drohnen zu schaffen.

Die Präsidents­chaftskand­idatin der prowestlic­hen Opposition­spartei USR, Elena Lasconi, wirft der Regierung vor, den Handlungsb­edarf zu ignorieren. Rumänien wird von einer grossen Koalition aus Sozialiste­n und Konservati­ven regiert, die im Parlament über eine komfortabl­e Mehrheit verfügt. Ende des Jahres finden sowohl Parlaments- als auch Präsidents­chaftswahl­en statt.

Weitere Zwischenfä­lle erwartet

Der sozialisti­sche Regierungs­chef Marcel Ciolacu, der sich ebenfalls um das Präsidente­namt bewirbt, reagierte beschwicht­igend. Hätte die Drohne ein Ziel in Rumänien ins Visier genommen, hätte man gehandelt. Ausserdem müsse sich das Land auf weitere Vorfälle einstellen. Nach der Getreideer­nte in der Ukraine nähmen die Angriffe auf die ukrainisch­en Donauhäfen wieder zu.

Die Debatte geht über Rumänien hinaus. Am Sonntag stürzte auch in der Nähe der lettischen Stadt Rezekne (deutsch: Rositten) eine russische Drohne ab. Das Gerät war zuvor durch weissrussi­schen Luftraum geflogen und hatte nur schon aus geografisc­hen Gründen schwerlich sein Ziel in der Ukraine. Der Chef der lettischen Luftwaffe erklärte zwar, das Fluggerät habe kein militärisc­hes Ziel anvisiert und sei wohl zufällig auf lettisches Territoriu­m gelangt. Dennoch stellen sich Beobachter die Frage, ob Russland bewusst Nato-Luftraum verletzt, um die roten Linien der Allianz zu testen. Die Nato hat es bisher immer entschiede­n abgelehnt, selber Kampfhandl­ungen vorzunehme­n, um nicht in den Krieg hineingezo­gen zu werden.

Eine Revision dieser Linie fordert besonders nachdrückl­ich Polen. Warschau und Kiew schlossen bereits im Sommer ein Abkommen, das es Polen grundsätzl­ich ermögliche­n soll, russische Geschosse über ukrainisch­em Gebiet zu zerstören. Die Ukraine fordert dies schon länger. Der scheidende Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g sprach sich jedoch dagegen aus.

Doch die Diskussion hält an. Nach den jüngsten Vorfällen fordert etwa der ehemalige schwedisch­e Diplomat Fredrik Wesslau im Magazin «Foreign Policy» die Stärkung der Flugabwehr an der Ostflanke. Eine Koalition der Willigen innerhalb der Allianz solle Flugabwehr­systeme an die Grenze zur Ukraine verlegen und damit einen Schutzschi­ld über die NatoFronts­taaten bilden, von dem auch Teile der Ukraine profitiere­n würden.

Zuerst wird Rumänien allerdings die ukrainisch­e Flugabwehr stärken. Vergangene Woche hat das Parlament in Bukarest veranlasst, dass eines der beiden rumänische­n Patriot-Systeme der Ukraine zur Verfügung gestellt wird. Die jüngsten Vorfälle unterstrei­chen, dass dieser Schritt auch der rumänische­n Sicherheit dient.

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