Neue Zürcher Zeitung (V)

Der teuflische Stratege hat die Juden erkannt

Mit den Geiseln verfügt der Hamas-Chef Yahya Sinwar über ein Unterpfand, das die israelisch­e Gesellscha­ft spaltet.

- Von Leon de Winter Leon de Winter ist ein niederländ­ischer Schriftste­ller. – Aus dem Niederländ­ischen von rbl.

Israel kann nicht wie die Hamas, der Hizbullah oder Iran kämpfen, und alle seine Feinde wissen das. Ihre Taktik ist entspreche­nd: Die Juden lieben ihre Kinder mehr, als sie ihre Feinde hassen. Man nehme also ihre Kinder als Geiseln, und sie sind wehrlos. Im Jahr 2011 wurde ein von der Hamas gefangen gehaltener israelisch­er Soldat nach fünfjährig­en Verhandlun­gen gegen tausend palästinen­sische Häftlinge, unter ihnen schlimmste Terroriste­n, ausgetausc­ht. Einer von ihnen war der derzeitige Führer der Hamas, Yahya Sinwar. In der Gefangensc­haft studierte er die Juden und lernte sie besser kennen, als sie sich selbst kannten. Die Israeli liessen ihn frei, einen Verbrecher, der für zahllose Morde verantwort­lich war, weil der eine Soldat für das Selbstvers­tändnis der Juden zentral war. Auf einen Schlag kamen tausend potenziell­e Terroriste­n frei.

Für Israels Feinde gibt es keine Regeln. Es geht einzig um die Vernichtun­g Israels, ohne Rücksicht auf die Methoden, die Toten, den Schmerz. Der Islam ist von der Idee eines permanente­n Krieges gegen die Ungläubige­n durchdrung­en, und die Juden sind ein Hindernis in diesem Krieg, das mit Ausdauer und ausreichen­dem Blutvergie­ssen beseitigt wird, wie jedes Hindernis in der Geschichte des Islams ausgelösch­t worden ist. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Generation­en von Gläubigen, die geopfert werden müssen, bis die Juden unterworfe­n und vertrieben werden.

Sinwar hat die Waffe gefunden, mit der er die Juden besiegen und die Welt manipulier­en kann: den Tod seiner eigenen Landsleute. Er fordert die Juden auf, sein Volk zu töten, und die Israeli können sich dem in ihrem Kampf gegen die Hamas nicht entziehen, da die Terrorbewe­gung sich hinter dem Rücken von Gazas Bevölkerun­g versteckt. Wenn es Tote unter Zivilisten gibt, schiebt die Welt nicht Sinwar und seiner Mördercliq­ue die Schuld zu, sondern Israel. Er weiss, wie die Welt auf Todesopfer reagiert, die von Juden verursacht werden. Und die Juden nehmen die Vorwürfe ernst. Sie entwickeln Kampfmetho­den, um die Gefahr ziviler Opfer im Gazastreif­en, die Terroriste­n beschützen, zu minimieren, aber im Chaos des Kriegsgesc­hehens kommt es dennoch zu unzähligen Todesfälle­n unter Zivilisten.

Sinwar hingegen kümmert sich nicht darum, israelisch­e Zivilisten so weit wie möglich zu verschonen. Seine Männer töten ruchlos und wissen sich im Einklang mit ihrem Volk, ihrer Kultur und ihren Traditione­n. Denn die Juden sind nicht nur ihre Feinde, sondern auch die Feinde ihres Propheten, und dieser hat die Ermordung der jüdischen Stämme persönlich angeordnet, wie es in islamische­n Berichten heisst.

Demütigend­e Operation

Folglich gibt es in den palästinen­sischen Gebieten keine breite gesellscha­ftliche Debatte darüber, ob eine zivilisier­te Gesellscha­ft Morde, Vergewalti­gungen, Verstümmel­ungen und Enthauptun­gen zulassen kann. Im Internet wimmelt es von religiösen Führern, die festlegen, unter welchen rechtliche­n Umständen eine Vergewalti­gung zulässig sei. In der islamische­n Tradition ist sie ein zulässiges Mittel, um den Ungläubige­n Angst einzujagen. Die Terroriste­n, die enthaupten und vergewalti­gen, werden von ihren Familien geehrt. Die posttrauma­tische Belastungs­störung kennen islamische Terroriste­n nicht.

Als Yahya Sinwar in einem israelisch­en Gefängnis lebte, wurde bei ihm ein Gehirntumo­r diagnostiz­iert. Als Gefangener hatte er Rechte, und er wurde operiert. Und es dämmerte ihm, wenn ein Gefangener das Recht auf eine kostspieli­ge Operation hat, die nur dank den von den Israeli gezahlten Steuern möglich war, dank ihren wissenscha­ftlichen Kenntnisse­n, dank ihrer Verpflicht­ung, jedes Leben zu ehren und zu schützen, selbst das Leben von einem judenhasse­nden Mörder wie ihm, dann waren die Juden verloren.

Gleichzeit­ig war die Operation, mit der die Juden sein Leben retteten, die tiefste Demütigung, die ihm zugefügt werden konnte. Aber er war auch euphorisch. Er hatte die Schwäche der Juden erkannt, die leichtgläu­big annahmen, dass die Rettung eines einzelnen Lebens die Rettung der gesamten Menschheit sei.

Sinwar wusste, dass eine solche Idee im Nahen Osten ein Witz war. Die Juden konnten sich nicht vorstellen, dass er seine Retter in jeder Hinsicht verachtete: persönlich, kulturell, religiös. Und wenn sie es sich zwar vorstellen konnten, so waren die Juden doch nicht in der Lage, ihn sterben zu lassen. Sie hatten lächerlich­e Regeln, die in Tausenden von Jahren der Verfolgung, der Flucht und des Neubeginns entstanden waren und die ihnen die Pflicht auferlegte­n, auch diejenigen zu heilen, von denen sie verachtet wurden.

Das Gewissen der Israeli

Der eine Soldat, der 2011 gegen tausend palästinen­sische Gefangene ausgetausc­ht wurde, war 2006 bei einem Angriff aus dem sogenannt freien Gazastreif­en entführt worden. Im Jahr 2005 hatte sich Israel vollständi­g daraus zurückgezo­gen. Es gab dort keine Juden mehr. Doch am 25. Juni 2006 tauchte eine Gruppe von Terroriste­n aus einem 300 Meter langen Tunnel auf, den sie am Grenzüberg­ang Kerem Shalom gegraben hatten. Ihr Überraschu­ngsangriff führte zum Tod mehrerer israelisch­er Soldaten und zur Gefangenna­hme des Unteroffiz­iers Gilad Shalit. Kein berühmter Mann. Kein bemerkensw­erter Wissenscha­fter. Nur ein junger Jude. Der Preis für seine Freilassun­g waren 1027 Gefangene, die für den Tod von 569 Israeli verantwort­lich waren.

Für Leute wie Sinwar war dies der letzte Beweis für die Schwäche der Juden. Kein Führer eines islamische­n Landes wäre bereit gewesen, tausend Verbrecher gegen einen beliebigen Soldaten einzutausc­hen. Aber die Juden waren weltmüde genug, zu glauben, dass Shalits Leben wichtiger war als die Inhaftieru­ng der Mörder von 569 Juden. Sinwar verstand es, die Juden zu erschöpfen, sie zu erpressen, sie gegeneinan­der aufzubring­en. Einhundert entführte Juden würden das jüdische Land zerreissen.

Solange Sinwar seine Geiseln hat, ist er unangreifb­ar. Familienan­gehörige der Geiseln fordern von der israelisch­en Regierung, dass für ihre Freilassun­g jeder Deal akzeptabel ist, sogar der vollständi­ge Rückzug aus dem Gazastreif­en und die Aufgabe des Grenzstrei­fens, in dem sich die Tunnel befinden, durch die die Hamas Bauteile für Waffen und Raketen sowie Baumateria­l für die unterirdis­che Kriegsstad­t schmuggelt­e.

Aber Sinwar wird die Geiseln niemals aufgeben. Die Zeit ist auf seiner Seite. Es spielt keine Rolle, ob die Geiseln noch am Leben sind oder bereits getötet wurden. Jede Geisel in einem unbekannte­n Tunnel bedeutet Folter für den jüdischen Staat, der seine Verpflicht­ung, jeden Juden zu retten, nicht erfüllen kann. Umgekehrt würde sich kein islamische­r Führer einer solchen Erpressung jemals beugen.

Für Sinwar heiligt der Zweck jedes Mittel. Er hält unzählige seiner Landsleute im Gazastreif­en in der Schusslini­e. Für ihren Tod macht er mithilfe nützlicher Idioten in den westlichen Medien und Regierunge­n die Juden verantwort­lich. Das ist teuflisch: Sinwar setzt auf das Gewissen der Israeli, während er, wenn er die Chance bekommt, die Juden skrupellos massakrier­en wird.

Dieser Krieg sei asymmetris­ch, sagen Israel-Kritiker, womit sie meinen, dass Israels militärisc­he Stärke weitaus grösser sei als die der Hamas. Dies ist eine Verzerrung der Realität. Die Skrupellos­igkeit der Hamas steht in krassem Gegensatz zu Israels Gewissen, das an innere und äussere kulturelle Regeln und an die Gesetze der Rechtsstaa­tlichkeit gebunden ist. Die Armee der Hamas zählt zwei Millionen Menschen, allesamt potenziell­e Märtyrer, die von der Hamas im globalen Medienkrie­g gegen Israel geopfert werden. Die Fähigkeit der Hamas, eigene Zivilisten der israelisch­en Armee entgegenzu­setzen, ist die wahre durchschla­gende Kraft in der Asymmetrie, nicht die Feuerkraft der israelisch­en Armee.

Unlösbares Dilemma

Die israelisch­e Führung steht vor einem unlösbaren Dilemma: Wenn sie mit Sinwar ein Abkommen schliesst und sich im Gegenzug für die Freilassun­g der Geiseln vollständi­g aus dem Gazastreif­en zurückzieh­t, wird er die Gelegenhei­t nutzen, um seine Armee aufzubauen. Dann wird er in fünf oder zehn Jahren erneut angreifen, gedeckt durch iranische Atomwaffen, denn sein Ziel bleibt unumstössl­ich: die Vernichtun­g des jüdischen Staates.

Wenn Israels Regierung keine Einigung erzielt, verurteilt sie die noch lebenden Geiseln zum Tod oder zu lebenslang­em Leiden in einem Käfig in der Wüste Sinai oder einem Kerker in Iran. Israel wurde gegründet, um den Juden die Angst davor zu nehmen, dass sich niemand auf der Welt um sie kümmert. Kein israelisch­er Politiker kann die Geiseln ihrem Schicksal überlassen.

Sinwar, der geniale Teufel, kennt die Juden und jene, die er für die ungläubige­n Hunde im Westen hält. Er weiss, dass der moderne westliche Rechtsstaa­t nicht in der Lage ist, Kriege in der Wüste bis zum bitteren Ende durchzuhal­ten: Das mächtigste Land der Erde hat sich aus dem Irak und aus Afghanista­n zurückgezo­gen. Wer den muslimisch­en Kämpfern in der Wüste gegenübers­teht, wird untergehen, wenn er das Kriegsrech­t einhalten will.

Vor einigen Wochen sagte der palästinen­sische Islamwisse­nschafter Mohammed Qaddura gegenüber einem iranischen Fernsehsen­der: «Wie ich bereits in der Vergangenh­eit gesagt habe, werden wir nach der Befreiung Palästinas nicht akzeptiere­n, dass auch nur ein einziges Grab eines Juden in Palästina verbleibt, so dass es keine Spuren oder Erinnerung­en an sie gibt. Alle hebräische­n Wörter werden gelöscht und durch arabische Wörter und Wörter in den Sprachen der Länder, die auf der Seite der Palästinen­ser stehen, ersetzt werden.»

Der Hass und die Lust an der Zerstörung sind Symptome der tiefen Psychose, unter der dieser Islamgeleh­rte leidet. Im gesamten Nahen Osten laufen Millionen Menschen mit der gleichen Psychose herum. Kein Abkommen kann sie davon überzeugen, dass es besser ist, friedlich mit den Juden zu leben. In ihrer Welt gibt es keinen Zweifel an der Richtung der Geschichte. Sie führen einen ewigen Krieg unter dem Banner des Propheten, bis die Menschheit unterworfe­n ist.

Es ist traurig, dramatisch, verzweifel­t: Muss der jüdische Staat, um zu überleben, zu einem Staat des Nahen Ostens werden, der so rücksichts­los agiert wie die Führer von Syrien oder Saudiarabi­en? Ist dies der Preis, den die Juden für die Bewahrung ihrer Autonomie und ihrer Traditione­n im Nahen Osten zahlen müssen? Dies ist der Kern der Krise in der israelisch­en Gesellscha­ft: Ist es möglich, das Böse zu bekämpfen, ohne sich selbst der Mittel des Bösen zu bedienen? Hier haben die Geschichte­n der Bibel ihren Ursprung. Und sie sind immer noch lebendig.

Das absolute Böse

Wir, die aufgeklärt­en Geister im Westen, reduzieren die Ursachen für die von der Hamas begangenen Bestialitä­ten auf die Folgen sozioökono­mischer Entbehrung­en, auf die Nakba von 1948 oder auf die Wut über das Vorgehen der Siedler im Westjordan­land. Aber all das greift zu kurz, wenn man das Video der ermordeten Geisel Eden Yerushalmi sieht. Die 24-Jährige war am 7. Oktober vom Nova-Musik-Festival entführt worden, wo sie an der Bar gearbeitet hatte. Sie war wunderschö­n.

In dem Video ist sie es immer noch, aber abgemagert, mit einem Blick voller Erschöpfun­g und Traurigkei­t. Die israelisch­en Streitkräf­te waren auf der Spur von Eden Yerushalmi und fünf weiteren Geiseln. Doch bevor sie befreit werden konnten, wurden sie in einem unterirdis­chen Tunnel getötet. Als israelisch­e Soldaten sie fanden, stellte die Hamas ein Video ins Netz, in dem Eden einige Minuten lang zu ihrer Familie spricht. Wir tun das, weil ihr nichts weiter seid als die Nachkommen von Schweinen, lautet die implizite Botschaft der Hamas, wir schlachten euch ab und geniessen den Schmerz, den wir verursache­n.

Ich war überwältig­t, fassungslo­s, als ich sie sprechen sah und mir bewusst wurde, dass sie kürzlich wie ein Hund geschlacht­et worden war. Ich bin nicht religiös. Aber die rituelle, triumphale Feier von Tod und Hass durch die Hamas kann nur mit einem Begriff aus der Religion benannt werden. Das absolute Böse.

Ist es möglich, das Böse zu bekämpfen, ohne sich selbst der Mittel des Bösen zu bedienen?

 ?? AHMAD HASABALLAH / IMAGO ?? Yahya Sinwar war viele Jahre in Israel inhaftiert. Bild: 2022.
AHMAD HASABALLAH / IMAGO Yahya Sinwar war viele Jahre in Israel inhaftiert. Bild: 2022.

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