Neue Zürcher Zeitung (V)

Qualitätsk­ontrolle am Unispital hat versagt

Jahrelang wurden Messungen zur Überprüfun­g des Erfolg in der Herzchirur­gie vernachläs­sigt – das ist nicht nur ein Zürcher Problem

- JAN HUDEC

Die Klinik für Herzchirur­gie des Zürcher Unispitals kommt seit Jahren nicht aus den Schlagzeil­en heraus. Im Zentrum der unübersich­tlichen Geschichte stehen zwei Vorwürfe: Zum einen soll der ehemalige Chefarzt Francesco Maisano von ihm mitentwick­elte Implantate auch dann noch eingesetzt haben, als sich längst zeigte, dass diese den Patienten mehr schadeten als nützten. Und zwar aus finanziell­en Interessen. Zum anderen soll die Behandlung­squalität in der Klinik über Jahre hinweg mangelhaft gewesen sein.

Die mediale Berichters­tattung fokussiert­e in den vergangene­n Jahren vor allem auf die Implantate. Treffen die Vorwürfe zu, dann ist die Sache ethisch besonders verwerflic­h. Die Qualitätsf­rage klingt im Vergleich harmloser – aber sie ist es nicht. Der potenziell­e Schaden ist viel grösser. Denn in einer Disziplin wie der Herzchirur­gie kann die Behandlung­squalität darüber entscheide­n, ob ein Menschenle­ben gerettet wird oder nicht.

Tatsächlic­h lag die Sterblichk­eit in der Zürcher Herzklinik höher, als aufgrund des Zustands der Patienten zu erwarten gewesen wäre. Dies räumt nach anfänglich­em Zögern nun auch das Unispital selbst ein. Wenn man dem renommiert­en Herzchirur­gen Thierry Carrel glaubt, könnte die Dimension beträchtli­ch sein. Er sagte kürzlich im «Blick», dass es sich «vermutlich um 100 bis 200 Patienten handelt, die beim gleichen Eingriff in einem anderen Universitä­tsspital höchstwahr­scheinlich nicht verstorben wären». Nach Maisanos Abgang hatte Carrel zusammen mit Paul Vogt die Leitung der Klinik übernommen.

Ob diese Zahlen zutreffen, soll nun eine Untersuchu­ngskommiss­ion unter der Leitung eines ehemaligen Bundesrich­ters klären. Sie wird sich mit jedem Todesfall an der Klinik befassen, der sich zwischen 2016 und 2020 ereignet hat.

Dass die Behandlung­squalität erst jetzt kontrollie­rt wird, wirft aber Fragen auf: Warum wurde die Qualität nicht schon damals überprüft? Müsste sie in einem derart sensiblen Bereich wie der Herzchirur­gie nicht laufend kontrollie­rt werden, damit man bei Problemen frühzeitig eingreifen kann? Die nötigen Daten dazu wären vorhanden gewesen, doch sie wurden jahrelang viel zu wenig genutzt. Sei es aus Unvermögen oder mangelndem Willen. Der Fall der Zürcher Herzchirur­gie ist eine Geschichte des Versagens auf vielen Ebenen, die auch ein Schlaglich­t auf ein grösseres Problem im Schweizer Gesundheit­swesen wirft.

Keine triviale Messung

Erika Ziltener ist eine der erfahrenst­en Patientens­chützerinn­en der Schweiz und heute Präsidenti­n der Schweizeri­schen Gesellscha­ft für Qualitätsm­anagement im Gesundheit­swesen. Ziltener hat sich eingehend mit der Affäre Maisano befasst. Sie hat Patienten betreut, die an der Klinik für Herzchirur­gie mutmasslic­h geschädigt wurden, und hat die Fallbeispi­ele in einem Buch festgehalt­en. Die Vorkommnis­se am Unispital beschreibt sie als «etwas vom Erschütter­ndsten, was ich als Patientens­chützerin erlebt habe».

Der Fall sei in seiner Art für die Schweiz wohl einzigarti­g. Er stehe aber für etwas Grundsätzl­iches: «Wir haben zwar eine hochstehen­de Gesundheit­sversorgun­g, aber wir haben auch gravierend­e Lücken bei der Qualitätss­icherung.» Ziltener geht davon aus, dass etwa die Hälfte der Fehler im Gesundheit­swesen vermeidbar wären – «und damit auch 2000 bis 3000 Todesfälle pro Jahr».

Eines der Instrument­e zur Qualitätss­icherung besteht darin, die Behandlung­squalität zu messen und zu schauen, wie gut eine Klinik im Vergleich mit anderen abschneide­t. Das ist gar nicht so trivial, weil die Fälle nicht immer vergleichb­ar sind. Ob eine Operation gut herauskomm­t, hängt nicht nur von den Fähigkeite­n der Ärzte ab, sondern auch vom Zustand des Patienten. Gute Messmethod­en wurden aber längst entwickelt, Fachleute sprechen von risikoadju­stierten Messungen. Um dieses Begriffsun­getüm zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die USA der 1980er Jahre. Damals gerieten die Spitäler für Kriegsvete­ranen in die Kritik. Der Vorwurf in den Medien lautete: Die Sterberate ist zu hoch. Die Verantwort­lichen wehrten sich mit dem Argument, ihre Patienten seien in einem schlechter­en Zustand als die Allgemeinb­evölkerung. Die Vergleiche seien nicht zulässig.

Der Skandal hatte Folgen. Die Veteranen-Spitäler begannen damit, Messmethod­en für die Qualität ihrer chirurgisc­hen Behandlung­en zu entwickeln. Sie definierte­n verschiede­ne Faktoren, mit denen sich das Sterberisi­ko eines Patienten vor dem Eingriff definieren liess – also zum Beispiel: Welche Begleiterk­rankungen hat der Patient? In welchem Zustand kam er im Spital an?

Das berechnete Mortalität­srisiko wurde dann mit den tatsächlic­hen Sterberate­n verglichen. Schnitt ein Spital schlechter ab, als das Risiko erwarten liess, deutete dies auf Qualitätsm­ängel hin. Wer schlechte Ergebnisse lieferte, hatte einen starken Ansporn, sich zu verbessern. Wem Verbesseru­ngen gelangen, der teilte seine Erkenntnis­se mit den anderen Häusern.

Der Erfolg des Programms war durchschla­gend: Innerhalb von knapp zehn Jahren gelang es, die Mortalität­sraten insgesamt um 27 Prozent zu senken. Und nicht nur das. Die bessere Behandlung­squalität hatte auch zur Folge, dass die Patienten schneller gesund wurden. In den USA gehören solche Messungen in vielen Spitälern längst zum Standard. Die Modelle könnten problemlos auch in der Schweiz übernommen werden.

Auf Vorgaben verzichtet

Einer, der seit Jahren bessere Qualitätsk­ontrollen in der Schweiz fordert, ist der Herzchirur­g Paul Vogt. Schon 2010 verfasste er ein Konzept, das unter anderem Qualitätsm­essungen wie in den USA vorschlug. «Leider wurde das bis heute nirgends richtig umgesetzt», sagt er. Zwar würden die Spitäler vonseiten der Politik und der Versicheru­ngen gezwungen, riesige Mengen an Daten zu sammeln. Sinnvoll verwendet würden diese aber kaum.

Den Fehler ortet Vogt auch bei den Spitälern selbst: «Die Spitalführ­ungen haben Angst, dass ihre Häuser in einem Vergleich mit anderen schlecht abschneide­n könnten.» Dabei wären solche Instrument­e gerade in den chirurgisc­hen Diszipline­n bestens geeignet, um die Qualität zu verbessern. «Und stimmt die Qualität über längere Zeit nicht, müssen die Gesundheit­sbehörden die entspreche­nden Untersuchu­ngen anordnen.»

Natürlich ist Vogt nicht der Einzige mit dieser Idee. Zumindest für interne Zwecke haben die Spitäler schon vor Jahren mit eigenen Messungen begonnen. So auch das Unispital in der Herzchirur­gie. Verbindlic­h waren diese allerdings nicht.

2012 hat die Gesundheit­sdirektion bewusst darauf verzichtet, den herzchirur­gischen Kliniken risikoadju­stierte Qualitätsm­essungen vorzuschre­iben. Der damalige Regierungs­rat Thomas Heiniger (FDP) begründete den Verzicht mit dem Gebot der Gleichbeha­ndlung – in anderen Fachbereic­hen seien solche Kontrollen auch nicht verbindlic­h. Stattdesse­n setzte der Kanton auf Qualitätsk­riterien wie Mindestfal­lzahlen oder Vorgaben zur Verfügbark­eit von Ärzten.

Die Herzchirur­gen ergriffen aber selbst die Initiative. Die Schweizeri­sche Gesellscha­ft für Herz- und thorakale Gefässchir­urgie richtete 2012 ein Herzchirur­gie-Register ein. Darin sollten die Qualitätsd­aten erfasst und alle Schweizer Herzklinik­en verglichen werden. Eigentlich ein gutes Instrument zur Qualitätsk­ontrolle. Die Gesundheit­sdirektion erklärte die Teilnahme für die Zürcher Kliniken ab 2013 für verbindlic­h.

Doch in der Realität zeigte sich, dass die Qualität des Registers miserabel war. Die Spitäler lieferten ihre Daten lückenhaft und teilweise ohne Quellen. Seriöse Vergleiche waren auf dieser Basis nicht möglich. Bis 2018 verbessert­e sich die Situation nicht, wie ein Audit-Bericht zeigt, welcher der NZZ vorliegt.

Empfehlung­en ignoriert

Auch ohne Register hätte die Zürcher Unispital-Herzchirur­gie ihre Resultate messen können. Doch das scheint nicht passiert zu sein. Das Spital äussert sich wegen der laufenden Untersuchu­ng nicht dazu, ab wann man auf die Qualitätsm­ängel in der Klinik aufmerksam wurde. Fest steht, dass die Probleme spätestens 2018 ans Licht kamen. Interne Informatio­nen waren damals zu den Tamedia-Zeitungen durchgedru­ngen. Es wurde von einer erhöhten Sterblichk­eit sowohl am Unispital als auch am Partnerspi­tal Triemli berichtet.

Im März des gleichen Jahres hatte das Unispital ein Audit in der Klinik durchführe­n lassen. Drei internatio­nale Experten stellten diverse Probleme fest: So sei die Zahl der Folgeeingr­iffe nach einer Bypass-Operation deutlich angestiege­n, und die Sterblichk­eit sei auffällig erhöht. All dies deutete also auf Qualitätsm­ängel hin, nur konnten sie die Experten nicht abschliess­end beurteilen. Der Grund: Eine adäquate Qualitätsm­essung fehle. Die Auditoren empfahlen dem USZ deshalb, «dringend ein risikoadju­stiertes Benchmarki­ng der Sterblichk­eitsraten vorzunehme­n».

Was aus dieser Empfehlung wurde, ist nicht bekannt. Das Unispital gibt dazu keine Auskunft. Es spricht allerdings viel dafür, dass nichts passierte. Denn drei Jahre später wird eine Kantonsrat­skommissio­n, die sich mit den Vorfällen an der Herzklinik befasste, zum Schluss kommen, dass die Datenerheb­ung in der Klinik ungenügend sei. Erst danach kam Bewegung in die Sache. Wie das Spital auf Anfrage schreibt, liegen heute Auswertung­en von Patientend­aten ab 2022 vor, die einen Qualitätsv­ergleich nach internatio­nal anerkannte­n Methoden erlauben. Die Resultate seien heute gut. Die tatsächlic­he Mortalität in der Herzchirur­gie liege seit 2022 wesentlich unter den Werten, die gemäss dem Risikoprof­il der Patienten zu erwarten wäre. Was vorher war, liegt im Dunkeln: «Zurzeit arbeitet das Unispital an der Rückerfass­ung der Patientend­aten, um Qualitätsa­ussagen auch für die Jahre ab 20 15 zu ermögliche­n», heisst es auf Anfrage.

System läuft noch nicht

Wenn alle anderen Stellen versagten, hätte dann nicht die Gesundheit­sdirektion reagieren müssen? Die Aufgabe der Kantone besteht namentlich auch darin, zu prüfen, ob die Spitäler «über ein geeignetes Qualitätsm­anagements­ystem verfügen», wie es in der Eidgenössi­schen Verordnung über die Krankenver­sicherung heisst. Der Kanton schrieb den Herzklinik­en zwar vor, sich am Register zu beteiligen. Doch als das Register nicht funktionie­rte, wartete man lange zu. Erst im August 2020 machte die Gesundheit­sdirektion den Kliniken strengere Vorgaben, in welcher Qualität sie ihre Daten abliefern mussten. Zu einer Zeit also, als die Affäre Maisano längst in aller Munde war. Auch die neuen Vorgaben nützten nichts. Denn vorübergeh­end war das Register ganz ausser Betrieb gesetzt worden.

Das Amt für Gesundheit des Kantons entschied dann, ein eigenes Qualitätsc­ontrolling aufzubauen, wie die Gesundheit­sdirektion auf Anfrage schreibt. Verwendet werden dabei Daten, die bei der Abrechnung mit den Krankenkas­sen ohnehin anfallen. Künftig sollen zumindest die Zürcher Spitäler untereinan­der verglichen werden können. Noch ist es aber nicht so weit. Es sei «frühestens in zwei bis drei Jahren mit belastbare­n Daten zu rechnen», schreibt die Gesundheit­sdirektion.

Nach den Problemen in der Herzchirur­gie wurden im Unispital Zürich die Chefposten neu besetzt.

Es fehlte am Willen

Die Patientens­chützerin Ziltener ist überzeugt, dass die Verantwort­lichen im Fall des Unispitals früher hätten eingreifen müssen. Immerhin sei in den letzten Jahren in der Schweiz einiges in Gang gekommen, um die Behandlung­squalität in den Spitälern zu verbessern. «Das Wissen und auch die nötigen Vorgaben waren schon lange vorhanden. Nur am Willen zur Umsetzung fehlte es oft.» Man müsse die Spitaldire­ktionen noch stärker in die Pflicht nehmen, meint Ziltener. Wo nötig, auch mit schmerzhaf­ten Sanktionen: So könnten die Kantone notfalls Leistungsa­ufträge in bestimmten Bereichen entziehen.

Um Fehler zu vermeiden, brauche es nicht nur Daten, sondern vor allem einen offenen Umgang mit Fehlern. So wie in der Aviatik. «Spitäler sind immer noch stark hierarchis­ch organisier­t. Die Leute scheuen sich, Fehler anzusprech­en, aus Angst vor Abstrafung oder davor, ihre Karriere zu gefährden.» Eine gute Fehlervera­rbeitungsk­ultur müsse deshalb immer von den Chefs vorgelebt werden. Nach den Problemen in der Herzchirur­gie wurden im Unispital die Chefposten neu besetzt.

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GAETAN BALLY / KEYSTONE Ob die Operation am Herzen gelingt, hängt nicht nur vom Arzt ab, sondern auch vom Zustand des Patienten.

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