Wie viel Risiko verträgt die Münchner Opernschickeria?
Mit ihrer Stückauswahl an den Opernfestspielen droht die Intendanz das Stammpublikum zu verprellen
Er ist fraglos mutig. Als Intendant der Bayerischen Staatsoper mutet Serge Dorny dem Stammpublikum viel zu. Bei den Festspielen, traditionell das glanzvolle Filetstück des Hauses zum Saisonausklang, war diese Haltung besonders ausgeprägt. Als grosse Eröffnungspremiere «Le Grand Macabre» von György Ligeti zu stemmen, ist jedenfalls ein Wagnis.
In dem 1978 uraufgeführten und in den 1990er Jahren revidierten Werk schöpft Ligeti aus den Vollen: von einer Ouvertüre mit Autohupen über Sadomaso-Szenen bis hin zum lustvoll zelebrierten Weltuntergang. An der Premiere in München lichteten sich im Parkett bald die Reihen.
Mit Claude Debussys «Pelléas et Mélisande» wurde als zweite FestspielPremiere ein weiteres Schattengewächs des Repertoires realisiert. Das alles ist durchaus konsequent, weil es zu einer Spielzeit passt, die für Münchner Verhältnisse generell recht gewagt war – und auch bewegt hat.
Ein schaler Nachgeschmack
Über Monate wurde spekuliert, ob die Verträge von Dorny und dem General-Musikdirektor (GMD) Vladimir Jurowski verlängert würden. Erst Mitte Juni, knapp zwei Wochen vor dem Start der Opernfestspiele, wurde verkündet: Dorny bleibt bis 2031 und Jurowski, laut dem bayrischen Kunstministerium auf eigenen Wunsch, bis 2028 – mit Option auf ein weiteres Jahr bis 2029.
Was folgte, waren Opernfestspiele, die die Stärken und Schwächen des derzeitigen Führungsduos offenlegten. Da ist ein Intendant, der bei den Neuproduktionen den Fokus mehrheitlich abseits des Kernrepertoires verlegt. Warum jetzt überdies ausgerechnet Debussys Oper eine Neuinszenierung erfahren hat, erschliesst sich nicht wirklich. Die letzte Neuproduktion dieses Fünfakters von 1902 wurde erst vor neun Jahren realisiert. An der Bayerischen Staatsoper gibt es Werke, überdies aus dem Hauptrepertoire, die seit Jahrzehnten einer Neubefragung harren.
Dass zudem der Staatsopern-GMD Jurowski weder die Ligeti-Eröffnung noch die jetzige Debussy-Premiere dirigierte, hinterlässt einen schalen Nachgeschmack; zumindest eine Opernpremiere im Rahmen der Festspiele sollte Chefsache sein. Mit seiner Vorliebe für die Moderne wäre das Werk Ligetis für Jurowski perfekt gewesen.
Dafür waren bei Ligeti mit Kent Nagano sowie mit Hannu Lintu bei Debussy zwei Dirigenten zu erleben, die den jeweiligen Partituren mit dem Bayerischen Staatsorchester eigene, hörenswerte Zugänge abgerungen haben.
So wurde in Ligetis Oper unter Nagano kein Effekt grell überzeichnet. Selbst die skurrilsten Klanglichkeiten waren Teil eines glasklar sezierten Gesamtzusammenhangs, geradezu perfekt die dynamische Balance.
Tödliche Eifersucht
Dagegen bildete bei Debussy die zupackende Leitung von Lintu einen Kontrapunkt zur Inszenierung von Jetske Mijnssen. Die Niederländerin setzt eher auf szenische Reduktion, um gleichzeitig dem symbolistischen Seelendrama einen realistischen Raum zu schenken.
Hierfür hat der Ausstatter Ben Baur eine Guckkasten-Bühne entworfen, umrahmt von Neonröhren. An der Rampe plätschert Wasser, sonst aber ist das Schloss Allemonde stets präsent: auch in den Szenen, die eigentlich im Wald oder in einer Felsgrotte spielen.
Es ist eine Familienaufstellung, in der tödliche Eifersucht zu schwelen beginnt, die Mijnssen konzis entwirft. Im Zentrum steht Golaud, und wie Christian Gerhaher diesen Charakter zeichnet, das geht unter die Haut. Bei Gerhaher schwelen von Beginn an Zwanghaftigkeit und Jähzorn. Darunter leidet seine Frau, nämlich die von Sabine Devieilhe klangsinnlich vorgetragene Mélisande. Im von Ben Bliss dargestellten Pelléas, dem Halbbruder Golauds, erkennt sie einen Seelenverwandten. Eine Liebe entwickelt sich, die von Golaud getötet wird.
Niemand kann das Drama aufhalten, auch nicht der von Franz-Josef Selig einnehmend gestaltete, gutmütige König Arkel oder die Geneviève von Sophie Koch. In Ligetis «Grand Macabre» war es hingegen die Leitung Naganos, die der grellen Bebilderungsregie von Krzysztof Warlikowski einen wohltuenden Kontrapunkt abgerungen hat. Der Stoff geht auf die «Ballade du Grand Macabre» von 1936 von Michael de Ghelderode zurück. In ihr verarbeitet der flämische Dramatiker des Absurden letztlich auch den damaligen Aufstieg der Faschisten und Nazis in Europa.
Im Zentrum steht der Sensenmann Nekrozar, der den Untergang von Breughelland und der Welt prophezeit und vorbereitet. Für eine aktuelle Sicht wäre allein dies eine Steilvorlage, aber: Warlikowski und seine Ausstatterin Małgorzata Szczęśniak deuten nicht. Immerhin findet sich die Bevölkerung von Breughelland bald in einem riesigen Hochsicherheitstrakt samt Stacheldraht wieder: der Staat als Gefängnis.
Dieser gute Einfall wird leider nicht durchgeführt.
Stattdessen thront die punktuelle Überzeichnung, wobei der überragende Nekrozar von Michael Nagy am Ende im Rollstuhl sitzt: im Nacktkostüm samt Gummipenis. Sonst aber herrscht in diesem Breughelland der Fürst GoGo von John Holiday, unterstützt von Sarah Aristidou als Chef der Geheimen Politischen Polizei und verheissungsvolle Venus. Als Hofastrologe Astradamors wird Sam Carl von seiner Frau Mescalina, Lindsay Ammann, in Sadomaso-Klamotten ausgepeitscht, bis sie von Nekrozar totgebissen wird.
Zum Pferd umfunktioniert
Zuvor wird Benjamin Bruns als philosophierender Totengräber Piet vom Fass vom Weltvernichter zum Pferd umfunktioniert. Das alles wird durchwegs stupend gesungen und gespielt, und so markierten die Münchner Opernfestspiele rein künstlerisch insgesamt einen lohnenden Saisonausklang. Gleichzeitig zeigte sich aber auch, dass die Kontroversen rund um die Staatsopern-Leitung fortbestehen werden. Mit ihrer risikoreichen Stückauswahl droht die Intendanz weite Teile des Stammpublikums zu verprellen. Es bleibt spannend in München – und spannungsreich.