Fontane und Kant – aber ganz einfach
Auch das kann künstliche Intelligenz: Weltliteratur in einfache Sprache übersetzen. Ein Verlag löst einen Kulturkampf aus
Bleibt Kant auch dann noch Kant, wenn man ihn kaum wiedererkennt? Der Essay des Philosophen zur Frage «Was ist Aufklärung?» beginnt mit den berühmten Sätzen: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.»
In einfacher, von künstlicher Intelligenz generierter Sprache klingt das so: «Unmündigkeit heisst abhängig.
Hier heisst es: Wir denken nicht selber. Unsere Gedanken sind die von anderen. Oft haben wir nicht den Mut zum Selberdenken. Daran sind wir selbst schuld. Wir sind deshalb nicht dumm. Aber wir sind ein bisschen feige und unentschlossen. Das Motto der Aufklärung heisst: ‹Trau dich! Denk’ selber nach!›»
Reduktion auf Beschrieb
«Trau dich!» ist offenbar auch das Motto eines kleinen, im deutschen Rösrath beheimateten Verlags namens Aibo, kurz für Artificial Intelligence Books. Erst im April gegründet, hat er schon jetzt einen Kulturkampf ausgelöst. Die «FAZ» wetterte gegen die Verlagsidee, Klassiker der deutschen Literatur und des deutschen Denkens leichter lesbar zu machen. Das sei die Herabwürdigung einer zentralen intellektuellen Leistung, weil es eben nicht nur auf den reinen Inhalt ankomme, sondern auch auf die Form. Was die Verleger da treiben, sei der Versuch, «ihr Publikum so dumm zu machen wie sie selbst». Die ehrenwerte Londoner «Times» hat sich der Sache vor ein paar Tagen leicht amüsiert angenommen. Der Text des Deutschlandkorrespondenten klingt, als wollte er sagen: Diese Probleme möchte man haben!
Ganz einfach ist es mit der einfachen Sprache nicht. Gerade einmal zwei Bücher hat der Aibo-Verlag bisher auf den Markt gebracht. Das eine enthält drei wichtige Traktate Immanuel Kants, das andere ist Theodor Fontanes Roman «Effi Briest». Mit einem Chat-GPT-Tool werden die Originaltexte bearbeitet und in eine Form gebracht, für die es sogar eigene deutsche DIN-Normen gibt.
DIN ISO 24 495-1 und DIN 8581-1 sollen Richtlinien für das Verfassen von leicht verständlichen Texten liefern. Es ist erhellend, das Original von «Effi Briest» mit dem DIN-Norm-gerechten und von Chat-GPT generierten Fontane gegenzulesen. Von Literatur bleibt dabei kaum noch etwas übrig.
Das Szenische-Bewegte des Romanbeginns, in dem das Herrenhaus der Familie Briest im mittäglichen Sonnenschein beschrieben ist, wird durch die banale Aufzählung sichtbarer Dinge ersetzt, die klingt wie die Beschreibung eines Bühnenbildes: «Die Sonne schien auf das alte Haus der Familie von Briest in Hohen-Cremmen. Es war Mittag. Auf der Dorfstrasse war es ganz still. Ein Teil des Hauses warf einen Schatten. Der Schatten fiel auf einen Weg mit weissen und grünen Fliesen und auf einen runden Platz. In der Mitte des Platzes stand eine Sonnenuhr. Am Rand wuchsen Rhabarber und andere Pflanzen.»
Fontane ist es nicht, aber was ist es dann? Grosszügig setzt sich Chat-GPT über atmosphärische Feinheiten des Originals hinweg, streicht Begriffe, in denen der Geist aus Fontanes 19. Jahrhundert wohnt, und lässt sich auf Metaphern gar nicht erst ein. Doppelsinn ist Gift für die künstliche Intelligenz. Hier finden sich im Buch höchst fehlerhafte Resultate, auch wenn es bei Aibo heisst, dass die digitale Arbeit immer nachkontrolliert werde.
Die DIN-Norm-«Effi Briest» ist reine Handlung, und laut Auskunft des Verlags soll das auch so sein. Menschen mit Sprach- und Leseschwierigkeiten könnten so am deutschen «Allgemeinbildungskanon» teilhaben, sagt Andreas Stobbe, einer der Aibo-Gründer, auf Anfrage der NZZ.
Stobbe kommt aus der Digitalbranche und war seit 1996 mit einer Internetagentur erfolgreich, die er im heurigen Frühjahr verkaufte. Jetzt also Bücher. Über den originalen Fontane kann Stobbe genauso kluge Dinge sagen wie über ein Zielpublikum, das bis jetzt kaum im Fokus von Literaturproduzenten steht.
Das Literaturhaus Frankfurt hat einen eigenen Schwerpunkt Einfache Sprache. Unter dem schlichten Titel «Lies!» sind zwei Bücher mit Texten deutscher Autorinnen und Autoren erschienen. Die Texte sind eigens für Leser mit kognitiven Beeinträchtigungen geschrieben. Olga Grjasnowa, Kristof Magnusson, Arno Geiger, Sasha Marianna Salzmann, Nora Bossong und viele andere versuchen hier, ihre Idee von Literatur in kurze Sätze und leicht verständliche Geschichten zu packen.
Es ist ein reizvolles Unternehmen, das zusätzlich auch dem versierten Leser die Möglichkeit liefert, eigene Lesegewohnheiten zu überprüfen. Während die Texte in «Lies!» etwas ganz Essenzielles haben, dampft die KI ihren Fontane auf etwas ein, was sie mit Essenz verwechselt. Was in der neuen «Effi Briest» steht, ist nicht das, was Fontane sagen wollte. Er habe den Roman «wie mit einem Psychographen» geschrieben, notiert der deutsche Schriftsteller im Frühjahr 1895. Von dieser Seelenkunde versteht die künstliche Intelligenz naturgemäss so gut wie nichts.
Geweint wie beim Original
Projekte wie das des Aibo-Verlags haben sich der Barrierefreiheit verschrieben, und das ist im Grunde ein höchst achtbares Unterfangen. Gleichzeitig hat man sich die Latte selbst nicht allzu hoch gelegt. Im Verlagsprogramm sind für die nächste Zeit nur Bücher von Autoren eingeplant, deren Werke nicht mehr urheberrechtlich geschützt sind, also kostenfrei vermarktet werden können.
Mit KI ist die Verwandlung in einfache Sprache ein Ruckzuckverfahren. Spannend bleiben die Projekte jedenfalls. Was wird aus dem für demnächst eingeplanten «Werther», wenn man ihn seines sprachpsychologischen Mehrwerts beraubt? Was wird aus den Märchen der Brüder Grimm und den Erzählungen Edgar Allan Poes, die ebenfalls auf der Liste stehen?
An Gedichte Gottfried Benns oder an Prosa von Thomas Bernhard würde er sich nicht heranwagen, meint Andreas Stobbe: «Da versagt das Modell der einfachen Sprache.» Ausgerechnet am Allergrössten soll sich die KI des AiboVerlags aber doch versuchen. Franz Kafkas «Verwandlung» steht auch auf der Liste künftiger Publikationen. Das Werk, das nichts als Sprache ist und bei dem man befürchten muss, dass es zu Staub zerfällt, wenn man es nur von der Handlung her liest.
Der bisherige Digitalunternehmer Stobbe ist von seiner Mission überzeugt. Er sagt, er habe am Ende der Chat-GPTtransformierten «Effi Briest» genauso geweint wie beim Original.