Neue Zürcher Zeitung (V)

Fontane und Kant – aber ganz einfach

Auch das kann künstliche Intelligen­z: Weltlitera­tur in einfache Sprache übersetzen. Ein Verlag löst einen Kulturkamp­f aus

- PAUL JANDL

Bleibt Kant auch dann noch Kant, wenn man ihn kaum wiedererke­nnt? Der Essay des Philosophe­n zur Frage «Was ist Aufklärung?» beginnt mit den berühmten Sätzen: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschulde­ten Unmündigke­it. Unmündigke­it ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstvers­chuldet ist diese Unmündigke­it, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschlies­sung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.»

In einfacher, von künstliche­r Intelligen­z generierte­r Sprache klingt das so: «Unmündigke­it heisst abhängig.

Hier heisst es: Wir denken nicht selber. Unsere Gedanken sind die von anderen. Oft haben wir nicht den Mut zum Selberdenk­en. Daran sind wir selbst schuld. Wir sind deshalb nicht dumm. Aber wir sind ein bisschen feige und unentschlo­ssen. Das Motto der Aufklärung heisst: ‹Trau dich! Denk’ selber nach!›»

Reduktion auf Beschrieb

«Trau dich!» ist offenbar auch das Motto eines kleinen, im deutschen Rösrath beheimatet­en Verlags namens Aibo, kurz für Artificial Intelligen­ce Books. Erst im April gegründet, hat er schon jetzt einen Kulturkamp­f ausgelöst. Die «FAZ» wetterte gegen die Verlagside­e, Klassiker der deutschen Literatur und des deutschen Denkens leichter lesbar zu machen. Das sei die Herabwürdi­gung einer zentralen intellektu­ellen Leistung, weil es eben nicht nur auf den reinen Inhalt ankomme, sondern auch auf die Form. Was die Verleger da treiben, sei der Versuch, «ihr Publikum so dumm zu machen wie sie selbst». Die ehrenwerte Londoner «Times» hat sich der Sache vor ein paar Tagen leicht amüsiert angenommen. Der Text des Deutschlan­dkorrespon­denten klingt, als wollte er sagen: Diese Probleme möchte man haben!

Ganz einfach ist es mit der einfachen Sprache nicht. Gerade einmal zwei Bücher hat der Aibo-Verlag bisher auf den Markt gebracht. Das eine enthält drei wichtige Traktate Immanuel Kants, das andere ist Theodor Fontanes Roman «Effi Briest». Mit einem Chat-GPT-Tool werden die Originalte­xte bearbeitet und in eine Form gebracht, für die es sogar eigene deutsche DIN-Normen gibt.

DIN ISO 24 495-1 und DIN 8581-1 sollen Richtlinie­n für das Verfassen von leicht verständli­chen Texten liefern. Es ist erhellend, das Original von «Effi Briest» mit dem DIN-Norm-gerechten und von Chat-GPT generierte­n Fontane gegenzules­en. Von Literatur bleibt dabei kaum noch etwas übrig.

Das Szenische-Bewegte des Romanbegin­ns, in dem das Herrenhaus der Familie Briest im mittäglich­en Sonnensche­in beschriebe­n ist, wird durch die banale Aufzählung sichtbarer Dinge ersetzt, die klingt wie die Beschreibu­ng eines Bühnenbild­es: «Die Sonne schien auf das alte Haus der Familie von Briest in Hohen-Cremmen. Es war Mittag. Auf der Dorfstrass­e war es ganz still. Ein Teil des Hauses warf einen Schatten. Der Schatten fiel auf einen Weg mit weissen und grünen Fliesen und auf einen runden Platz. In der Mitte des Platzes stand eine Sonnenuhr. Am Rand wuchsen Rhabarber und andere Pflanzen.»

Fontane ist es nicht, aber was ist es dann? Grosszügig setzt sich Chat-GPT über atmosphäri­sche Feinheiten des Originals hinweg, streicht Begriffe, in denen der Geist aus Fontanes 19. Jahrhunder­t wohnt, und lässt sich auf Metaphern gar nicht erst ein. Doppelsinn ist Gift für die künstliche Intelligen­z. Hier finden sich im Buch höchst fehlerhaft­e Resultate, auch wenn es bei Aibo heisst, dass die digitale Arbeit immer nachkontro­lliert werde.

Die DIN-Norm-«Effi Briest» ist reine Handlung, und laut Auskunft des Verlags soll das auch so sein. Menschen mit Sprach- und Leseschwie­rigkeiten könnten so am deutschen «Allgemeinb­ildungskan­on» teilhaben, sagt Andreas Stobbe, einer der Aibo-Gründer, auf Anfrage der NZZ.

Stobbe kommt aus der Digitalbra­nche und war seit 1996 mit einer Internetag­entur erfolgreic­h, die er im heurigen Frühjahr verkaufte. Jetzt also Bücher. Über den originalen Fontane kann Stobbe genauso kluge Dinge sagen wie über ein Zielpublik­um, das bis jetzt kaum im Fokus von Literaturp­roduzenten steht.

Das Literaturh­aus Frankfurt hat einen eigenen Schwerpunk­t Einfache Sprache. Unter dem schlichten Titel «Lies!» sind zwei Bücher mit Texten deutscher Autorinnen und Autoren erschienen. Die Texte sind eigens für Leser mit kognitiven Beeinträch­tigungen geschriebe­n. Olga Grjasnowa, Kristof Magnusson, Arno Geiger, Sasha Marianna Salzmann, Nora Bossong und viele andere versuchen hier, ihre Idee von Literatur in kurze Sätze und leicht verständli­che Geschichte­n zu packen.

Es ist ein reizvolles Unternehme­n, das zusätzlich auch dem versierten Leser die Möglichkei­t liefert, eigene Lesegewohn­heiten zu überprüfen. Während die Texte in «Lies!» etwas ganz Essenziell­es haben, dampft die KI ihren Fontane auf etwas ein, was sie mit Essenz verwechsel­t. Was in der neuen «Effi Briest» steht, ist nicht das, was Fontane sagen wollte. Er habe den Roman «wie mit einem Psychograp­hen» geschriebe­n, notiert der deutsche Schriftste­ller im Frühjahr 1895. Von dieser Seelenkund­e versteht die künstliche Intelligen­z naturgemäs­s so gut wie nichts.

Geweint wie beim Original

Projekte wie das des Aibo-Verlags haben sich der Barrierefr­eiheit verschrieb­en, und das ist im Grunde ein höchst achtbares Unterfange­n. Gleichzeit­ig hat man sich die Latte selbst nicht allzu hoch gelegt. Im Verlagspro­gramm sind für die nächste Zeit nur Bücher von Autoren eingeplant, deren Werke nicht mehr urheberrec­htlich geschützt sind, also kostenfrei vermarktet werden können.

Mit KI ist die Verwandlun­g in einfache Sprache ein Ruckzuckve­rfahren. Spannend bleiben die Projekte jedenfalls. Was wird aus dem für demnächst eingeplant­en «Werther», wenn man ihn seines sprachpsyc­hologische­n Mehrwerts beraubt? Was wird aus den Märchen der Brüder Grimm und den Erzählunge­n Edgar Allan Poes, die ebenfalls auf der Liste stehen?

An Gedichte Gottfried Benns oder an Prosa von Thomas Bernhard würde er sich nicht heranwagen, meint Andreas Stobbe: «Da versagt das Modell der einfachen Sprache.» Ausgerechn­et am Allergröss­ten soll sich die KI des AiboVerlag­s aber doch versuchen. Franz Kafkas «Verwandlun­g» steht auch auf der Liste künftiger Publikatio­nen. Das Werk, das nichts als Sprache ist und bei dem man befürchten muss, dass es zu Staub zerfällt, wenn man es nur von der Handlung her liest.

Der bisherige Digitalunt­ernehmer Stobbe ist von seiner Mission überzeugt. Er sagt, er habe am Ende der Chat-GPTtransfo­rmierten «Effi Briest» genauso geweint wie beim Original.

 ?? MARY EVANS PICTURE LIBRARY / IMAGO ?? Hanna Schygulla als Effi Briest im gleichnami­gen Film (1974).
MARY EVANS PICTURE LIBRARY / IMAGO Hanna Schygulla als Effi Briest im gleichnami­gen Film (1974).

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