Neue Zürcher Zeitung (V)

Schweizer Komponente­n in russischen Waffen

Moskaus Marschflug­körper enthalten offenbar Teile des Schweizer Hersteller­s STMicroele­ctronics – der Fall zeigt die Problemati­k von Dual-Use-Gütern

- PHILIPP WOLF

Am Montag hat Russland heftige Luftangrif­fe gegen Ziele in der Ukraine verübt. Beim Angriff auf ein Kinderspit­al in Kiew kamen zwei Erwachsene ums Leben. In den Trümmern fanden sich Teile der Waffe: eines Marschflug­körpers des Typs Ch-101. Nach früheren Angriffen identifizi­erten ukrainisch­e Spezialist­en gemäss der «Financial Times» sechzehn Elektronik­teile westlicher Herkunft in den Überresten des Ch-101. Zwei der Komponente­n stammen von STMicroele­ctronics, einem Halbleiter­produzente­n mit Sitz in Genf.

Der Ch-101 ist einer der modernsten russischen Marschflug­körper. Zurzeit werden fast achtmal mehr Ch-101 produziert als noch vor Russlands Invasion in der Ukraine. Wie kommen Komponente­n von einem Schweizer Unternehme­n in diese Waffe? STMicroele­ctronics stellt elektronis­che Bauteile wie Computerch­ips oder integriert­e Schaltkrei­se her, gemäss der Website des Unternehme­ns für Alltagsgeg­enstände wie Autos, Waschmasch­inen, Handys oder elektrisch­e Zahnbürste­n. Die Chips sind für den zivilen Gebrauch vorgesehen.

Doch Chips wie jene von STMicroele­ctronics können zweckentfr­emdet werden. Sie sind sogenannte Dual-UseGüter: Sie können sowohl für zivile als auch für militärisc­he Zwecke eingesetzt werden. Die westlichen Exportkont­rollen und Sanktionen gegen Russland versuchen zwar, zu verhindern, dass Güter nach Russland gelangen, die für militärisc­he Zwecke missbrauch­t werden könnten. Doch in der Realität ist dies schwierig umzusetzen.

Nicht mehr in Russland tätig

Stefan Brupbacher ist Direktor des Schweizer Verbands der Schweizer Tech-Industrie (Swissmem). Er sagt auf Anfrage, Schweizer Firmen und das Seco überprüfte­n genau, dass die Exportkont­rollen für Güter, die in der Schweiz produziert werden, umgesetzt würden. Swissmem bietet seinen Mitgliedfi­rmen diesbezügl­ich Beratung und Schulungen an. Im Bereich der Dual-Use-Güter seien die Firmen sehr vorsichtig, und die Umsetzung der Sanktionen häufig schwierig. Weder Hersteller noch Behörden könnten kontrollie­ren, was mit Gütern passiere, die im Ausland produziert und an Drittstaat­en geliefert würden. Diese könnten Güter an Russland weiterverk­aufen.

STMicroele­ctronics ist ein europäisch­es Unternehme­n mit Sitz in der Schweiz. Produziert wird unter anderem in Malaysia, auf den Philippine­n oder in China. Angesproch­en auf STMicroele­ctronics, sagt Brupbacher: «Zu Einzelfäll­en können wir keine Stellung nehmen.»

Das Unternehme­n selbst sagt auf Anfrage, man befolge die Massnahmen der EU, der USA und anderer Länder gegen Russland und Weissrussl­and. Dazu habe man beispielsw­eise die Compliance-Anforderun­gen für alle Verkaufska­näle verstärkt und sei wachsam, was «die Umgehung der Sanktionen und Umleitunge­n von Lieferunge­n» angehe. Weiter habe man auch noch zusätzlich­e Massnahmen eingeführt zur Überprüfun­g der Endnutzer. In Russland und Weissrussl­and sei STMicroele­ctronics nicht mehr aktiv.

Chips aus Kühlschrän­ken

Darüber, wie Russland an Chips von STMicroele­ctronics gekommen ist, lässt sich nur mutmassen. Im ersten Kriegsjahr etwa hatten Armenien und Kasachstan plötzlich die Importe von Waschmasch­inen und Kühlschrän­ken deutlich erhöht. In solchen Geräten finden sich Computerch­ips. Beide Länder sind mit Russland in einer Zollunion verbunden. Experten vermuten, dass zumindest einzelne Bauteile beim russischen Militär landeten.

Während die Ukrainer in den Überresten des Ch-101 sechzehn westliche Komponente­n fanden, gehen sie davon aus, dass ein intakter Marschflug­körper über fünfzig ausländisc­he Teile enthalten kann. So steht der Ch-101 symptomati­sch dafür, wie schwierig es ist, dem russischen Militär westliche Technologi­e vorzuentha­lten.

Im vergangene­n Dezember veröffentl­iche die ukrainisch­e Antikorrup­tionsbehör­de eine Datenbank, die Tausende ausländisc­he Komponente­n aufführt, die bis anhin in russischen Waffen gefunden wurden. Solange der Krieg zwischen Russland und der Ukraine weitergeht, wird auch die Liste unweigerli­ch weiter wachsen.

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