Die Kernfrage der Neutralitätsdebatte
In der schweizerischen Debatte um das Neutralitätsrecht geht es allein um die Frage, ob die Schweiz hier und jetzt angesichts des offenen Angriffskrieges Russlands, der krassen Verletzungen des Kriegsvölkerrechts, des Völkerstrafrechts und der Menschenrechte durch den Aggressor an das Neutralitätsrecht gebunden ist oder nicht. Es geht nicht um die allgemeine und umstrittene Frage, ob die aus der Zeit gefallenen Haager Konventionen V. und XIII. von 1907 noch in Kraft sind, oder ob das völkerrechtliche Institut der Neutralität noch besteht. Ebenso wenig geht es um eine stille Beseitigung der Neutralität unseres Landes, wie Martin Dahinden in seinem Gastkommentar «Umerzähltes Neutralitätsrecht» (NZZ 8. 7. 24) schreibt.
Heute geht es um die Kernfrage, ob die Gleichbehandlung der Kriegsparteien gemäss Art. 9 der V. Haager Konvention vor dem Recht der Vereinten Nationen, dem Gewaltverbot von Art. 2 Abs. 4, dem Recht auf kollektive Selbstverteidigung gemäss Art. 51 und dem Vorrang des Uno-Rechts gemäss Art. 103 der Uno-Charta vom 26. Juni 1945 standhält oder nicht zur Anwendung kommt.
Das Gewaltverbot berechtigt die Ukraine zur Selbstverteidigung. Es berechtigt andere Staaten zur kollektiven Selbstverteidigung gegenüber Russland. Diese Rechte sind nicht von einem Beschluss der Uno nach Kapitel VII der Charta abhängig, sondern sie können gemäss Art. 51 der Charta von jedem Mitgliedstaat der Uno selbständig angerufen und angewendet werden, solange keine Beschlüsse und Verpflichtungen nach Kapitel VII der Charta vorliegen.
Die Schweiz ist seit 2002 Mitglied der Uno. Sie beteiligt sich aus eigener Entscheidung an der kollektiven Selbstverteidigung zugunsten der Ukraine, die wesentlich von den Nato-Staaten und der EU getragen wird. Sie trägt die wirtschaftlichen Sanktionen gegenüber Russland mit. Sie leistet humanitäre Hilfe und hat Flüchtende aus der Ukraine grosszügig aufgenommen. Sie organisierte die Konferenzen von Lugano und auf dem Bürgenstock.
Jeder Staat entscheidet selbständig, wie weit er gehen will und kann. Das Gewaltverbot und die kollektive Selbstverteidigung implizieren und verlangen dabei, dass Russland als Angreifer nicht begünstigt und unterstützt wird, weder direkt noch indirekt. Die vom Bundesrat gestützt auf die V. Haager Konvention von 1907 praktizierte Gleichbehandlung von Russland und der Ukraine beim Kriegsmaterial steht im Widerspruch zum fundamentalen Grundsatz der kollektiven Selbstverteidigung. Mit dem allgemeinen Verbot von Kriegsmateriallieferungen wird Russland de facto indirekt unterstützt und die Ukraine geschwächt.
Die Gleichbehandlung steht hier mit dem Gewaltverbot und dem Grundsatz der kollektiven Selbstverteidigung im Konflikt. Das lässt sich nicht ernsthaft bestreiten. Gemäss Uno-Charta geht in solchen Fällen das Uno-Recht vor. Die Gleichbehandlung kommt nicht zur Anwendung, zumal der Schweiz anlässlich des Beitritts zur Uno kein Vorbehalt zugunsten der Neutralität zugestanden wurde. Die Schweiz kann sich somit auch nicht auf ein ohnehin fragliches Gewohnheitsrecht berufen.
Die Schweiz ist völkerrechtlich berechtigt und menschenrechtlich verpflichtet, die Weitergabe von bereits verkauftem Kriegsmaterial durch Nato-Staaten an die Ukraine zu erlauben, zumal das Neutralitätsrecht der beiden Haager Konventionen diesen Tatbestand gar nicht erfasst. Sie kann völkerrechtlich gemäss Art. 7 der V. Haager Konvention auch direkt die Ausfuhr von Kriegsmaterial an die Ukraine zu deren Verteidigung und zum Schutze der Zivilbevölkerung namentlich gegen massive Luftangriffe bewilligen.
Wer sich der Kernfrage des Neutralitätsrechts nicht stellt und wer den Vorrang des Uno-Rechts verneint, kann nicht in Anspruch nehmen, die internationale Ordnung, die Freiheit der Ukraine, die Sicherheit Europas und damit auch die Sicherheit, die Grundwerte und die aussenpolitischen Ziele der Schweiz zu verteidigen, wie es die Präambel der Bundesverfassung zum Ausdruck bringt und in Art. 54 Abs. 2 verbindlich festhält.