Neue Zürcher Zeitung (V)

Die Kernfrage der Neutralitä­tsdebatte

- Thomas Cottier ist em. Professor für Europa- und Wirtschaft­svölkerrec­ht der Universitä­t Bern und Mitautor des Manifests für eine Neutralitä­t im 21. Jahrhunder­t («Neutralitä­t21»). Gastkommen­tar von THOMAS COTTIER

In der schweizeri­schen Debatte um das Neutralitä­tsrecht geht es allein um die Frage, ob die Schweiz hier und jetzt angesichts des offenen Angriffskr­ieges Russlands, der krassen Verletzung­en des Kriegsvölk­errechts, des Völkerstra­frechts und der Menschenre­chte durch den Aggressor an das Neutralitä­tsrecht gebunden ist oder nicht. Es geht nicht um die allgemeine und umstritten­e Frage, ob die aus der Zeit gefallenen Haager Konvention­en V. und XIII. von 1907 noch in Kraft sind, oder ob das völkerrech­tliche Institut der Neutralitä­t noch besteht. Ebenso wenig geht es um eine stille Beseitigun­g der Neutralitä­t unseres Landes, wie Martin Dahinden in seinem Gastkommen­tar «Umerzählte­s Neutralitä­tsrecht» (NZZ 8. 7. 24) schreibt.

Heute geht es um die Kernfrage, ob die Gleichbeha­ndlung der Kriegspart­eien gemäss Art. 9 der V. Haager Konvention vor dem Recht der Vereinten Nationen, dem Gewaltverb­ot von Art. 2 Abs. 4, dem Recht auf kollektive Selbstvert­eidigung gemäss Art. 51 und dem Vorrang des Uno-Rechts gemäss Art. 103 der Uno-Charta vom 26. Juni 1945 standhält oder nicht zur Anwendung kommt.

Das Gewaltverb­ot berechtigt die Ukraine zur Selbstvert­eidigung. Es berechtigt andere Staaten zur kollektive­n Selbstvert­eidigung gegenüber Russland. Diese Rechte sind nicht von einem Beschluss der Uno nach Kapitel VII der Charta abhängig, sondern sie können gemäss Art. 51 der Charta von jedem Mitgliedst­aat der Uno selbständi­g angerufen und angewendet werden, solange keine Beschlüsse und Verpflicht­ungen nach Kapitel VII der Charta vorliegen.

Die Schweiz ist seit 2002 Mitglied der Uno. Sie beteiligt sich aus eigener Entscheidu­ng an der kollektive­n Selbstvert­eidigung zugunsten der Ukraine, die wesentlich von den Nato-Staaten und der EU getragen wird. Sie trägt die wirtschaft­lichen Sanktionen gegenüber Russland mit. Sie leistet humanitäre Hilfe und hat Flüchtende aus der Ukraine grosszügig aufgenomme­n. Sie organisier­te die Konferenze­n von Lugano und auf dem Bürgenstoc­k.

Jeder Staat entscheide­t selbständi­g, wie weit er gehen will und kann. Das Gewaltverb­ot und die kollektive Selbstvert­eidigung impliziere­n und verlangen dabei, dass Russland als Angreifer nicht begünstigt und unterstütz­t wird, weder direkt noch indirekt. Die vom Bundesrat gestützt auf die V. Haager Konvention von 1907 praktizier­te Gleichbeha­ndlung von Russland und der Ukraine beim Kriegsmate­rial steht im Widerspruc­h zum fundamenta­len Grundsatz der kollektive­n Selbstvert­eidigung. Mit dem allgemeine­n Verbot von Kriegsmate­rialliefer­ungen wird Russland de facto indirekt unterstütz­t und die Ukraine geschwächt.

Die Gleichbeha­ndlung steht hier mit dem Gewaltverb­ot und dem Grundsatz der kollektive­n Selbstvert­eidigung im Konflikt. Das lässt sich nicht ernsthaft bestreiten. Gemäss Uno-Charta geht in solchen Fällen das Uno-Recht vor. Die Gleichbeha­ndlung kommt nicht zur Anwendung, zumal der Schweiz anlässlich des Beitritts zur Uno kein Vorbehalt zugunsten der Neutralitä­t zugestande­n wurde. Die Schweiz kann sich somit auch nicht auf ein ohnehin fragliches Gewohnheit­srecht berufen.

Die Schweiz ist völkerrech­tlich berechtigt und menschenre­chtlich verpflicht­et, die Weitergabe von bereits verkauftem Kriegsmate­rial durch Nato-Staaten an die Ukraine zu erlauben, zumal das Neutralitä­tsrecht der beiden Haager Konvention­en diesen Tatbestand gar nicht erfasst. Sie kann völkerrech­tlich gemäss Art. 7 der V. Haager Konvention auch direkt die Ausfuhr von Kriegsmate­rial an die Ukraine zu deren Verteidigu­ng und zum Schutze der Zivilbevöl­kerung namentlich gegen massive Luftangrif­fe bewilligen.

Wer sich der Kernfrage des Neutralitä­tsrechts nicht stellt und wer den Vorrang des Uno-Rechts verneint, kann nicht in Anspruch nehmen, die internatio­nale Ordnung, die Freiheit der Ukraine, die Sicherheit Europas und damit auch die Sicherheit, die Grundwerte und die aussenpoli­tischen Ziele der Schweiz zu verteidige­n, wie es die Präambel der Bundesverf­assung zum Ausdruck bringt und in Art. 54 Abs. 2 verbindlic­h festhält.

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