Wie verlässlich ist die Gefahrenkarte?
Ein Murgang hat im Weiler Sorte im Misoxtal zwei Menschen das Leben gekostet – Experten sahen das Risiko nicht voraus
Rot signalisiert Gefahr. Das gilt nicht nur für Absperrungen und Stoppschilder, sondern auch für die sogenannte Gefahrenkarte. Ist ein Gebiet auf dieser Karte rot markiert, heisst das: Hier könnte eine Gerölllawine herunterdonnern, eine Lawine heranrollen, ein Berg abrutschen, ein Fluss über die Ufer treten. Die rote Farbe soll warnen, dass hier Brücken einstürzen, Häuser beschädigt werden, Menschen umkommen könnten.
In den vergangenen Wochen, in denen Starkregenfälle im Süden der Schweiz zahlreiche Murgänge und Hochwasser ausgelöst haben, werden wohl vermehrt Menschen einen Blick auf die Gefahrenkarte geworfen haben. Vielleicht haben sie erleichtert aufgeatmet, wenn sie festgestellt haben, dass ihr Haus ausserhalb der rot markierten Gebiete liegt. Und sich gleichzeitig gefragt: Kann ich mich auf diese Aussage verlassen?
Ende Juni hat eine Gerölllawine den Weiler Sorte bei Lostallo im Misoxtal verschüttet. Ein Mann und eine Frau sind dabei ums Leben gekommen, ein weiterer Mann wird immer noch vermisst. Auf der Gefahrenkarte war die Gefahr für einen Murgang in diesem Gebiet nicht verzeichnet.
Wurde die Gefahr für einen Murgang bei Sorte grob unterschätzt? Es sei noch zu früh, um darüber Aussagen zu machen, sagt Urban Maissen, der Kantonsförster von Graubünden. Das Ereignis müsse zuerst genau analysiert werden. Dafür habe man ein geeignetes Fachbüro beauftragt. Erste Ergebnisse erwarte man in vier bis sechs Wochen.
Die Gefahrenkarte für das Misoxtal wurde im Mai 2013 vom Amt für Wald und Naturgefahren Graubünden in Auftrag gegeben. Das auf Naturgefahren spezialisierte Büro Geotest hat dafür insgesamt 32 Seitenbäche des Misoxtals auf drohende Naturgefahren untersucht. Unter anderem den Riale Molera, jenen Bergbach, der Sorte vor zwei Wochen mit Geröll überspült hat.
Unwahrscheinliches Ereignis
Die Geografen haben das vier Quadratkilometer grosse Einzugsgebiet des Bachs untersucht. Wie viel Schutt und loses Gestein liegt dort? Wo könnte womöglich ein Hang abrutschen? Wo kam es in der Vergangenheit bereits zu Murgängen? Bei welcher Menge an Regen führt der Bach so viel Wasser, dass grosse Steine mitgerissen werden? Auf Grundlage ihrer Analysen haben die Geografen Szenarien davon entworfen, was passieren könnte. Und Überlegungen angestellt, wie wahrscheinlich es ist, dass diese Szenarien eintreten.
Auch das Szenario eines heftigen Murgangs im Riale Molera wird im Abschlussbericht des Fachbüros erwähnt. Bei einem extremen Hochwasserereignis erstrecke sich der Gefährdungsbereich praktisch über den gesamten Weiler, schreiben sie. Jedoch sei ein solches Ereignis sehr unwahrscheinlich. Man erwarte es seltener als alle 300 Jahre.
Derart unwahrscheinliche Ereignisse werden auf der Gefahrenkarte grundsätzlich nicht verzeichnet. Und doch können sie eintreten. Es ist durchaus denkbar, dass der Murgang in Sorte tatsächlich ein Jahrhundertunglück war. Das Fehlen einer Markierung auf der Gefahrenkarte bedeutet nicht, dass keine Gefahr besteht.
Starkregen treten häufiger auf
Solche Gefahreneinschätzungen werden nicht nur für Murgänge angestellt, sondern auch für Hochwasser, Bergstürze, Lawinen, Hangrutschungen – und das für jedes Dorf, jede Siedlung in der Schweiz. Auf kantonaler Ebene werden die einzelnen Beurteilungen zu einer Karte zusammengesetzt.
Die Beurteilung von Naturgefahren ist schon allein durch die schiere Menge an Einflussfaktoren schwierig. Noch komplizierter wird es, wenn sich die Bedingungen verändern, so dass man sich nicht mehr auf Beobachtungen aus der Vergangenheit stützen kann, um Vermutungen für die Zukunft aufzustellen.
Doch genau das passiert durch den Klimawandel. Die Temperaturen in der Schweiz sind im Schnitt bereits zwei Grad höher als noch 1980. Und wärmere Luft kann mehr Feuchtigkeit aufnehmen. Dadurch kommt es lokal häufiger zu besonders intensiven Regenfällen. Genau diese extremen Wetterereignisse sind wiederum die Auslöser für Naturgefahren wie Hochwasser und Murgänge. Es ist also möglich, dass ein Starkregen, den man früher nur alle 300 Jahre erwarten musste, heute deutlich häufiger auftritt.
Doch solche Überlegungen fliessen bis anhin nicht in die Gefahrenbeurteilungen ein. David Bresch, Professor für Wetter- und Klimarisiken an der ETH, kritisiert das. Er argumentiert gegenüber der NZZ, dass man Gefahrenkarten vorausschauender und unter Einbezug der klimatischen Veränderungen erstellen solle. «Ich verstehe nicht, warum wir keine solchen Karten für 2050 erstellen können. Wir verfügen über die nötigen Klimadaten und Experten, die das berechnen könnten», sagt er.
Zu den technischen Schwierigkeiten gesellt sich bei der Gefahrenkarte noch ein Interessenkonflikt. Denn sie dient als Grundlage für viele lokalpolitische Entscheidungen: Wo darf neu gebaut werden, welche baulichen Massnahmen müssen bei Neubauten umgesetzt werden, wo muss man in Schutzsysteme investieren? Im Extremfall kann die Karte Anlass sein, bestehende Häuser abzureissen und Menschen zum Auszug zu zwingen.
Das führt zu einem gewissen Druck auf die Fachleute, die für die Beurteilung der Gefahren zuständig sind. In einem Bericht über die schweren Hochwasser in der Schweiz im Jahr 2005 heisst es dazu, Fachpersonen sähen sich bei der Einschätzung der Gefahren «implizit oder explizit» mit Wünschen nach möglichst geringen Einschränkungen konfrontiert. Unter diesen Umständen sei es «schwierig, aber unabdingbar, die Gefahrenbeurteilung nach rein wissenschaftlich-technischen Gesichtspunkten vorzunehmen», heisst es weiter.
Kontinuierliche Verbesserung
Trotz diesen Schwierigkeiten funktioniert die Gefahrenkarte im Grossen und Ganzen gut. Beim Hochwasser von 2005 gab es zwar erst in einem Drittel der Gemeinden eine Gefahrenkarte. Doch wo sie vorlag, stimmte sie gut mit den tatsächlich vom Hochwasser betroffenen Gebieten überein. Nur 10 Prozent des Hochwassers betrafen Gebiete ausserhalb der markierten Gefahrengebiete. Und auch die Überflutungen der letzten Wochen spielten sich zum grössten Teil innerhalb des erwarteten Rahmens ab.
Ausserdem wird die Gefahrenkarte kontinuierlich verbessert. Die regionalen Gefahreneinschätzungen werden alle 10 bis 15 Jahre überprüft. Wissenschaftliche Fortschritte in der Vorhersage von Naturereignissen erhöhen nach und nach die Zuverlässigkeit der Karte. Und jedes Mal, wenn ein Unglück wie der Murgang in Sorte eintritt, wird es von Spezialisten untersucht und die Gefahrenkarte genau überprüft. Die Erkenntnisse aus vergangenen Katastrophen helfen so, in der Zukunft ähnliche Tragödien zu vermeiden.