«In Südafrika geniesst der antiisraelische Diskurs eine grosse Zustimmung»
Pretoria provoziert mit seiner Aussenpolitik – der Politikwissenschafter Ulf Engel nennt historische Gründe dafür
Südafrika verschont den Aggressor Putin mit Kritik, beschuldigt aber Israel der Kriegsverbrechen. Aus westlicher Optik sind das kontroverse Haltungen. Provoziert Südafrika gerne, Herr Engel?
Südafrika provoziert westliche Meinungsmacher und Politikerinnen, weil die natürliche Annahme zu sein scheint, dass das Land fest im Westen verankert sei. Doch das ist nur bedingt der Fall. Wenn ich mir das Abstimmungsverhalten Südafrikas in der Uno-Generalversammlung anschaue, gibt es zum Teil Überschneidungen mit dem Abstimmungsverhalten des Westens, aber eben auch grosse Unterschiede. Letztere liegen häufig in den Bereichen Menschenrechte, Demokratieverständnis oder bei der Rolle des globalen Südens in der Weltwirtschaft. Man darf aber auch nicht übersehen, dass Südafrika, vor allem in Rüstungsfragen, oft anders als China oder Russland abstimmt. Die grössten Überschneidungen gibt es zwischen Südafrika und Brasilien, deren Abstimmungsverhalten zu fast hundert Prozent übereinstimmt.
Die Südafrikaner positionieren sich also zwischen den geopolitischen Blöcken. Was sind die historischen Gründe dafür?
Es fällt auf, dass Südafrika seit den ersten freien Wahlen 1994 keine konsistente Aussenpolitik hatte. Das war unter Nelson Mandela und Thabo Mbeki der Fall, vor allem aber unter Jacob Zuma und jetzt unter Cyrill Ramaphosa. Es hat auch damit zu tun, dass der ANC eine Partei ist, in der viele verschiedene Stimmen vertreten sind. Zudem baute der ANC eine grosse Nähe zur ehemaligen Sowjetunion auf, die ihm während des Kampfes gegen das Apartheidregime sehr stark geholfen hat. Interessant dabei ist, dass der ukrainische Part ausgeblendet wird; der ANC verdrängt heute, dass ein Grossteil der Ausbildungsleistung für Befreiungskämpfer in den sechziger und siebziger Jahren in der Ukraine stattgefunden hat.
Und wie erklären Sie die extrem kritische Haltung gegenüber Israel?
Eine dezidiert antiisraelische Haltung hat sich über die letzten Jahre hin noch intensiviert, schon lange vor dem 7. Oktober 2023. Im November 2023 forderte das südafrikanische Parlament dann, die Beziehungen zu Israel einzustellen. Israel hat daraufhin seinen Botschafter abberufen; Südafrika hatte seinen Botschafter schon 2018 aus Israel abgezogen. Die letzte Aussenministerin Naledi Pandor hatte sich zunehmend als Hardlinerin aufgeführt und vertrat eine sehr propalästinensische Haltung. Der neue Aussenminister Ronald Lamola war zuvor fünf Jahre Justizminister und hatte im Januar die Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag vertreten. In Südafrika geniesst dieser antiisraelische Diskurs eine grosse Zustimmung.
Warum?
Auch das lässt sich historisch erklären. Israel war ein grosser Verbündeter des Apartheidregimes, gerade auch im Rüstungsbereich. Zudem wird die Hamas als eine Befreiungsbewegung wahrgenommen – ähnlich wie die PLO, zu der der ANC wie viele afrikanische Parteien traditionell enge Beziehungen pflegt.
Warum sind wir in der westlich orientierten Welt, wie von Ihnen erwähnt, der Meinung, Südafrika müsse sich auf unsere Seite stellen?
Das ist übrigens etwas, das in Afrika als Ausdruck von Neokolonialismus verstanden wird. Aber zur Frage: Das liegt auch daran, dass wir die nach dem Ende der Apartheid angenommene neue Verfassung des demokratischen Südafrika als eine der weltweit freisten und anspruchsvollsten wahrgenommen haben. Zu Recht, denn das klare Bekenntnis zu allen universellen Menschenrechten geht stellenweise weit über Dinge hinaus, die wir in Verfassungen im Westen finden.
In jüngerer Zeit haben sich die Regierungen aber wenig an die Verfassung gehalten.
Ja, sie wurde nicht vollständig umgesetzt. Es besteht ein Zwiespalt zwischen den hohen moralischen Ansprüchen und den Handlungen der Politiker. Auch in der südafrikanischen Zivilgesellschaft gibt es eine intensive Debatte über eine Regierungspartei, die sich von ihren eigenen Ansprüchen verabschiedet hat. Spätestens seit Sommer 2009 sind die ANCgeführten
Regierungen vor allem auf Machterhalt, Bereicherung, Korruption bedacht und weniger auf die Bereitstellung von öffentlichen Gütern.
Diese Entwicklung geht einher mit der Hinwendung zu einer von China angeführten Staatengruppe von aufstrebenden Schwellenländern. Warum schloss sich Südafrika 2010 Brasilien, Russland, Indien und China an, der nachmaligen Brics-Gruppe?
Südafrika hat wenig globalpolitische Alternativen, der Entscheid erfolgte ganz pragmatisch. Als ich vorhin gesagt habe, dass Südafrikas Abstimmungsverhalten in der Uno dem von Brasilien am nächsten komme, hätte ich ergänzen müssen, dass danach jenes von Indien kommt. Und dann folgen mit einem Abstand China und Russland. Es gibt also ideologische Übereinstimmungen. Zudem sind die andern grossen Zusammenschlüsse, in denen man Politik machen kann, etwa die Afrikanische Union, in der Weltpolitik nicht so relevant. Deswegen kann Südafrika auf die Brics-Gruppe nicht verzichten.
Auch weil Südafrika denkt, eine Führungsposition in Afrika einzunehmen?
Die eigene Wahrnehmung ist sicher so. Es ist aber ein Riese auf sehr tönernen Füssen. Die Wirtschaft ist marode, die Stromversorgung funktioniert nicht, staatliche Unternehmen sind heruntergewirtschaftet durch Korruption und fehlende nachhaltige Investitionen. Auch was Auslandsinvestitionen anbelangt, ist Südafrika kein sehr attraktiver Standort mehr. Auf dem Kontinent konkurriert es mittlerweile mit Ländern wie Tunesien, Ägypten, Algerien um ökonomischen Einfluss. Die eigenen Ambitionen sind schon, dass man für Afrika sprechen möchte. Das aber wird nicht einmal in der regionalen Wirtschaftsgemeinschaft im südlichen Afrika anerkannt. Natürlich gibt es in der Afrikanischen Union (AU) vier, fünf Staaten, die mehr Gewicht haben als andere, allein, weil sie freiwillig mehr zum AUBudget beitragen, da gehört Südafrika dazu. Aber Südafrikas Führungsanspruch wird auch in der AU kritisch gesehen.
Blicken andere afrikanische Staaten nun trotzdem auf die gegenwärtigen Entwicklungen in Südafrika, wo soeben eine Koalitionsregierung gebildet wurde?
Das tun sie sicherlich, auch wenn in den meisten afrikanischen Staaten die Tendenz lautet, dass sich alles nimmt, wer bei Wahlen obenaus schwingt. Regierungen der «nationalen Einheit» sind selten.
Nennt sich die neue Regierung in Südafrika zu Recht so?
Der nun von ihr verwendete Terminus ist irreführend und stammt aus der erwähnten Verfassung von 1996, die mit der gegenwärtigen Koalitionspolitik nichts zu tun hat. Damals war es der Versuch der Einfriedung der wirklich grossen Kontrahenten der ersten freien Wahl 1994 mit viel Destruktionspotenzial. Heute ist die Lage eine andere: Die Koalition ist aufgebläht, inzwischen sind elf Parteien darin eingebunden. Das neue Kabinett wurde auf 24 Minister und 43 Vizeminister erweitert, um unterschiedliche Parteiströmungen innerhalb des ANC und deren Seilschaften zu bedienen oder Pfründen zu sichern, aber eben auch, um den Koalitionspartnern entgegenzukommen. Ob das funktioniert, ist eine ganz andere Frage.
Der Politikwissenschafter und Historiker Ulf Engel ist Professor für Politik in Afrika an der Universität Leipzig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Entwicklungen in Südafrika und am Horn von Afrika sowie die Entwicklung von kontinentalen und regionalen Organisationen in Afrika.