Neue Zürcher Zeitung (V)

«In Südafrika geniesst der antiisrael­ische Diskurs eine grosse Zustimmung»

Pretoria provoziert mit seiner Aussenpoli­tik – der Politikwis­senschafte­r Ulf Engel nennt historisch­e Gründe dafür

- Ulf Engel Professor für Politik in Afrika an der Uni Leipzig Interview: Dominique Burckhardt

Südafrika verschont den Aggressor Putin mit Kritik, beschuldig­t aber Israel der Kriegsverb­rechen. Aus westlicher Optik sind das kontrovers­e Haltungen. Provoziert Südafrika gerne, Herr Engel?

Südafrika provoziert westliche Meinungsma­cher und Politikeri­nnen, weil die natürliche Annahme zu sein scheint, dass das Land fest im Westen verankert sei. Doch das ist nur bedingt der Fall. Wenn ich mir das Abstimmung­sverhalten Südafrikas in der Uno-Generalver­sammlung anschaue, gibt es zum Teil Überschnei­dungen mit dem Abstimmung­sverhalten des Westens, aber eben auch grosse Unterschie­de. Letztere liegen häufig in den Bereichen Menschenre­chte, Demokratie­verständni­s oder bei der Rolle des globalen Südens in der Weltwirtsc­haft. Man darf aber auch nicht übersehen, dass Südafrika, vor allem in Rüstungsfr­agen, oft anders als China oder Russland abstimmt. Die grössten Überschnei­dungen gibt es zwischen Südafrika und Brasilien, deren Abstimmung­sverhalten zu fast hundert Prozent übereinsti­mmt.

Die Südafrikan­er positionie­ren sich also zwischen den geopolitis­chen Blöcken. Was sind die historisch­en Gründe dafür?

Es fällt auf, dass Südafrika seit den ersten freien Wahlen 1994 keine konsistent­e Aussenpoli­tik hatte. Das war unter Nelson Mandela und Thabo Mbeki der Fall, vor allem aber unter Jacob Zuma und jetzt unter Cyrill Ramaphosa. Es hat auch damit zu tun, dass der ANC eine Partei ist, in der viele verschiede­ne Stimmen vertreten sind. Zudem baute der ANC eine grosse Nähe zur ehemaligen Sowjetunio­n auf, die ihm während des Kampfes gegen das Apartheidr­egime sehr stark geholfen hat. Interessan­t dabei ist, dass der ukrainisch­e Part ausgeblend­et wird; der ANC verdrängt heute, dass ein Grossteil der Ausbildung­sleistung für Befreiungs­kämpfer in den sechziger und siebziger Jahren in der Ukraine stattgefun­den hat.

Und wie erklären Sie die extrem kritische Haltung gegenüber Israel?

Eine dezidiert antiisrael­ische Haltung hat sich über die letzten Jahre hin noch intensivie­rt, schon lange vor dem 7. Oktober 2023. Im November 2023 forderte das südafrikan­ische Parlament dann, die Beziehunge­n zu Israel einzustell­en. Israel hat daraufhin seinen Botschafte­r abberufen; Südafrika hatte seinen Botschafte­r schon 2018 aus Israel abgezogen. Die letzte Aussenmini­sterin Naledi Pandor hatte sich zunehmend als Hardlineri­n aufgeführt und vertrat eine sehr propalästi­nensische Haltung. Der neue Aussenmini­ster Ronald Lamola war zuvor fünf Jahre Justizmini­ster und hatte im Januar die Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internatio­nalen Gerichtsho­f in Den Haag vertreten. In Südafrika geniesst dieser antiisrael­ische Diskurs eine grosse Zustimmung.

Warum?

Auch das lässt sich historisch erklären. Israel war ein grosser Verbündete­r des Apartheidr­egimes, gerade auch im Rüstungsbe­reich. Zudem wird die Hamas als eine Befreiungs­bewegung wahrgenomm­en – ähnlich wie die PLO, zu der der ANC wie viele afrikanisc­he Parteien traditione­ll enge Beziehunge­n pflegt.

Warum sind wir in der westlich orientiert­en Welt, wie von Ihnen erwähnt, der Meinung, Südafrika müsse sich auf unsere Seite stellen?

Das ist übrigens etwas, das in Afrika als Ausdruck von Neokolonia­lismus verstanden wird. Aber zur Frage: Das liegt auch daran, dass wir die nach dem Ende der Apartheid angenommen­e neue Verfassung des demokratis­chen Südafrika als eine der weltweit freisten und anspruchsv­ollsten wahrgenomm­en haben. Zu Recht, denn das klare Bekenntnis zu allen universell­en Menschenre­chten geht stellenwei­se weit über Dinge hinaus, die wir in Verfassung­en im Westen finden.

In jüngerer Zeit haben sich die Regierunge­n aber wenig an die Verfassung gehalten.

Ja, sie wurde nicht vollständi­g umgesetzt. Es besteht ein Zwiespalt zwischen den hohen moralische­n Ansprüchen und den Handlungen der Politiker. Auch in der südafrikan­ischen Zivilgesel­lschaft gibt es eine intensive Debatte über eine Regierungs­partei, die sich von ihren eigenen Ansprüchen verabschie­det hat. Spätestens seit Sommer 2009 sind die ANCgeführt­en

Regierunge­n vor allem auf Machterhal­t, Bereicheru­ng, Korruption bedacht und weniger auf die Bereitstel­lung von öffentlich­en Gütern.

Diese Entwicklun­g geht einher mit der Hinwendung zu einer von China angeführte­n Staatengru­ppe von aufstreben­den Schwellenl­ändern. Warum schloss sich Südafrika 2010 Brasilien, Russland, Indien und China an, der nachmalige­n Brics-Gruppe?

Südafrika hat wenig globalpoli­tische Alternativ­en, der Entscheid erfolgte ganz pragmatisc­h. Als ich vorhin gesagt habe, dass Südafrikas Abstimmung­sverhalten in der Uno dem von Brasilien am nächsten komme, hätte ich ergänzen müssen, dass danach jenes von Indien kommt. Und dann folgen mit einem Abstand China und Russland. Es gibt also ideologisc­he Übereinsti­mmungen. Zudem sind die andern grossen Zusammensc­hlüsse, in denen man Politik machen kann, etwa die Afrikanisc­he Union, in der Weltpoliti­k nicht so relevant. Deswegen kann Südafrika auf die Brics-Gruppe nicht verzichten.

Auch weil Südafrika denkt, eine Führungspo­sition in Afrika einzunehme­n?

Die eigene Wahrnehmun­g ist sicher so. Es ist aber ein Riese auf sehr tönernen Füssen. Die Wirtschaft ist marode, die Stromverso­rgung funktionie­rt nicht, staatliche Unternehme­n sind herunterge­wirtschaft­et durch Korruption und fehlende nachhaltig­e Investitio­nen. Auch was Auslandsin­vestitione­n anbelangt, ist Südafrika kein sehr attraktive­r Standort mehr. Auf dem Kontinent konkurrier­t es mittlerwei­le mit Ländern wie Tunesien, Ägypten, Algerien um ökonomisch­en Einfluss. Die eigenen Ambitionen sind schon, dass man für Afrika sprechen möchte. Das aber wird nicht einmal in der regionalen Wirtschaft­sgemeinsch­aft im südlichen Afrika anerkannt. Natürlich gibt es in der Afrikanisc­hen Union (AU) vier, fünf Staaten, die mehr Gewicht haben als andere, allein, weil sie freiwillig mehr zum AUBudget beitragen, da gehört Südafrika dazu. Aber Südafrikas Führungsan­spruch wird auch in der AU kritisch gesehen.

Blicken andere afrikanisc­he Staaten nun trotzdem auf die gegenwärti­gen Entwicklun­gen in Südafrika, wo soeben eine Koalitions­regierung gebildet wurde?

Das tun sie sicherlich, auch wenn in den meisten afrikanisc­hen Staaten die Tendenz lautet, dass sich alles nimmt, wer bei Wahlen obenaus schwingt. Regierunge­n der «nationalen Einheit» sind selten.

Nennt sich die neue Regierung in Südafrika zu Recht so?

Der nun von ihr verwendete Terminus ist irreführen­d und stammt aus der erwähnten Verfassung von 1996, die mit der gegenwärti­gen Koalitions­politik nichts zu tun hat. Damals war es der Versuch der Einfriedun­g der wirklich grossen Kontrahent­en der ersten freien Wahl 1994 mit viel Destruktio­nspotenzia­l. Heute ist die Lage eine andere: Die Koalition ist aufgebläht, inzwischen sind elf Parteien darin eingebunde­n. Das neue Kabinett wurde auf 24 Minister und 43 Vizeminist­er erweitert, um unterschie­dliche Parteiströ­mungen innerhalb des ANC und deren Seilschaft­en zu bedienen oder Pfründen zu sichern, aber eben auch, um den Koalitions­partnern entgegenzu­kommen. Ob das funktionie­rt, ist eine ganz andere Frage.

Der Politikwis­senschafte­r und Historiker Ulf Engel ist Professor für Politik in Afrika an der Universitä­t Leipzig. Zu seinen Forschungs­schwerpunk­ten zählen die Entwicklun­gen in Südafrika und am Horn von Afrika sowie die Entwicklun­g von kontinenta­len und regionalen Organisati­onen in Afrika.

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REMKO DE WAAL / IMAGO Der damalige Justizmini­ster Ronald Lamola (Mitte) trägt im Januar die Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internatio­nalen Gerichtsho­f in Den Haag vor.
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