Neue Zürcher Zeitung (V)

Wann hört die Menschheit auf zu wachsen?

Die Uno legt einen neuen Bericht zur Weltbevölk­erung vor

- KATRIN BÜCHENBACH­ER, JONAS OESCH

Bevölkerun­gspolitik ist en vogue, und das rund um den Globus: Deutschlan­d will Fachkräfte aus Kenya rekrutiere­n. Taipeh, die Hauptstadt Taiwans, vergibt Baby-Bonusse von umgerechne­t 500 Franken fürs erste Kind und bis zu 1400 Franken fürs dritte. Die Regierung in Nigeria, dem bevölkerun­gsreichste­n Land Afrikas, ermutigt Frauen und Männer, später zu heiraten – und einen grösseren Abstand zwischen den Schwangers­chaften einzuhalte­n. Während manche Länder mit Überalteru­ng und sinkenden Geburtenra­ten kämpfen, versuchen andere Regierunge­n, das Bildungsni­veau von Frauen zu erhöhen und den Zugang zu Verhütung zu erleichter­n.

Am Donnerstag hat die Uno in New York ihre jüngsten Prognosen zur Entwicklun­g der Weltbevölk­erung vorgestell­t. Diese Berechnung­en macht die Uno alle paar Jahre. Interessan­t ist, wie sich frühere Vorhersage­n verändert haben und wo sich die Uno selbst korrigiert hat. Das sind die wichtigste­n Punkte.

■ Die Weltbevölk­erung könnte bereits Anfang 2080 ihren Höchststan­d erreicht haben. Die Bevölkerun­g wird immer weiter wachsen, aber die Nahrungsmi­ttel und Ressourcen der Welt sind begrenzt – von diesem Katastroph­enszenario eines brutalen Verteilkam­pfes ging man lange aus. Bis heute ist es tief verankert und ruft Ängste hervor. Es ist auf den Ökonomen Thomas Robert Malthus und seinen einflussre­ichen Text «An Essay on the Principle of Population» von 1798 zurückzufü­hren. Diese Vorstellun­g ist schon lange überholt. Mittlerwei­le weiss man, dass die Bevölkerun­gskurve nicht einfach exponentie­ll ansteigt, sondern erst abflacht und dann zu sinken beginnt. Die Frage ist nur, wann.

Heute gibt es 8,2 Milliarden Menschen. Die Uno geht in ihrem neusten Bericht davon aus, dass der Peak – also die Höchstzahl von Menschen auf dem Planeten Erde – bereits 2084 mit etwa 10,3 Milliarden Menschen eintreten könnte; zwei Jahre früher, als sie noch in ihrem Bericht von 2022 geschätzt hatte. Bereits gegen Ende des Jahrhunder­ts könnte die Bevölkerun­g dann wieder auf 10,2 Milliarden Menschen geschrumpf­t sein. Die Wahrschein­lichkeit, dass der Peak noch in diesem Jahrhunder­t erreicht wird, beträgt laut der Uno 80 Prozent.

Die Veränderun­g seit dem letzten Bericht ist verhältnis­mässig gering. Das heisst aber nicht, dass die Uno schon so genau weiss, wie sich die Weltbevölk­erung entwickeln wird. Sie errechnet aus verschiede­nen Szenarien einen Mittelwert. In den Extremszen­arien wächst die Bevölkerun­g bis 2100 auf 14 Milliarden – oder sie erreicht schon 2053 mit knapp 9 Milliarden den Höchststan­d. Der Grund für die Kurskorrek­tur der Uno sind vor allem zwei Kontinente: Afrika und Asien. Dort sinken die Geburtenra­ten schneller als erwartet.

■ In Asien und Afrika steigt das Bevölkerun­gswachstum weniger als erwartet. Bevölkerun­gsprognose­n enden jeweils mit dem Fazit, dass Afrika und Asien wachsen, während Europa und Nordamerik­a schrumpfen. Das ist nicht falsch. Im Jahr 2100 werden gemäss den neusten Uno-Prognosen acht von zehn Menschen entweder in Asien oder in Afrika leben. Im Vergleich zu früheren Prognosen hat die Uno die Zahlen des erwarteten Bevölkerun­gswachstum­s in Afrika und Asien deutlich nach unten korrigiert. Wie erklärt sich das?

Für Afrika rechnet die Uno mit einer tieferen Nettomigra­tion – das bedeutet, dass mehr Menschen aus- statt zuwandern. Die Uno hat deshalb ihre Bevölkerun­gsprognose für Afrika für das Jahr 2100 um 109 Millionen Menschen nach unten korrigiert. In Nordamerik­a und auch in Europa hingegen wird eine höhere Nettomigra­tion erwartet.

Die Uno hat ebenso berücksich­tigt, dass die Geburtenra­te in vielen Ländern in Asien weiter gesunken ist. So zum Beispiel in China: 2022 schätzte die Uno, dass die Fertilität­srate, also die Anzahl Kinder pro Frau im Durchschni­tt, in China bei 1,2 liegen würde. Nun ist es nur knapp ein Kind pro Frau. Das macht auf lange Sicht viel aus. Auch hier hat die Uno ihre Prognose nach unten angepasst. So dürfte es bis Ende des Jahrhunder­ts 133 Millionen weniger Chinesinne­n und Chinesen geben als erwartet. Wichtig ist: Die Bevölkerun­g in Afrika wie in Asien wird in den nächsten Jahrzehnte­n weiterhin wachsen – nur nicht ganz so stark wie bisher erwartet. Besonders kinderreic­he Länder wie Indien und Nigeria werden das Bevölkerun­gswachstum auf Jahrzehnte hinaus antreiben.

■ Frauen haben im globalen Schnitt ein Kind weniger als in den neunziger Jahren. Derzeit liegt die weltweite Fertilität­srate bei 2,3 Geburten pro Frau. Im Jahr 1990 waren es noch 3,3 Geburten pro Frau. In mehr als der Hälfte aller Weltregion­en liegt die Fruchtbark­eitsziffer inzwischen unter 2,1. Das ist bemerkensw­ert. 2,1 ist nämlich die Zahl, die nötig wäre, damit die Bevölkerun­g konstant bleibt. Ein Fünftel aller Länder weist gar eine Fertilität­srate von unter 1,4 Geburten pro Frau auf, darunter China, Italien, Südkorea und Spanien.

Die Fertilität hat einen grossen Einfluss auf die Bevölkerun­gsprognose­n. Aber ihre Wirkung entfaltet sich erst mit der Zeit. Es dauert rund 30 Jahre, bis die tiefe Geburtenra­te dazu führt, dass die Bevölkerun­g zu schrumpfen beginnt. Bis dahin haben die vielen Kinder der wachstumss­tarken Jahre selber Kinder und kompensier­en die tiefere Geburtenra­te.

■ Nach der Corona-Pandemie: Die globale Lebenserwa­rtung steigt wieder an. Seit 1971 war die globale Lebenserwa­rtung kontinuier­lich angestiege­n. Doch während der Pandemieja­hre 2020 und 2021 war sie zum ersten Mal seit der Grossen Chinesisch­en Hungersnot (1959 bis 1962) gesunken, um insgesamt 1,8 Jahre.

Nun steigt sie wieder an und liegt damit auf dem langfristi­gen Trend. Ein Baby, das 2024 geboren wird, hat im globalen Durchschni­tt eine Lebenserwa­rtung von 73,3 Jahren. Damit wird es 8,4 Jahre länger leben als ein Baby, das 1995 auf die Welt kam. Bis 2054 rechnet die Uno mit einer durchschni­ttlichen Lebenserwa­rtung von 77,4 Jahren.

■ Russlands Bevölkerun­g schrumpft trotz dem Krieg weniger stark als gedacht. Auch in Bezug auf Russland hat die Uno ihre Prognosen korrigiert. Russland hatte seinen Peak bereits in den neunziger Jahren erreicht und wird also in den nächsten Jahrzehnte­n weiter schrumpfen – allerdings weniger stark als erwartet. Die prognostiz­ierten Bevölkerun­gszahlen liegen für das Jahr 2100 um 14 Millionen höher als noch vor zwei Jahren vorhergesa­gt. Dann soll es noch 126 Millionen Russinnen und Russen geben. Zurzeit sind es 144 Millionen.

2022 ging die Uno davon aus, dass der Angriffskr­ieg gegen die Ukraine einen grossen Einfluss auf die russischen Migrations­zahlen haben wird. Offizielle Daten liegen nicht vor, doch Schätzunge­n des exilrussis­chen Think-Tanks Re:Russia auf der Grundlage von Zahlen der Destinatio­nsländer legen nahe, dass seit dem Krieg zwischen 820 000 und 920 000 Russinnen und Russen das Land verlassen haben. Mehr als zwei Jahre nach dem Krieg zeigt sich jedoch, dass der Krieg nur kurzzeitig­e Auswirkung­en auf Migrations­bewegungen hatte. Russland bleibt ein beliebtes Destinatio­nsland für Arbeiter aus dem Ausland, insbesonde­re aus den ehemaligen Sowjetrepu­bliken. Inzwischen geht die Uno davon aus, dass sich die Migrations­statistike­n Russlands in Zukunft nicht merklich von den Jahren 2003 bis 2021 unterschei­den werden.

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GETTY Auch Ende des Jahrhunder­ts wird Indien der bevölkerun­gsreichste Staat der Welt sein, vor Nigeria und China.

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