Die Todesprämie ist ein Schweigegeld
In Russland treten kaum noch protestierende Soldatenmütter in Erscheinung, sie werden mit Geld ruhiggestellt.
Glaubt man einer in diesem Frühjahr veröffentlichten Massenumfrage der Stiftung Öffentliche Meinung (FOM), dann waren Russländer selten so mit ihrem Leben zufrieden wie im dritten Kriegsjahr: 36 Prozent der Befragten fühlten sich «sehr glücklich», 23 Prozent lagen mit ihrem Glücksempfinden in der Mitte, und nur 5 Prozent bezeichneten sich als «sehr unglücklich».
Selbst den Experten fiel es schwer, sich einen Reim auf die befremdlich anmutenden Ergebnisse zu machen. Einige von ihnen, wie der Politologe Sergei Schelin, glauben, die Menschen sehnten sich nach Normalität und redeten sich Zufriedenheit nur ein. Der wissenschaftliche Leiter des unabhängigen Lewada-Zentrums für Meinungsumfragen Lew Gudkow ist gegenüber den «Glücksumfragen» generell misstrauisch. Der Verfasser des Buchs «Der wiederkehrende Totalitarismus» weist darauf hin, dass in autoritären Staaten wie Turkmenistan, aber auch in Tschetschenien der Glücksindex oft viel höher als in Demokratien sei. Doch ungeachtet aller intellektuellen Erklärungsversuche: Wie kann das sein?
Als der Lyriker und Diplomat Fjodor Tjutschew vor 170 Jahren «An Russland zweifelt der Verstand» dichtete, meinte er das positiv. Seinem Land sei mit der «gewöhnlichen», also westlichen «Messlatte» nicht beizukommen. Stattdessen sollte man an Russland, an seine Mission einfach glauben. Inzwischen ist der Glaube als Alternative zum Verstand selbst bei den hartnäckigsten Russlandverstehern an seinen Grenzen angelangt.
Doch vielleicht ist die Auflösung des scheinbaren Widerspruchs zwischen der andauernden Zerstörung der Ukraine, den ins Land zurückkehrenden Särgen und der hohen Zufriedenheit in Russland viel einfacher: Die materielle Lage der russischen Bevölkerung hat sich dank dem Krieg spürbar verbessert. Boomende Wirtschaft, höhere Löhne und Vollbeschäftigung – den westlichen Sanktionen zum Trotz – tragen zum wachsenden Konsum bei und sorgen für gute Laune.
Extrem hoher Blutzoll
Derweil zahlt die russische Armee in der Ukraine einen immer höheren Blutzoll. Ende 2023 soll er laut amerikanischen Geheimdienstquellen bei 315 000 Toten und Verwundeten gelegen haben, inzwischen schätzt man eine Zahl von einer halben Million. Natürlich tauchen solche Zahlen nicht in den russischen Staatsmedien auf. Klar ist aber, dass mit der Fortsetzung der Kämpfe die Verluste zunehmen. Auf jeden Fall übertreffen sie die Zahl der etwa 15 000 Gefallenen in Afghanistan und der rund 20 000 in beiden Tschetschenienkriegen bei weitem. Auch wenn die Angaben mit Vorsicht zu geniessen sind, da sie sich je nach schätzender Institution erheblich unterscheiden, kostet der ukrainische Feldzug Russland mehr Menschenleben als alle Kampfhandlungen seit dem Zweiten Weltkrieg zusammen.
Nach dem Scheitern des Blitzkriegs gegen die Ukraine und den unerwartet hohen Verlusten der ersten Kriegsmonate wurde vom «kollektiven Putin» eine bahnbrechende Neuerung eingeführt. Es wurde eine mehrfache Erhöhung des Solds für Vertragssoldaten und Mobilisierte auf Zeit sowie eine für russische Verhältnisse gigantische Todesprämie – im Volksmund «Grabesgeld» genannt – beschlossen. Damit wurden der Kontrakt mit der Armee und das Todesrisiko vor allem für arme Bevölkerungsschichten wirtschaftlich attraktiv gemacht.
2023 hatte der in den USA lebende russische Wirtschaftsexperte Wladislaw Inosemzew berechnet, dass sich das Monatsgehalt eines russischen Vertragssoldaten kaum vom Sold eines amerikanischen GI unterscheidet. Wer sich als 35-Jähriger anwerben lässt und ein Jahr dient, kann an seine Familie 35 000 Dollar überweisen, während im Fall seines Todes das Grabesgeld über 100 000 Dollar erreichen würde. Wenn «der Mensch in den Krieg zieht und als 30bis 35-Jähriger umkommt, wird sein Tod ökonomisch günstiger ausfallen als die ihm noch bevorstehende Lebenszeit».
Besonders attraktiv scheinen diese «amerikanischen» Leistungen für Vertragssoldaten in den armen Territorien der Russischen Föderation, vor allem in den nationalen Republiken, wo bis zu 29Prozent der Bevölkerung unterhalb des Existenzminimums leben. So stiegen die Bankguthaben von Mitte 2022 bis Mitte 2023 in den Republiken Tuwa, Burjatien oder Altai zwischen 23 und 54 Prozent an, während in ganz Russland die Guthaben privater Haushalte im zweiten Kriegsjahr lediglich um 20 Prozent höher als 2022 waren. Die Ursache dafür sieht der Wirtschaftsexperte Ronald Götz in den Einzahlungen der Familienangehörigen von schwer verletzten und gefallenen Vertragssoldaten («Unter Durchschnitt», Osteuropa, 1–3, 2024). Je höher die Zahl der Mobilisierten und der Anteil der Toten ist, desto besser geht es ihren Angehörigen, den jeweiligen Herkunftsorten und der Wirtschaft insgesamt.
Das Pumpen von Grabesgeld in den Wirtschaftskreislauf bezeichnete Inosemzew als «Todesnomik». Russische Machteliten hätten in hohem Tempo ein System errichtet, in dem das Leben als blosses Dahinvegetieren keine optimale ökonomische Wahl mehr darstelle. «Man hatte das Land an die Tode gewöhnt und deren wirtschaftliche Attraktivität vor Augen geführt.»
Im Fernsehkanal Rossija 1 wurden vor kurzem die Eltern eines gefallenen Soldaten vor ihrem neuen, mit dem Grabesgeld ihres Sohnes gekauften Lada vorgeführt. Der Tod in der ukrainischen «Sonderoperation» lohnt sich, war die Botschaft. Das neue russische Auto, das in Wirklichkeit aus China stammt, wartet auf dein Grabesgeld!
Der neue Mensch
Mehr noch, die Angleichung der Leistungen und Sonderkonditionen für Kriegsteilnehmer und ihre Familienangehörigen an amerikanische Standards – wozu auch Gratisstudium für Soldaten oder ihre Kinder sowie Witwenrenten gehören – trägt zum sozialen Aufstieg der Verlierer des postsowjetischen wilden Kapitalismus bei. Wer «niemand» war und in der «Sonderoperation» gekämpft hat, kann als Veteran «alles» werden. Die alten Profiteure der kriminellen Privatisierung, aber auch die ins Ausland geflohenen und zu «ausländischen Agenten» erklärten Kultur- und Wissenschaftseliten sollen durch die Aufsteiger aus dem «tiefen Volk» ersetzt werden.
Es fehlt nicht an Hinweisen darauf, dass das Eigentum «ausländischer Agenten», des emigrierten Mittelstands aus den Millionenstädten, irgendwann enteignet und an die Kriegsgewinnler, die das Überleben des Regimes garantieren, umverteilt wird. Wie soziale Säuberungen und der Aufstieg der Unterschicht in eine neue Elite ablaufen, das hatte bereits die bolschewistische Revolution vorexerziert.
Ob die Todesnomik Bestand haben wird oder ob sie am wachsenden Mangel an Ressourcen scheitern wird, bleibt eine offene Frage. Die Tatsache, dass der Sold und das Grabesgeld vor kurzem weiter erhöht und regionale Zulagen für den Vertragsdienst eingeführt wurden, weist auf die sinkende Bereitschaft der Männer hin, selbst für viel Geld an den «Fleischstürmen» an der Front teilzunehmen und als Gehacktes im Minenfeld zu enden. Der Tod wird immer kostspieliger.
Dank der Aufklärung durch zivilgesellschaftliche Aktivisten wächst auch bei den von der Propaganda verblendeten oder von enormen Prämien verführten Menschen die Einsicht in die Realität des Kriegs und die katastrophalen Zustände bei den Kampfeinheiten. Viele Soldaten sind verwundet und krank, ihre Versorgung ist katastrophal, und die Verhältnisse im Militär unterscheiden sich kaum von den Sitten in den Straflagern. Anwerbung in Gefängnissen, Razzien auf den Strassen und selbst in der Moskauer Universität, Einschüchterung und Inhaftierung von Dienstverweigerern verwandeln die Anwerbung für den angeblich freiwilligen Vertragsdienst in eine wilde Jagd auf Kanonenfutter.
Doch während die Mobilisierten, anders als zu Beginn der Invasion in* die Ukraine, «bis zum Kriegsende» an der Front gehalten werden, stösst die Zufuhr des «frischen Fleisches» an ihre Grenzen. Immer mehr Männer trauen sich, die Teilnahme an den mangels schweren militärischen Geräts immer öfter körperlich fast ungeschützt durchgeführten infanteristischen «Fleischangriffen» zu verweigern. Und obwohl der Sold und das Grabesgeld immer weiter steigen, wollen viele Familien das Leiden ihrer Liebsten nicht mehr einfach hinnehmen.
«Bringt Papa bitte nach Hause»
Anfang Juni stellte sich eine Handvoll Ehefrauen von Mobilisierten vor dem Verteidigungsministerium in Moskau auf. Sie verlangten ein Treffen mit dem neu ernannten Verteidigungsminister Andrei Belousow und hielten selbstgebastelte Plakate in der Hand: «Belousow, wir sind da! Redet mit uns», «Es ist an der Zeit, die Mobilisierten nach Hause zu entlassen», «Bringt Papa bitte nach Hause».
Als Polizeiwagen langsam an den Frauen vorbeifuhren, fielen sie auf die Knie. Binnen einer Stunde erschien anstelle des Ministers ein Beamter mit Schulterstücken vor dem Eingang und bezichtigte die Frauen, sie seien nur gekommen, um in den oppositionellen Telegram-Kanälen Stimmung zu machen, und würden nur «das Boot aufschaukeln». Für eine Entlassung der bis zum Kriegsende an der Front gehaltenen Soldaten gebe es keinen Ukas des Präsidenten. Ihre individuellen Klagen wurden jedoch aufgenommen.
Fotos der Szene gingen in den sozialen Netzwerken viral. Die einen beschimpften die Frauen als Sklavinnen, die anderen wiesen immerhin auf eine Doppeldeutigkeit der vermeintlichen Unterwerfungsgeste hin. Tatsache aber ist, dass die Mehrheit der vom Krieg Betroffenen sich derartige Aktionen gar nicht getraut und lieber den Kopf einzieht. Wo das Fest noch läuft, denkt es sich schwer an die Pest.
Die Tatsache, dass der Sold weiter erhöht wurde, weist auf die sinkende Bereitschaft der Männer hin, selbst für viel Geld als Gehacktes im Minenfeld zu enden.