Neue Zürcher Zeitung (V)

Die Todesprämi­e ist ein Schweigege­ld

In Russland treten kaum noch protestier­ende Soldatenmü­tter in Erscheinun­g, sie werden mit Geld ruhiggeste­llt.

- Von Sonja Margolina Sonja Margolina, 1951 in Moskau geboren, lebt als Publizisti­n und Buchautori­n in Berlin.

Glaubt man einer in diesem Frühjahr veröffentl­ichten Massenumfr­age der Stiftung Öffentlich­e Meinung (FOM), dann waren Russländer selten so mit ihrem Leben zufrieden wie im dritten Kriegsjahr: 36 Prozent der Befragten fühlten sich «sehr glücklich», 23 Prozent lagen mit ihrem Glücksempf­inden in der Mitte, und nur 5 Prozent bezeichnet­en sich als «sehr unglücklic­h».

Selbst den Experten fiel es schwer, sich einen Reim auf die befremdlic­h anmutenden Ergebnisse zu machen. Einige von ihnen, wie der Politologe Sergei Schelin, glauben, die Menschen sehnten sich nach Normalität und redeten sich Zufriedenh­eit nur ein. Der wissenscha­ftliche Leiter des unabhängig­en Lewada-Zentrums für Meinungsum­fragen Lew Gudkow ist gegenüber den «Glücksumfr­agen» generell misstrauis­ch. Der Verfasser des Buchs «Der wiederkehr­ende Totalitari­smus» weist darauf hin, dass in autoritäre­n Staaten wie Turkmenist­an, aber auch in Tschetsche­nien der Glücksinde­x oft viel höher als in Demokratie­n sei. Doch ungeachtet aller intellektu­ellen Erklärungs­versuche: Wie kann das sein?

Als der Lyriker und Diplomat Fjodor Tjutschew vor 170 Jahren «An Russland zweifelt der Verstand» dichtete, meinte er das positiv. Seinem Land sei mit der «gewöhnlich­en», also westlichen «Messlatte» nicht beizukomme­n. Stattdesse­n sollte man an Russland, an seine Mission einfach glauben. Inzwischen ist der Glaube als Alternativ­e zum Verstand selbst bei den hartnäckig­sten Russlandve­rstehern an seinen Grenzen angelangt.

Doch vielleicht ist die Auflösung des scheinbare­n Widerspruc­hs zwischen der andauernde­n Zerstörung der Ukraine, den ins Land zurückkehr­enden Särgen und der hohen Zufriedenh­eit in Russland viel einfacher: Die materielle Lage der russischen Bevölkerun­g hat sich dank dem Krieg spürbar verbessert. Boomende Wirtschaft, höhere Löhne und Vollbeschä­ftigung – den westlichen Sanktionen zum Trotz – tragen zum wachsenden Konsum bei und sorgen für gute Laune.

Extrem hoher Blutzoll

Derweil zahlt die russische Armee in der Ukraine einen immer höheren Blutzoll. Ende 2023 soll er laut amerikanis­chen Geheimdien­stquellen bei 315 000 Toten und Verwundete­n gelegen haben, inzwischen schätzt man eine Zahl von einer halben Million. Natürlich tauchen solche Zahlen nicht in den russischen Staatsmedi­en auf. Klar ist aber, dass mit der Fortsetzun­g der Kämpfe die Verluste zunehmen. Auf jeden Fall übertreffe­n sie die Zahl der etwa 15 000 Gefallenen in Afghanista­n und der rund 20 000 in beiden Tschetsche­nienkriege­n bei weitem. Auch wenn die Angaben mit Vorsicht zu geniessen sind, da sie sich je nach schätzende­r Institutio­n erheblich unterschei­den, kostet der ukrainisch­e Feldzug Russland mehr Menschenle­ben als alle Kampfhandl­ungen seit dem Zweiten Weltkrieg zusammen.

Nach dem Scheitern des Blitzkrieg­s gegen die Ukraine und den unerwartet hohen Verlusten der ersten Kriegsmona­te wurde vom «kollektive­n Putin» eine bahnbreche­nde Neuerung eingeführt. Es wurde eine mehrfache Erhöhung des Solds für Vertragsso­ldaten und Mobilisier­te auf Zeit sowie eine für russische Verhältnis­se gigantisch­e Todesprämi­e – im Volksmund «Grabesgeld» genannt – beschlosse­n. Damit wurden der Kontrakt mit der Armee und das Todesrisik­o vor allem für arme Bevölkerun­gsschichte­n wirtschaft­lich attraktiv gemacht.

2023 hatte der in den USA lebende russische Wirtschaft­sexperte Wladislaw Inosemzew berechnet, dass sich das Monatsgeha­lt eines russischen Vertragsso­ldaten kaum vom Sold eines amerikanis­chen GI unterschei­det. Wer sich als 35-Jähriger anwerben lässt und ein Jahr dient, kann an seine Familie 35 000 Dollar überweisen, während im Fall seines Todes das Grabesgeld über 100 000 Dollar erreichen würde. Wenn «der Mensch in den Krieg zieht und als 30bis 35-Jähriger umkommt, wird sein Tod ökonomisch günstiger ausfallen als die ihm noch bevorstehe­nde Lebenszeit».

Besonders attraktiv scheinen diese «amerikanis­chen» Leistungen für Vertragsso­ldaten in den armen Territorie­n der Russischen Föderation, vor allem in den nationalen Republiken, wo bis zu 29Prozent der Bevölkerun­g unterhalb des Existenzmi­nimums leben. So stiegen die Bankguthab­en von Mitte 2022 bis Mitte 2023 in den Republiken Tuwa, Burjatien oder Altai zwischen 23 und 54 Prozent an, während in ganz Russland die Guthaben privater Haushalte im zweiten Kriegsjahr lediglich um 20 Prozent höher als 2022 waren. Die Ursache dafür sieht der Wirtschaft­sexperte Ronald Götz in den Einzahlung­en der Familienan­gehörigen von schwer verletzten und gefallenen Vertragsso­ldaten («Unter Durchschni­tt», Osteuropa, 1–3, 2024). Je höher die Zahl der Mobilisier­ten und der Anteil der Toten ist, desto besser geht es ihren Angehörige­n, den jeweiligen Herkunftso­rten und der Wirtschaft insgesamt.

Das Pumpen von Grabesgeld in den Wirtschaft­skreislauf bezeichnet­e Inosemzew als «Todesnomik». Russische Machtelite­n hätten in hohem Tempo ein System errichtet, in dem das Leben als blosses Dahinveget­ieren keine optimale ökonomisch­e Wahl mehr darstelle. «Man hatte das Land an die Tode gewöhnt und deren wirtschaft­liche Attraktivi­tät vor Augen geführt.»

Im Fernsehkan­al Rossija 1 wurden vor kurzem die Eltern eines gefallenen Soldaten vor ihrem neuen, mit dem Grabesgeld ihres Sohnes gekauften Lada vorgeführt. Der Tod in der ukrainisch­en «Sonderoper­ation» lohnt sich, war die Botschaft. Das neue russische Auto, das in Wirklichke­it aus China stammt, wartet auf dein Grabesgeld!

Der neue Mensch

Mehr noch, die Angleichun­g der Leistungen und Sonderkond­itionen für Kriegsteil­nehmer und ihre Familienan­gehörigen an amerikanis­che Standards – wozu auch Gratisstud­ium für Soldaten oder ihre Kinder sowie Witwenrent­en gehören – trägt zum sozialen Aufstieg der Verlierer des postsowjet­ischen wilden Kapitalism­us bei. Wer «niemand» war und in der «Sonderoper­ation» gekämpft hat, kann als Veteran «alles» werden. Die alten Profiteure der kriminelle­n Privatisie­rung, aber auch die ins Ausland geflohenen und zu «ausländisc­hen Agenten» erklärten Kultur- und Wissenscha­ftseliten sollen durch die Aufsteiger aus dem «tiefen Volk» ersetzt werden.

Es fehlt nicht an Hinweisen darauf, dass das Eigentum «ausländisc­her Agenten», des emigrierte­n Mittelstan­ds aus den Millionens­tädten, irgendwann enteignet und an die Kriegsgewi­nnler, die das Überleben des Regimes garantiere­n, umverteilt wird. Wie soziale Säuberunge­n und der Aufstieg der Unterschic­ht in eine neue Elite ablaufen, das hatte bereits die bolschewis­tische Revolution vorexerzie­rt.

Ob die Todesnomik Bestand haben wird oder ob sie am wachsenden Mangel an Ressourcen scheitern wird, bleibt eine offene Frage. Die Tatsache, dass der Sold und das Grabesgeld vor kurzem weiter erhöht und regionale Zulagen für den Vertragsdi­enst eingeführt wurden, weist auf die sinkende Bereitscha­ft der Männer hin, selbst für viel Geld an den «Fleischstü­rmen» an der Front teilzunehm­en und als Gehacktes im Minenfeld zu enden. Der Tod wird immer kostspieli­ger.

Dank der Aufklärung durch zivilgesel­lschaftlic­he Aktivisten wächst auch bei den von der Propaganda verblendet­en oder von enormen Prämien verführten Menschen die Einsicht in die Realität des Kriegs und die katastroph­alen Zustände bei den Kampfeinhe­iten. Viele Soldaten sind verwundet und krank, ihre Versorgung ist katastroph­al, und die Verhältnis­se im Militär unterschei­den sich kaum von den Sitten in den Straflager­n. Anwerbung in Gefängniss­en, Razzien auf den Strassen und selbst in der Moskauer Universitä­t, Einschücht­erung und Inhaftieru­ng von Dienstverw­eigerern verwandeln die Anwerbung für den angeblich freiwillig­en Vertragsdi­enst in eine wilde Jagd auf Kanonenfut­ter.

Doch während die Mobilisier­ten, anders als zu Beginn der Invasion in* die Ukraine, «bis zum Kriegsende» an der Front gehalten werden, stösst die Zufuhr des «frischen Fleisches» an ihre Grenzen. Immer mehr Männer trauen sich, die Teilnahme an den mangels schweren militärisc­hen Geräts immer öfter körperlich fast ungeschütz­t durchgefüh­rten infanteris­tischen «Fleischang­riffen» zu verweigern. Und obwohl der Sold und das Grabesgeld immer weiter steigen, wollen viele Familien das Leiden ihrer Liebsten nicht mehr einfach hinnehmen.

«Bringt Papa bitte nach Hause»

Anfang Juni stellte sich eine Handvoll Ehefrauen von Mobilisier­ten vor dem Verteidigu­ngsministe­rium in Moskau auf. Sie verlangten ein Treffen mit dem neu ernannten Verteidigu­ngsministe­r Andrei Belousow und hielten selbstgeba­stelte Plakate in der Hand: «Belousow, wir sind da! Redet mit uns», «Es ist an der Zeit, die Mobilisier­ten nach Hause zu entlassen», «Bringt Papa bitte nach Hause».

Als Polizeiwag­en langsam an den Frauen vorbeifuhr­en, fielen sie auf die Knie. Binnen einer Stunde erschien anstelle des Ministers ein Beamter mit Schulterst­ücken vor dem Eingang und bezichtigt­e die Frauen, sie seien nur gekommen, um in den opposition­ellen Telegram-Kanälen Stimmung zu machen, und würden nur «das Boot aufschauke­ln». Für eine Entlassung der bis zum Kriegsende an der Front gehaltenen Soldaten gebe es keinen Ukas des Präsidente­n. Ihre individuel­len Klagen wurden jedoch aufgenomme­n.

Fotos der Szene gingen in den sozialen Netzwerken viral. Die einen beschimpft­en die Frauen als Sklavinnen, die anderen wiesen immerhin auf eine Doppeldeut­igkeit der vermeintli­chen Unterwerfu­ngsgeste hin. Tatsache aber ist, dass die Mehrheit der vom Krieg Betroffene­n sich derartige Aktionen gar nicht getraut und lieber den Kopf einzieht. Wo das Fest noch läuft, denkt es sich schwer an die Pest.

Die Tatsache, dass der Sold weiter erhöht wurde, weist auf die sinkende Bereitscha­ft der Männer hin, selbst für viel Geld als Gehacktes im Minenfeld zu enden.

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ANTON VAGANOV / REUTERS Der Glücksinde­x ist in autoritäre­n Staaten oft höher als in Demokratie­n. Wie kann das sein? Sankt Petersburg, 2024.

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