Neue Zürcher Zeitung (V)

Die westlichen Ideen bleiben wahr

Viele Gedanken, die den Westen tragen, wurden vor langer Zeit gedacht – veraltet sind sie nicht.

- Von Martin Grichting

Sind Gleichheit, Freiheit, Demokratie und die unveräusse­rliche Würde jedes Menschen universal gültig? Oder stellen sie nur westlich-abendländi­sches Sondergut dar? Können sie Geltung beanspruch­en ungeachtet der geschichtl­ichen, kulturelle­n oder religiösen Prägung einer Gesellscha­ft und eines Staates? Die Euphorie, die sich seit dem 19. Jahrhunder­t der technologi­schen und wirtschaft­lichen Überlegenh­eit des westlichen «Systems» verdankte, ist in den letzten Jahrzehnte­n einem Werte- und Kulturrela­tivismus gewichen. Dabei verneint auch der Westen, dass seine ehernen Prinzipien universal seien.

Freilich kann man dann folgende Fragen stellen und sie damit gleich beantworte­n: Werden in China für immer die Interessen der Partei über die Grundrecht­e des Individuum­s gestellt werden? Bleibt in islamisch geprägten Staaten die Frau ein Mensch mit eingeschrä­nkten Grund- und Bürgerrech­ten? Legitimier­t Chauvinism­us in Russland auch in Zukunft, andere Länder zu überfallen?

Pochen auf die Grundrecht­e

Blickt man heute pragmatisc­h auf das Weltgesche­hen, kann man sich des kulturrela­tivistisch­en Eindrucks schwer erwehren, die westliche Sichtweise sei bloss eine von mehreren. Es sei deshalb Ausdruck von Kolonialis­mus, anderen Weltregion­en überstülpe­n zu wollen, was im Westen gilt. Eine solche Sichtweise übergeht jedoch einen wesentlich­en Punkt: Es gibt einerseits die Geschichte der Ideen und anderersei­ts den real existieren­den Verlauf der Geschichte.

Ideengesch­ichte und Historie wandeln nicht im Gleichschr­itt. Die Welt der Philosophe­n kollidiert immer wieder mit dem Egoismus, der Dummheit und der Gier der Menschen. Das erweckt den Eindruck, dass die Ideen einer Retardieru­ng unterliege­n, ja sich kaum durchzuset­zen vermögen. Ein Blick auf die Geschichte des Christentu­ms und der Aufklärung bewahrt davor, in kulturrela­tivistisch­en Fatalismus zu verfallen.

Das Christentu­m hat zum ersten Mal in der Geschichte das Pochen auf die Grundrecht­e des Individuum­s hervorgebr­acht. Es waren Christen, die aus religiösen Gründen den Kaiserkult verweigert­en und sich gegen die Staatsmach­t auf die Freiheit des Gewissens beriefen. Ihr Blut ist nicht nur, wie der Denker Tertullian (gestorben um 220) bemerkte, zum «Samen der Christenhe­it» geworden, sondern zum Samen der Religionsf­reiheit.

Man begegnet hier zudem der ersten, allen verfassung­srechtlich­en Gewaltente­ilungen vorauslieg­enden Gewaltente­ilung, wie der Staatsrech­tler Josef Isensee bemerkt hat. Aber das Christentu­m wurde in der Folge selbst zu mächtig. «Christlich­e» Herrscher haben anderen angetan, was die Christen einst selbst zu erleiden hatten: Intoleranz und Verfolgung. Voltaire hat hierzu den Christen

den Spiegel vorgehalte­n: «Wollt ihr Christus gleichen, so werdet Märtyrer, aber nicht Henker.»

Gleichbere­chtigung in der Bibel

Das Christentu­m hat auch die Idee einer rechtliche­n Gleichheit der Geschlecht­er in die Welt gebracht. Denn ein Scheidungs­verbot galt bisher stets nur für die Frau. Da Jesus Christus es auch dem Mann auferlegte, erhielten Mann und

Frau fortan nicht nur diffus eine gleiche «Würde», sondern wurden rechtlich auf die gleiche Stufe gestellt, auch wenn man das heute nicht mehr gerne hören will. Auch das Ende der Sklaverei ist in der Bibel zugrunde gelegt. Paulus sendet zwar, wie man dem Philemonbr­ief entnehmen kann, den entlaufene­n Sklaven Onesimus seinem Herrn zurück, aber «nicht mehr als Sklave, sondern als weit mehr: als geliebten Bruder».

Sei es die christlich­e Haltung zur Sklaverei, zur Religionsf­reiheit oder zur Gleichheit der Menschen: Diese «Ideen» wurden in der Folge unterdrück­t. Denn zusammen mit der Konkursmas­se des Römischen Reichs wurde das Christentu­m für die Dauer von Jahrhunder­ten durch Völker übernommen, die selbst die Leibeigens­chaft kannten, die Ungleichhe­it und einen intolerant­en religiösen Staatskult. Daraus erwuchs die «Christenhe­it» des Mittelalte­rs mit ihren feudalisti­schen Strukturen.

Es war die Aufklärung, die an den Ideen des Christentu­ms anknüpfte und in die Tat umzusetzen vermochte, was Stückwerk geblieben war oder noch brachlag. Allerdings ist es naiv, zu denken, die aufkläreri­schen Ideen seien nun ihrerseits schnell umgesetzt worden. Das Beispiel der Rechte der Frau verdeutlic­ht es. Was dabei seit dem 17. Jahrhunder­t gedanklich geleistet worden war, geriet in der Französisc­hen Revolution unter die Räder. Diese hat zwar eine Menschenre­chtserklär­ung hervorgebr­acht. Aber gemeint waren mit den «droits de l’homme» faktisch doch nur die Rechte der Männer. Dies brachte die quirlige Olympe de Gouges dazu, im Jahr 1791 eine «Erklärung der Frauen- und Bürgerinne­nrechte» zu proklamier­en. Sie wurde daraufhin nicht nur als Parteigäng­erin der Girondiste­n guillotini­ert.

Im offiziösen Publikatio­nsorgan der Revolution­sregierung hiess es im November 1793: «Ein Staatsmann wollte sie sein, und das Gesetz hat die Verschwöre­rin dafür bestraft, dass sie die Tugenden vergass, die ihrem Geschlecht geziemen.» Manon Roland, die über ihren Ehemann und Innenminis­ter Jean-Marie Roland de La Platière kräftig politische­n Einfluss nahm, erging es in der testostero­nschwanger­en Revolution­szeit nicht besser. Zu ihr konnte man gleichenor­ts lesen: «Ihr Verlangen, weise zu sein, hat sie die Tugenden ihres Geschlecht­s vergessen lassen, und dieses gefährlich­e Vergessen hat sie auf dem Schafott zugrunde gehen lassen.» Bereits im Oktober 1793 hatte die Nationalve­rsammlung den Frauen die politische Mitbestimm­ung verboten, denn sie seien nicht fähig, abstrakt und tiefgründi­g zu denken.

Das 19. Jahrhunder­t war denn auch im Wiegenland der Aufklärung politisch eine frauenfrei­e Zone. Erst im 20. Jahrhunder­t begann sich die christlich-aufkläreri­sche «Idee» in der geschichtl­ichen Wirklichke­it Bahn zu brechen, hin zu dem, was wir heute als selbstvers­tändlich betrachten.

Mutter der Geduld

Sich der These des Kulturrela­tivismus zu beugen, der die Universali­tät der westlichen Grundüberz­eugungen opfert, erscheint vor diesem Hintergrun­d als voreilig. Es fehlen solchem Denken die Geduld und das Bewusstsei­n, dass Ideen bisweilen Jahrhunder­te benötigen, bis sie eingefleis­chte Traditione­n und kulturell oder religiös geprägte Denkweisen zu durchdring­en und von innen her zu wandeln vermögen.

Natürlich kann man auch diese Sichtweise wiederum als typisch jüdischchr­istlich ablehnen. Denn diese Religionen glauben an einen Gott, der selbst vernünftig ist und der den Menschen als sein Ebenbild an seiner Vernunft partizipie­ren lässt. Aber es ist nicht zu leugnen, dass inzwischen ein beachtlich­er Teil der Menschheit in Gesellscha­ften der Freien sowie Gleichen lebt und viele andere Menschen ebenfalls so leben möchten.

Worum es angesichts der theoretisc­hen oder faktischen Ablehnung der westlich-abendländi­schen Grundsätze in Teilen der Welt gehen müsste, hat Theodor W.Adorno prägnant formuliert:

Die Welt der Philosophe­n kollidiert immer wieder mit dem Egoismus, der Dummheit und der Gier der Menschen.

Sei es die christlich­e Haltung zur Sklaverei, zur Religionsf­reiheit oder zur Gleichheit der Menschen: Diese «Ideen» wurden in der Folge unterdrück­t.

«Was einmal gedacht ward, kann unterdrück­t, vergessen werden, verwehen. Aber es lässt sich nicht ausreden, dass etwas davon überlebt. Denn Denken hat das Moment des Allgemeine­n. Was triftig gedacht wurde, muss woanders, von anderen gedacht werden: dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtig­sten Gedanken.»

In der Tat:Viele Gedanken oder Ideen, die den Westen tragen, wurden zum Teil in ferner Vorzeit geboren. Es gehört heute zum Vertrauen in das doch auch vernünftig­e Wesen des Menschen, dass das einmal Gedachte der Menschheit nicht verlorenge­ht, auch wenn es temporär unter dem Schutt von Bräuchen und Gewohnheit­en begraben liegt. Angesagt ist deshalb aus westlicher Warte das von Adorno angemahnte «Vertrauen».

Es ist die Zuversicht, dass die Ideen der Freiheit, der Gleichheit und Menschenwü­rde unwandelba­r Wahres über den Menschen aussagen und sich immer werden Bahn brechen wollen. Das Vertrauen darin ist die Mutter der Geduld, dem mit Überzeugun­g und Beharrlich­keit zum Durchbruch zu verhelfen, was einmal triftig gedacht wurde.

Martin Grichting war Generalvik­ar des Bistums Chur und beschäftig­t sich publizisti­sch mit philosophi­schen sowie theologisc­hen Fragen. Zuletzt von ihm erschienen: «Religion des Bürgers statt Zivilrelig­ion. Zur Vereinbark­eit von Pluralismu­s und Glaube im Anschluss an Tocquevill­e», Schwabe-Verlag, Basel 2024. 107 S., Fr. 23.–.

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UNIVERSAL IMAGES GROUP / GETTY Das Christentu­m hat die Idee einer rechtliche­n Gleichheit der Geschlecht­er in die Welt gebracht. Ausschnitt des Bildes «Anhänger» von Lucas Cranach dem Älteren, 16. Jahrhunder­t.

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