Der neue Kollektivismus
Die Corona-Pandemie war ein Lackmustest für die westlichen Gesellschaften. Das Individuum wurde quasi zu einem öffentlichen Ärgernis.
Im Jahr 2022 ernannte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Psychologieprofessorin Susan Michie vom University College in London zur neuen Vorsitzenden ihres Technischen Teams für Verhaltensforschung (Behavioral Insights). Michie, die sich auf die Beeinflussung von sozialem Verhalten, das sogenannte Nudging, spezialisiert hat, arbeitet seither an globalen PR-Strategien für ein rigoroses und zentral gelenktes Public-Health-Regime, das in Form des WHO-Pandemievertrags, der dieses Jahr in Kraft treten soll, festgeschrieben ist.
Susan Michie ist allerdings nicht nur die Nudging-Beauftragte der WHO. Sie ist auch ein langjähriges Mitglied der Kommunistischen Partei Grossbritanniens. In einem Interview mit dem britischen Nachrichtenportal Unherd wies Michie den naheliegenden Vorwurf, sie wolle die öffentliche Meinung durch ihre politische Einstellung gezielt beeinflussen, erwartungsgemäss zurück: «Meine Politik hat nichts mit meinem wissenschaftlichen Auftrag zu tun.»
Ausgehöhltes Naturrecht
In demselben Interview stellte Michie auch klar, dass soziales Verhalten in Pandemiesituationen kollektivistisch organisiert sein müsse: «Die Realität ist, dass diese Pandemie allen gezeigt hat: Kein Individuum ist eine Insel.Wir sind sehr vernetzt. Keine Gemeinschaft oder sozioökonomische Gruppe innerhalb der Gesellschaft kann glauben, dass sie das Problem selbst lösen und sich selbst schützen kann.»
Für Michie geht es darum, gruppenorientierte Lösungen für gesundheitliche Probleme zu finden. Dabei werden «Kollektivrechte» gegen die Rechte des Einzelnen in Stellung gebracht – und letztere heruntergespielt. Heute, im Jahr 4 seit dem Corona-Ausbruch in Europa, lässt sich sagen, dass kollektivistische Denkmuster nicht nur weitgehende gesellschaftliche Akzeptanz geniessen, sondern den Fussabdruck liefern, auf dem das politische und gesellschaftliche Leben neu organisiert wird.
Seit der Corona-Pandemie wird das sogenannte Naturrecht – Rechte, die der menschlichen Natur innewohnen und unveräusserlich sind, wie das Recht auf Würde, Leben und Freiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Anerkennung als juristische Person, das Verbot von Folter – von der Exekutive auf Kosten der Legislative und der
Judikative immer mehr ausgehöhlt. Und es ist die Linke, die diesen folgenreichen und nun von fast allen politischen Parteien getragenen gesellschaftlichen Wandel herbeigeführt hat.
In der sozialistischen und kommunistischen Ideengeschichte waren Kollektivismus und «das Kollektiv» als radikale Gegenentwürfe zur bürgerlichen Welt, die im 19. Jahrhundert die Idee des Individuums hervorbrachte, stets positiv besetzt. Kollektivistische Lebensformen wurden als wünschenswerte Ziele für eine zukünftige «sozialistische» Gesellschaft formuliert. Heute, wo die politische Linke den medialen Ton angibt und Vertreter radikallinker Gruppierungen in Schlüsselpositionen einflussreicher Uno-Institutionen sitzen, zeigt sich, dass das Individuum zu einem öffentlichen Ärgernis geworden ist – und zwar aufgrund einer prinzipiell freiheitsfeindlichen Interpretation des Gesellschaftsbegriffs in der linken Tradition.
«Für mich und andere»
Bei Marx selbst findet sich trotz dem Ballast der Rede von «Klassen» ein kollektivistischer, individuumsfeindlicher Ansatz nicht. So sagt Marx zwar, dass eine Gesellschaft nicht aus Individuen bestehe, sondern aus den Beziehungen zwischen ihnen – und die Linke folgerte daraus, dass man das Individuum als gesellschaftlich relevanten Akteur abschaffen oder zumindest vernachlässigen könne. Ohne das Individuum als Voraussetzung gibt es allerdings auch keine Beziehung zwischen den Individuen; ohne die Einheit der Person – ihre physische und psychische Integrität und Einheit – können wir überhaupt keine sozialen Beziehungen eingehen. Selbst das Individuum als «Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse» («Thesen über Feuerbach», 1845) setzt einzelne Träger besagter gesellschaftlicher Verhältnisse voraus.
Die Auswirkungen dieses diskursiven Wandels weg von Individualrechten hin zu den «Rechten des Kollektivs» lassen sich an den Debatten über die Impfpflicht ablesen. Die dominante Fassung des Arguments bestand darin, dass die Impfung «mich und andere» schütze, wobei vor allem der Fremdschutz betont wurde: Die Rede war von «vulnerablen Gruppen» (Ältere, «Vorerkrankte»), die besonders durch die Folgen einer Erkrankung gefährdet seien. Die Impfung, so wurde deutlich nahegelegt, sei ein «sozialer Akt», eine «solidarische» Handlung – und wer sie verweigere, sei kurzum Egoist.
Die bittere Ironie bestand jedoch darin, dass zum «Schutz der anderen», insbesondere der schutzbedürftigen Gruppen, jeder dazu aufgefordert wurde, seine eigene körperliche Integrität zu verletzen: eben auch die schutzbedürftigen Gruppen selbst. In dieser Logik verschwindet der «Schutzbedürftige», um dessentwillen jeder sich impfen lassen sollte, aus der Gleichung. Jeder – auch Individuen aus den sogenannten «vulnerablen Gruppen» – musste sich den übergriffigen Staat gefallen lassen: auch die Älteren und Vorerkrankten.
Dieser neue kollektivistische Anspruch hat nicht mehr nur allein das «Wohl des Kollektivs» auf Kosten des Individuums im Sinn. Vielmehr geht es bei diesem neuen Kollektivismus darum, ihn als «Schutz» bestimmter Minoritäten zu positionieren – ein Selbstwiderspruch, denn entweder haben auch «Vulnerable» Individualrechte oder niemand.
Die offenen Widersprüche des kollektivistischen Weltbildes und die bewusste Abkehr seiner Vertreter von den demokratischen Grundlagen der Gesellschaft hat die deutsche Juristin Frauke Rostalski in ihrem neuen Buch «Die vulnerable Gesellschaft» (2024) auf den Punkt gebracht. In einer kollektivistisch geprägten Geisteslandschaft dient das Verletzlichkeitsparadigma als totalitäres Schema mit einer bemerkenswerten Logik: Wenn der Verletzlichkeitsdiskurs – wir müssen an andere denken, niemals an uns selbst – dazu benutzt wird, unsere eigenen individuellen Rechte und Freiheiten zu beschneiden, bedeutet dies eine Verletzung der Rechte und Freiheiten aller – und dies wiederum macht die Gesellschaft als Ganzes anfälliger für staatlich-autoritäre Massnahmen.
Verordnete Solidarität
Typisch für diese Haltung war etwa die Aussage der ehemaligen Richterin am Bundesgerichtshof Christina Stresemann: «Es ist doch eine Binsenweisheit, dass meine Freiheit immer nur so weit reicht, bis sie die Sphäre der anderen berührt. Ich wundere mich, dass man es als Zumutung empfindet, sich ein wenig einzuschränken im Interesse der anderen.»
Im Interesse der anderen, die sich allerdings auch einschränken müssen. Die Weitergabe des Schutzanspruchs an einen jeweils nicht näher bestimmten «anderen» (Wer ist stärker gefährdet? Jemand mit zwei Vorerkrankungen oder jemand mit einer einzigen, aber dafür schlimmeren Vorerkrankung? Wer soll hier wen schützen?) wird so zum infiniten Regress: Am Ende ist niemand mehr schutzbefohlen, wir alle müssen uns eben einschränken und konsequent auf Schutz verzichten.
Das Schlüsselwort für eine solch zunehmende mit Angriffen auf die individuelle Freiheit einhergehende Verwahrlosung des Denkens ist der wohlklingende Terminus «Solidarität». Wie viele andere Begriffe bekam auch die Solidarität in der CoronaZeit eine Bedeutung verliehen, die so gar nichts mehr mit ihrem ursprünglichen Sinn zu tun hat. In ihrer ursprünglichen Bedeutung ist «Solidarität» etwas, das dem anderen freiwillig, nicht durch staatlichen Zwang, verliehen wird. Und sie wird gegen die Mächtigen ausgeübt, nicht zu deren Unterstützung. Rostalski: «Im eigentlichen Wortsinn droht ins ‹Autoritäre› zu kippen, wer Menschen eine Zwangssolidarität mit beliebig von einem Kollektiv bestimmbarem Inhalt verordnet.»
«Solidarität» in seiner neuen Bedeutung besagt daher eigentlich Unterwerfung – im Namen einer moralisch «richtigen», vom Staat diktierten Causa. Um diese Unterwerfung schmackhaft zu machen, wurde der bereits hinreichend abschätzig verwendete Begriff des Neoliberalismus mit dem Begriff «individuelle Selbstbestimmung» in Verbindung gebracht, um den letzteren zu entsorgen und ein unverhohlenes Plädoyer für staatliche Übergriffigkeit zu halten.
So schrieb Philipp Lepenies in seinem Aufsatz «Verzicht als erste Bürgerpflicht» (2022) mit dem Blick auf den Klimawandel: «Wir dürfen nicht länger im Staat einen Gegner sehen, sondern wir müssen uns . . . selbst im Staat erkennen. Dazu gehört auch die Massgabe, unseren Extremindividualismus zu kontrollieren. Zur Not, in der wir uns gegenwärtig angesichts der Kumulation der Krisen ganz offensichtlich befinden, auch durch Verbot und Verzicht.»
Die Wiederbelebung des kollektivistischen Weltbildes – 35 Jahre nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes und ausgerechnet unter westlichen Intellektuellen – ist erstaunlich. Dass heute staatliche Kontrolle und Freiheitsverlust von der professionellen Managerklasse, von NGO, Universitäten und Schulen und in den Redaktionen der meisten Medienunternehmen beklatscht und gefördert werden, dass die Abkehr von der individuellen Freiheit – auch der individuellen Freiheit von Minoritäten – so offen, öffentlich und schamlos zum Ausdruck gebracht wird, ebnet den Weg für die wahrscheinlich gefährlichsten Konsequenzen, die die neue Normalität für uns bereithält: die Entsorgung der Demokratie.
Bei Karl Marx selbst findet sich trotz dem Ballast der Rede von «Klassen» kein kollektivistischer, individuumsfeindlicher Ansatz.