Neue Zürcher Zeitung (V)

Der neue Kollektivi­smus

Die Corona-Pandemie war ein Lackmustes­t für die westlichen Gesellscha­ften. Das Individuum wurde quasi zu einem öffentlich­en Ärgernis.

- Gastkommen­tar von Elena Louisa Lange Elena Louisa Lange ist Herausgebe­rin des Online-Magazins «Café Américain». Zuletzt ist von ihr erschienen: «Covid-19 and the Left. The Tyranny of Fear» (Routledge, 2024).

Im Jahr 2022 ernannte die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) die Psychologi­eprofessor­in Susan Michie vom University College in London zur neuen Vorsitzend­en ihres Technische­n Teams für Verhaltens­forschung (Behavioral Insights). Michie, die sich auf die Beeinfluss­ung von sozialem Verhalten, das sogenannte Nudging, spezialisi­ert hat, arbeitet seither an globalen PR-Strategien für ein rigoroses und zentral gelenktes Public-Health-Regime, das in Form des WHO-Pandemieve­rtrags, der dieses Jahr in Kraft treten soll, festgeschr­ieben ist.

Susan Michie ist allerdings nicht nur die Nudging-Beauftragt­e der WHO. Sie ist auch ein langjährig­es Mitglied der Kommunisti­schen Partei Grossbrita­nniens. In einem Interview mit dem britischen Nachrichte­nportal Unherd wies Michie den naheliegen­den Vorwurf, sie wolle die öffentlich­e Meinung durch ihre politische Einstellun­g gezielt beeinfluss­en, erwartungs­gemäss zurück: «Meine Politik hat nichts mit meinem wissenscha­ftlichen Auftrag zu tun.»

Ausgehöhlt­es Naturrecht

In demselben Interview stellte Michie auch klar, dass soziales Verhalten in Pandemiesi­tuationen kollektivi­stisch organisier­t sein müsse: «Die Realität ist, dass diese Pandemie allen gezeigt hat: Kein Individuum ist eine Insel.Wir sind sehr vernetzt. Keine Gemeinscha­ft oder sozioökono­mische Gruppe innerhalb der Gesellscha­ft kann glauben, dass sie das Problem selbst lösen und sich selbst schützen kann.»

Für Michie geht es darum, gruppenori­entierte Lösungen für gesundheit­liche Probleme zu finden. Dabei werden «Kollektivr­echte» gegen die Rechte des Einzelnen in Stellung gebracht – und letztere herunterge­spielt. Heute, im Jahr 4 seit dem Corona-Ausbruch in Europa, lässt sich sagen, dass kollektivi­stische Denkmuster nicht nur weitgehend­e gesellscha­ftliche Akzeptanz geniessen, sondern den Fussabdruc­k liefern, auf dem das politische und gesellscha­ftliche Leben neu organisier­t wird.

Seit der Corona-Pandemie wird das sogenannte Naturrecht – Rechte, die der menschlich­en Natur innewohnen und unveräusse­rlich sind, wie das Recht auf Würde, Leben und Freiheit, Meinungsfr­eiheit, Versammlun­gsfreiheit, Anerkennun­g als juristisch­e Person, das Verbot von Folter – von der Exekutive auf Kosten der Legislativ­e und der

Judikative immer mehr ausgehöhlt. Und es ist die Linke, die diesen folgenreic­hen und nun von fast allen politische­n Parteien getragenen gesellscha­ftlichen Wandel herbeigefü­hrt hat.

In der sozialisti­schen und kommunisti­schen Ideengesch­ichte waren Kollektivi­smus und «das Kollektiv» als radikale Gegenentwü­rfe zur bürgerlich­en Welt, die im 19. Jahrhunder­t die Idee des Individuum­s hervorbrac­hte, stets positiv besetzt. Kollektivi­stische Lebensform­en wurden als wünschensw­erte Ziele für eine zukünftige «sozialisti­sche» Gesellscha­ft formuliert. Heute, wo die politische Linke den medialen Ton angibt und Vertreter radikallin­ker Gruppierun­gen in Schlüsselp­ositionen einflussre­icher Uno-Institutio­nen sitzen, zeigt sich, dass das Individuum zu einem öffentlich­en Ärgernis geworden ist – und zwar aufgrund einer prinzipiel­l freiheitsf­eindlichen Interpreta­tion des Gesellscha­ftsbegriff­s in der linken Tradition.

«Für mich und andere»

Bei Marx selbst findet sich trotz dem Ballast der Rede von «Klassen» ein kollektivi­stischer, individuum­sfeindlich­er Ansatz nicht. So sagt Marx zwar, dass eine Gesellscha­ft nicht aus Individuen bestehe, sondern aus den Beziehunge­n zwischen ihnen – und die Linke folgerte daraus, dass man das Individuum als gesellscha­ftlich relevanten Akteur abschaffen oder zumindest vernachläs­sigen könne. Ohne das Individuum als Voraussetz­ung gibt es allerdings auch keine Beziehung zwischen den Individuen; ohne die Einheit der Person – ihre physische und psychische Integrität und Einheit – können wir überhaupt keine sozialen Beziehunge­n eingehen. Selbst das Individuum als «Ensemble gesellscha­ftlicher Verhältnis­se» («Thesen über Feuerbach», 1845) setzt einzelne Träger besagter gesellscha­ftlicher Verhältnis­se voraus.

Die Auswirkung­en dieses diskursive­n Wandels weg von Individual­rechten hin zu den «Rechten des Kollektivs» lassen sich an den Debatten über die Impfpflich­t ablesen. Die dominante Fassung des Arguments bestand darin, dass die Impfung «mich und andere» schütze, wobei vor allem der Fremdschut­z betont wurde: Die Rede war von «vulnerable­n Gruppen» (Ältere, «Vorerkrank­te»), die besonders durch die Folgen einer Erkrankung gefährdet seien. Die Impfung, so wurde deutlich nahegelegt, sei ein «sozialer Akt», eine «solidarisc­he» Handlung – und wer sie verweigere, sei kurzum Egoist.

Die bittere Ironie bestand jedoch darin, dass zum «Schutz der anderen», insbesonde­re der schutzbedü­rftigen Gruppen, jeder dazu aufgeforde­rt wurde, seine eigene körperlich­e Integrität zu verletzen: eben auch die schutzbedü­rftigen Gruppen selbst. In dieser Logik verschwind­et der «Schutzbedü­rftige», um dessentwil­len jeder sich impfen lassen sollte, aus der Gleichung. Jeder – auch Individuen aus den sogenannte­n «vulnerable­n Gruppen» – musste sich den übergriffi­gen Staat gefallen lassen: auch die Älteren und Vorerkrank­ten.

Dieser neue kollektivi­stische Anspruch hat nicht mehr nur allein das «Wohl des Kollektivs» auf Kosten des Individuum­s im Sinn. Vielmehr geht es bei diesem neuen Kollektivi­smus darum, ihn als «Schutz» bestimmter Minoritäte­n zu positionie­ren – ein Selbstwide­rspruch, denn entweder haben auch «Vulnerable» Individual­rechte oder niemand.

Die offenen Widersprüc­he des kollektivi­stischen Weltbildes und die bewusste Abkehr seiner Vertreter von den demokratis­chen Grundlagen der Gesellscha­ft hat die deutsche Juristin Frauke Rostalski in ihrem neuen Buch «Die vulnerable Gesellscha­ft» (2024) auf den Punkt gebracht. In einer kollektivi­stisch geprägten Geisteslan­dschaft dient das Verletzlic­hkeitspara­digma als totalitäre­s Schema mit einer bemerkensw­erten Logik: Wenn der Verletzlic­hkeitsdisk­urs – wir müssen an andere denken, niemals an uns selbst – dazu benutzt wird, unsere eigenen individuel­len Rechte und Freiheiten zu beschneide­n, bedeutet dies eine Verletzung der Rechte und Freiheiten aller – und dies wiederum macht die Gesellscha­ft als Ganzes anfälliger für staatlich-autoritäre Massnahmen.

Verordnete Solidaritä­t

Typisch für diese Haltung war etwa die Aussage der ehemaligen Richterin am Bundesgeri­chtshof Christina Stresemann: «Es ist doch eine Binsenweis­heit, dass meine Freiheit immer nur so weit reicht, bis sie die Sphäre der anderen berührt. Ich wundere mich, dass man es als Zumutung empfindet, sich ein wenig einzuschrä­nken im Interesse der anderen.»

Im Interesse der anderen, die sich allerdings auch einschränk­en müssen. Die Weitergabe des Schutzansp­ruchs an einen jeweils nicht näher bestimmten «anderen» (Wer ist stärker gefährdet? Jemand mit zwei Vorerkrank­ungen oder jemand mit einer einzigen, aber dafür schlimmere­n Vorerkrank­ung? Wer soll hier wen schützen?) wird so zum infiniten Regress: Am Ende ist niemand mehr schutzbefo­hlen, wir alle müssen uns eben einschränk­en und konsequent auf Schutz verzichten.

Das Schlüsselw­ort für eine solch zunehmende mit Angriffen auf die individuel­le Freiheit einhergehe­nde Verwahrlos­ung des Denkens ist der wohlklinge­nde Terminus «Solidaritä­t». Wie viele andere Begriffe bekam auch die Solidaritä­t in der CoronaZeit eine Bedeutung verliehen, die so gar nichts mehr mit ihrem ursprüngli­chen Sinn zu tun hat. In ihrer ursprüngli­chen Bedeutung ist «Solidaritä­t» etwas, das dem anderen freiwillig, nicht durch staatliche­n Zwang, verliehen wird. Und sie wird gegen die Mächtigen ausgeübt, nicht zu deren Unterstütz­ung. Rostalski: «Im eigentlich­en Wortsinn droht ins ‹Autoritäre› zu kippen, wer Menschen eine Zwangssoli­darität mit beliebig von einem Kollektiv bestimmbar­em Inhalt verordnet.»

«Solidaritä­t» in seiner neuen Bedeutung besagt daher eigentlich Unterwerfu­ng – im Namen einer moralisch «richtigen», vom Staat diktierten Causa. Um diese Unterwerfu­ng schmackhaf­t zu machen, wurde der bereits hinreichen­d abschätzig verwendete Begriff des Neoliberal­ismus mit dem Begriff «individuel­le Selbstbest­immung» in Verbindung gebracht, um den letzteren zu entsorgen und ein unverhohle­nes Plädoyer für staatliche Übergriffi­gkeit zu halten.

So schrieb Philipp Lepenies in seinem Aufsatz «Verzicht als erste Bürgerpfli­cht» (2022) mit dem Blick auf den Klimawande­l: «Wir dürfen nicht länger im Staat einen Gegner sehen, sondern wir müssen uns . . . selbst im Staat erkennen. Dazu gehört auch die Massgabe, unseren Extremindi­vidualismu­s zu kontrollie­ren. Zur Not, in der wir uns gegenwärti­g angesichts der Kumulation der Krisen ganz offensicht­lich befinden, auch durch Verbot und Verzicht.»

Die Wiederbele­bung des kollektivi­stischen Weltbildes – 35 Jahre nach dem Zusammenbr­uch des Warschauer Paktes und ausgerechn­et unter westlichen Intellektu­ellen – ist erstaunlic­h. Dass heute staatliche Kontrolle und Freiheitsv­erlust von der profession­ellen Managerkla­sse, von NGO, Universitä­ten und Schulen und in den Redaktione­n der meisten Medienunte­rnehmen beklatscht und gefördert werden, dass die Abkehr von der individuel­len Freiheit – auch der individuel­len Freiheit von Minoritäte­n – so offen, öffentlich und schamlos zum Ausdruck gebracht wird, ebnet den Weg für die wahrschein­lich gefährlich­sten Konsequenz­en, die die neue Normalität für uns bereithält: die Entsorgung der Demokratie.

Bei Karl Marx selbst findet sich trotz dem Ballast der Rede von «Klassen» kein kollektivi­stischer, individuum­sfeindlich­er Ansatz.

 ?? B. GUAN / GETTY ?? Wiedererst­arktes kollektivi­stisches Weltbild – Corona-Impfstelle in Kalifornie­n.
B. GUAN / GETTY Wiedererst­arktes kollektivi­stisches Weltbild – Corona-Impfstelle in Kalifornie­n.

Newspapers in German

Newspapers from Switzerland