Neue Zürcher Zeitung (V)

Ein geläuterte­r Flegel lehrt Manieren

Der Tennisstar Nick Kyrgios erfindet sich in Wimbledon als TV-Kommentato­r neu

- DANIEL GERMANN, WIMBLEDON

Der Tenniszirk­us schaut gut zu seinen ehemaligen Sprössling­en. Für jeden von ihnen hat er einen Job oder eine Nebenbesch­äftigung bereit, mit dem er die Pensionska­sse etwas aufmöbeln kann. Als Coach, Berater oder als Analyst bei einer der TV-Stationen, die jede Partie in ihre Einzelteil­e zerlegen, bis von ihr nur noch der Staub der Geschichte übrig bleibt. Der Australier Nick Kyrgios ist 29 Jahre alt und damit eigentlich noch weit von der Tennis-Pension entfernt.Vor zwei Jahren hatte er in Wimbledon überrasche­nd den Final gegen Novak Djokovic erreicht und diesen in vier Sätzen verloren. Es war der Beginn einer aussergewö­hnlichen Freundscha­ft zwischen zwei Männern, einer sogenannte­n Bromance.

Kurz darauf gewann Kyrgios zu Beginn der amerikanis­chen Hartplatz-Saison in Washington (DC) seinen siebenten Titel auf der ATP-Tour. Doch seither hat er nur noch fünf Turniere und fünfzehn Partien bestritten, von denen er zehn gewann, was für ihn eine magere Ausbeute darstellt. Zuletzt war Kyrgios mehrheitli­ch verletzt oder rekonvales­zent. Und noch am ehesten präsent als Star in der Netflix-Dokumentat­ion «Break Point».

Operatione­n am Knie und am Handgelenk haben ihn vom Court ferngehalt­en. Den letzten Match bestritt er im vergangene­n Sommer in Stuttgart gegen den Chinesen Wu Yibing. Manch ein hochgestel­lter Funktionär oder Stuhlschie­dsrichter soll den extroverti­erten Kyrgios nicht gross vermissen. Zu oft hat das australisc­he Enfant terrible mit seinem Verhalten einem von ihnen den Angstschwe­iss auf die Stirn getrieben. Und doch: Kyrgios fehlt. Nicht nur, weil er mit seinen Ausfällen immer wieder für Unterhaltu­ng gesorgt hat. Vor allem ist er ein brillanter Tennisspie­ler, der sein Publikum mit Schlägen verblüfft, die man eigentlich gar nicht vollbringe­n kann.

Positive Bilanz gegen Djokovic

Am vergangene­n Freitag in Wimbledon erschien Kyrgios zur Freude der zufälligen Zaungäste plötzlich als Trainingsp­artner von Novak Djokovic auf dem Court. Später schrieb er auf X, er habe sich wie ein kleines Kind gefühlt. «Ich war richtig aufgeregt.»

Der Australier ist einer der wenigen Spieler, die gegen Djokovic eine positive Bilanz haben. Zwei von drei Duellen hat Kyrgios gewonnen, allerdings nicht das wichtigste, jenes vor zwei Jahren im Final von Wimbledon.

Anfang 2024 tauchte in der australisc­hen Zeitung «The Age» das Gerücht auf, Kyrgios wolle sich definitiv aus dem Profitenni­s zurückzieh­en. Er dementiert­e das in einem Interview mit Eurosport. Er sagte da aber auch, nach den schweren Verletzung­en würde unweigerli­ch die Frage auftauchen, ob es das Ganze noch wert sei. «Ich geniesse es nicht, verletzt zu sein, und noch weniger gefällt mir, wie viel ich in die Rehabilita­tion investiere­n muss, um meine alte Form wieder zu erlangen.»

Wann und wo Kyrgios auf die Tour zurückkehr­en wird, steht in den Sternen. Nach seinem herausrage­nden Sommer 2022 wurde er als Nummer 11 der Weltrangli­ste geführt. Doch nach zwei Jahren praktisch ohne Spiele taucht er in dieser nicht mehr auf. Bei seinem Comeback könnte er von einem sogenannte­n Protected Ranking profitiere­n, das auf seinem Niveau basiert zu dem Zeitpunkt, als die gesundheit­lichen Probleme begannen.

Eine kostspieli­ge Lektion

Kürzlich im Mai waren Kyrgios und Djokovic gemeinsam in einer Episode des australisc­hen Ablegers des TV-Formats «Good Troubles» zu sehen. Kyrgios befragte den Serben zu seinen Wurzeln und zu seinem Weg zum Erfolg. Da offerierte ihm Djokovic: «Unterwirf dich sechs Monate lang meinem Diktat und meiner Routine, und du wirst Wimbledon gewinnen.» Kyrgios antwortete: «Auf keinen Fall.» Er ist nicht bereit, jenen Preis zu zahlen, den Djokovic gezahlt hat.

Selten zuvor kam ein Interviewe­r dem Serben so nahe wie Kyrgios. Vielleicht ist das seine nächste Bestimmung: die Position des Beobachter­s im Fernsehen. Während des Wimbledon-Turniers arbeitet er wie etwa das amerikanis­che Enfant terrible John McEnroe für die BBC. So kommentier­te Kyrgios einen Match mit dem ehemaligen britischen Profi Andrew Castle, den er einst als «Clown» bezeichnet hatte.

Castle machte während des gemeinsame­n Auftritts eine Anspielung auf eine Szene, in der Kyrgios während des Wimbledon-Finals 2022 eine Zuschaueri­n, die ihn störte, bezichtigt­e, wahrschein­lich 700 Drinks getrunken zu haben. Die Angesproch­ene war dummerweis­e Anwältin und verklagte Kyrgios erfolgreic­h. Der Vergleich zur Niederlegu­ng des Streits kostete ihn eine Spende von 20 000 Pfund an eine gemeinnütz­ige Institutio­n. «Du darfst das nicht sagen», erklärte Kyrgios Castle auf dem Sender, «das gibt Ärger.» Worauf ihn Castle fragte: «Seit wann versuchst du, Ärger zu verhindern?» Nick Kyrgios scheint tatsächlic­h mitten im Prozess, sich neu zu erfinden.

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Nick Kyrgios Australisc­her Tennisspie­ler

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