Ein geläuterter Flegel lehrt Manieren
Der Tennisstar Nick Kyrgios erfindet sich in Wimbledon als TV-Kommentator neu
Der Tenniszirkus schaut gut zu seinen ehemaligen Sprösslingen. Für jeden von ihnen hat er einen Job oder eine Nebenbeschäftigung bereit, mit dem er die Pensionskasse etwas aufmöbeln kann. Als Coach, Berater oder als Analyst bei einer der TV-Stationen, die jede Partie in ihre Einzelteile zerlegen, bis von ihr nur noch der Staub der Geschichte übrig bleibt. Der Australier Nick Kyrgios ist 29 Jahre alt und damit eigentlich noch weit von der Tennis-Pension entfernt.Vor zwei Jahren hatte er in Wimbledon überraschend den Final gegen Novak Djokovic erreicht und diesen in vier Sätzen verloren. Es war der Beginn einer aussergewöhnlichen Freundschaft zwischen zwei Männern, einer sogenannten Bromance.
Kurz darauf gewann Kyrgios zu Beginn der amerikanischen Hartplatz-Saison in Washington (DC) seinen siebenten Titel auf der ATP-Tour. Doch seither hat er nur noch fünf Turniere und fünfzehn Partien bestritten, von denen er zehn gewann, was für ihn eine magere Ausbeute darstellt. Zuletzt war Kyrgios mehrheitlich verletzt oder rekonvaleszent. Und noch am ehesten präsent als Star in der Netflix-Dokumentation «Break Point».
Operationen am Knie und am Handgelenk haben ihn vom Court ferngehalten. Den letzten Match bestritt er im vergangenen Sommer in Stuttgart gegen den Chinesen Wu Yibing. Manch ein hochgestellter Funktionär oder Stuhlschiedsrichter soll den extrovertierten Kyrgios nicht gross vermissen. Zu oft hat das australische Enfant terrible mit seinem Verhalten einem von ihnen den Angstschweiss auf die Stirn getrieben. Und doch: Kyrgios fehlt. Nicht nur, weil er mit seinen Ausfällen immer wieder für Unterhaltung gesorgt hat. Vor allem ist er ein brillanter Tennisspieler, der sein Publikum mit Schlägen verblüfft, die man eigentlich gar nicht vollbringen kann.
Positive Bilanz gegen Djokovic
Am vergangenen Freitag in Wimbledon erschien Kyrgios zur Freude der zufälligen Zaungäste plötzlich als Trainingspartner von Novak Djokovic auf dem Court. Später schrieb er auf X, er habe sich wie ein kleines Kind gefühlt. «Ich war richtig aufgeregt.»
Der Australier ist einer der wenigen Spieler, die gegen Djokovic eine positive Bilanz haben. Zwei von drei Duellen hat Kyrgios gewonnen, allerdings nicht das wichtigste, jenes vor zwei Jahren im Final von Wimbledon.
Anfang 2024 tauchte in der australischen Zeitung «The Age» das Gerücht auf, Kyrgios wolle sich definitiv aus dem Profitennis zurückziehen. Er dementierte das in einem Interview mit Eurosport. Er sagte da aber auch, nach den schweren Verletzungen würde unweigerlich die Frage auftauchen, ob es das Ganze noch wert sei. «Ich geniesse es nicht, verletzt zu sein, und noch weniger gefällt mir, wie viel ich in die Rehabilitation investieren muss, um meine alte Form wieder zu erlangen.»
Wann und wo Kyrgios auf die Tour zurückkehren wird, steht in den Sternen. Nach seinem herausragenden Sommer 2022 wurde er als Nummer 11 der Weltrangliste geführt. Doch nach zwei Jahren praktisch ohne Spiele taucht er in dieser nicht mehr auf. Bei seinem Comeback könnte er von einem sogenannten Protected Ranking profitieren, das auf seinem Niveau basiert zu dem Zeitpunkt, als die gesundheitlichen Probleme begannen.
Eine kostspielige Lektion
Kürzlich im Mai waren Kyrgios und Djokovic gemeinsam in einer Episode des australischen Ablegers des TV-Formats «Good Troubles» zu sehen. Kyrgios befragte den Serben zu seinen Wurzeln und zu seinem Weg zum Erfolg. Da offerierte ihm Djokovic: «Unterwirf dich sechs Monate lang meinem Diktat und meiner Routine, und du wirst Wimbledon gewinnen.» Kyrgios antwortete: «Auf keinen Fall.» Er ist nicht bereit, jenen Preis zu zahlen, den Djokovic gezahlt hat.
Selten zuvor kam ein Interviewer dem Serben so nahe wie Kyrgios. Vielleicht ist das seine nächste Bestimmung: die Position des Beobachters im Fernsehen. Während des Wimbledon-Turniers arbeitet er wie etwa das amerikanische Enfant terrible John McEnroe für die BBC. So kommentierte Kyrgios einen Match mit dem ehemaligen britischen Profi Andrew Castle, den er einst als «Clown» bezeichnet hatte.
Castle machte während des gemeinsamen Auftritts eine Anspielung auf eine Szene, in der Kyrgios während des Wimbledon-Finals 2022 eine Zuschauerin, die ihn störte, bezichtigte, wahrscheinlich 700 Drinks getrunken zu haben. Die Angesprochene war dummerweise Anwältin und verklagte Kyrgios erfolgreich. Der Vergleich zur Niederlegung des Streits kostete ihn eine Spende von 20 000 Pfund an eine gemeinnützige Institution. «Du darfst das nicht sagen», erklärte Kyrgios Castle auf dem Sender, «das gibt Ärger.» Worauf ihn Castle fragte: «Seit wann versuchst du, Ärger zu verhindern?» Nick Kyrgios scheint tatsächlich mitten im Prozess, sich neu zu erfinden.