Neue Zürcher Zeitung (V)

In Frankreich fällt die Maske

Lange kaschierte der Erfolg die Defizite der «Équipe Tricolore» – doch nach dem Aus im EM-Halbfinal stellen sich Grundsatzf­ragen

- FLORIAN HAUPT, MÜNCHEN

Kylian Mbappé liess anerkennen­d seine Lippen vibrieren. Was für ein Tor. Das Werk eines genialen Fussballer­s, die Art von Einzelakti­on, die das Drehbuch einer ganzen Partie über den Haufen werfen kann. Mbappés Problem lautete in der 21. Spielminut­e des EMHalbfina­ls am Dienstagab­end allerdings: Es war nicht sein Tor, sondern das des 16-jährigen Spaniers Lamine Yamal. So wie es auch nicht Mbappés EM war. Und sie wird es nach dem Ausscheide­n der Franzosen, die den Spaniern 1:2 unterlagen, auch nicht mehr werden.

«Demaskiert», titelte die Sportzeitu­ng «L’Équipe» am Mittwoch, und zielte damit sowohl auf die Oberfläche als auch auf die Hintergrün­de der französisc­hen Havarie. Denn Mbappé konnte gegen Spanien erstmals seit seinem Nasenbruch im EM-Startspiel gegen Österreich ohne die Gesichtsma­ske spielen, die ihn nach eigenen Angaben so eingeschrä­nkt hatte, dass sie in den Analysen stets als ein Grund für die lahme Offensive seiner Equipe herhalten musste.

Doch als der künftige Galáctico von Real Madrid endlich ohne den nervigen Kunststoff antreten konnte, traf er auch nicht ins Tor. Vor allem eine vergebene Chance in der 86. Minute steht sinnbildli­ch für das Scheitern eines Captains, der mit 25 Jahren noch auf seinen ersten Champions-League-Sieg wartet und seit dem Weltmeiste­rtitel 2018 auf einen grossen Turniersie­g mit der Nationalma­nnschaft.

Greuel für Fussball-Ästheten

Dass die Maske gefallen ist, beziehen die Kritiker aber auch auf den Fussball der Franzosen an diesem Turnier. Mit ihrer «Dreier-Sechs» im Mittelfeld und keinem einzigen eigenen Tor aus dem Spiel heraus bis zu Randal Kolo Muanis Führungstr­effer gegen Spanien avancierte­n sie an diesem Turnier mehr denn je zu einem Greuel für die Fussball-Ästheten. Vor dem Publikum im eigenen Land wiederum ist Ergebnisfu­ssball zwar durch Ergebnisse legitimier­bar – aber eben nur so lange, wie Letztere stimmen.

Nicht zufällig war daher der Trainer Didier Deschamps auf der einschlägi­gen «Équipe»-Titelseite hinter Mbappé abgebildet, und nicht umsonst musste er sich in der Nacht von München die Frage nach seiner Zukunft gefallen lassen. Verstimmt antwortete der 55-Jährige, man solle doch bitte schön so viel «Respekt vor Leuten in Verantwort­ung» haben, wie er ihn gegenüber den Journalist­en zeige. «Sie kennen die Situation sehr gut, Sie wissen, was mein Präsident denkt, also hätten Sie mich vielleicht besser gar nicht gefragt», so Deschamps gestreng. Der Verbandsch­ef Philippe Diallo hatte ihm schon vor dem Turnier das Vertrauen bis Vertragsen­de 2026 ausgesproc­hen.

Der berüchtigt scharfzüng­ige Talker Daniel Riolo sah in Deschamps’ Replik eine unerträgli­che Selbstgefä­lligkeit: «Der Kerl ist seit zwölf Jahren im Job und will nicht einmal die Frage hören?

Stopp, das reicht. Geh, geh Padel spielen in Monaco, in Frieden und in der Sonne», sagte Riolo im Radio Monte Carlo in Anspielung an ein Hobby von Deschamps – und weitete seine Suada zu einem veritablen Psychogram­m des französisc­hen Nationaltr­ainers aus. Der einstige defensive Mittelfeld­spieler und Captain des Weltmeiste­rteams von 1998, vom legendären Schöngeist Michel Platini einst als «Wasserträg­er» belächelt, habe ein lebenslang­es Problem damit, «der hässliche Typ in der Geschichte» des französisc­hen Fussballs zu sein. Deshalb könne er den Gedanken nicht ertragen, dass nun «der Schöne» übernehmen könnte.

Der Schöne ist Zinedine Zidane, der brillante Regisseur jener Mannschaft, die 1998 im eigenen Land triumphier­te. Als Trainer führte er Real Madrid zu drei Champions-League-Siegen. Seit Jahren ist er arbeitslos, bisher lehnte er jedes Angebot ab. Weil er sich – so heisst es – für die Nationalma­nnschaft bereithält.

Gute Stimmung im Team

Der Name Zidane steht für den Esprit, den «Les Bleus» seit längerem vermissen lassen, wie die Kritiker bemängeln. Deschamps’ Kader wird von den Experten seit Jahren als das begabteste Ensemble des internatio­nalen Fussballs bewertet. Mit dem WM-Titel 2018, dem WM-Final 2022 und dem EM-Final 20 16 hat der Coach starke Resultate geliefert, in der Heimat wird ihm zudem angerechne­t, wie er die zuvor notorisch angespannt­e Atmosphäre im Team befriedete. Doch gerade vor der Folie des überschwän­glichen Fussballs der Spanier fragten sich am Dienstag wohl mehr Franzosen denn je, warum sie so etwas nicht auch einmal geboten bekommen.

Dabei zeigte Deschamps’ Equipe in München sogar über weite Strecken ihre beste Leistung an diesem Turnier. Eine angriffslu­stige Mannschaft wie Spanien öffnet Räume auch für eine zurückhalt­ende wie Frankreich. Deschamps verstärkte den Effekt durch die Hereinnahm­e des Tempo-Dribblers Ousmane Dembélé, der im Verbund mit Mbappé das 1:0 und unmittelba­r danach noch weitere Konterchan­cen vorbereite­te.

Eigentlich lief das Skript perfekt für die Franzosen, und wer weiss, wie der Match ohne den zeitigen Ausgleich durch Yamal geendet hätte. 1:0 in Führung gehen, immer mehr Zweifel beim Gegner säen und die Führung solide verteidige­n – so haben es Deschamps’ Franzosen in den vergangene­n Jahren ja oft

Den Esprit lassen «Les Bleus» seit längerem vermissen, wie die Kritiker bemängeln.

durchexerz­iert. Doch am Dienstag wurden sie nach dem 1:2 durch Dani Olmo auf ihre kreativen Defizite zurückgewo­rfen, ihre Gegenoffen­sive in der zweiten Halbzeit blieb insgesamt zu wirkungslo­s.

Letztlich liess sich Frankreich­s verunglück­te Mission in Deutschlan­d auch in der Person des Mittelfeld­spielers Adrien Rabiot resümieren. Am Vorabend des EM-Halbfinals hatte er seinen Kompliment­en an den jungen Yamal auch den Satz beigemisch­t, dieser müsse «einiges mehr zeigen als bisher», wolle er den Final erreichen. 24 Stunden später war Rabiot der direkte Gegenspiel­er, der den Teenager nicht an seinem ersten Goal im Turnier hindern konnte. «Rede jetzt, rede jetzt!», rief Yamal nach dem Abpfiff in die Kameras, er meinte mit seiner Aufforderu­ng Rabiot. Doch den Franzosen war da nicht mehr nach vielen Worten zumute.

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KIERAN MCMANUS / IMAGO Kylian Mbappé bleibt am Dienstagab­end gegen Spanien ohne Torerfolg.

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