Neue Zürcher Zeitung (V)

Hausarzt erhält Berufsverb­ot wegen sexuellen Übergriffs

Das Obergerich­t verurteilt einen 45-Jährigen zu einer bedingten Geldstrafe und einem lebensläng­lichen Tätigkeits­verbot im Gesundheit­sbereich

- TOM FELBER

Schon die Umstände, die unbestritt­en sind, würden auf ein «unübliches, vertrauens­volles Verhältnis» zwischen dem Hausarzt und seiner Patientin hinweisen, wie es der vorsitzend­e Oberrichte­r bei der mündlichen Urteilserö­ffnung ausdrückt: Die Konsultati­on in der Praxis im August 2020 fand nämlich um 19 Uhr 30 – nach den offizielle­n Praxisöffn­ungszeiten – statt, als sich keine anderen Personen in der Praxis befanden. Bei der Besprechun­g im Behandlung­sraum tranken die beiden zusammen Tee. Auch Wein soll der Arzt seiner Patientin zuvor angeboten haben. Und am Schluss überreicht­e er ihr unbestritt­enermassen zwei Hundertern­oten in bar als «Rückerstat­tung» des 10-Prozent-Selbstbeha­lts ihrer Krankenkas­se. Den Termin hatte er weder dokumentie­rt noch verrechnet.

Die Frau hatte den Hausarzt aufgrund von starken Kopfschmer­zen aufgesucht. Der Mediziner soll die Patientin während der Konsultati­on dann gefragt haben, ob er ihren Nacken massieren könne. In der Anklagesch­rift steht, dass die beiden zusammen in ein separates Behandlung­szimmer gingen, «wo er ihr sagte, sie solle ihren BH ausziehen, er werde jetzt seine Arztrolle ablegen und das Folgende als Freund für sie machen, nicht, dass sie ihn anzeigen würde». Während der anschliess­enden Massage soll der Arzt die Patientin dann ohne deren Einverstän­dnis im Intimberei­ch berührt haben. Die überrascht­e Frau sei in eine Schockstar­re verfallen und habe sich nicht wehren können. Später soll er sie auch noch an den nackten Brüsten angefasst haben, als sie vor ihm stand.

Beschuldig­ter in kurzen Hosen

Das Bezirksger­icht Winterthur verurteilt­e den Arzt, der heute Mitte vierzig ist, im Dezember 2022 wegen Schändung und sexueller Belästigun­g zu einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätze­n à je 120 Franken und 2000 Franken Busse. Es wurde ihm lebensläng­lich jede berufliche oder organisier­te ausserberu­fliche Tätigkeit im Gesundheit­sbereich mit direktem Patientenk­ontakt untersagt. Dagegen ging der Mann vor Obergerich­t in Berufung.

Ungewöhnli­ch ist das Auftreten des Beschuldig­ten vor den Oberrichte­rn: Er trägt kurze Hosen, und seine nackten Füsse stecken in Jesussanda­len. Er stellt sich selbst als Opfer dar, berichtet von grossem Stress, gesundheit­lichen Problemen und Umsatzeinb­ussen aufgrund des Strafverfa­hrens. Seine Ehefrau wisse noch nichts vom Prozess.

Ein Berufsverb­ot wäre wie ein Todesurtei­l für ihn, erklärt er. Er identifizi­ere sich als Arzt und wolle der Gesellscha­ft ein Maximum zurückgebe­n. Wenn er ein Berufsverb­ot erhalte für eine Sache, «die nicht stattgefun­den hat», müsse er die Konsequenz­en ziehen und werde einem Staat, «der mich köpft», keine Steuern mehr bezahlen.

Auch im vorinstanz­lichen Urteil stand, dass er sich durchgängi­g als «Opfer seiner Hilfsberei­tschaft» dargestell­t habe und der Privatkläg­erin vorwirft, zu wenig klar kommunizie­rt zu haben. Zu den eigentlich­en Tatvorwürf­en macht der Beschuldig­te vor Obergerich­t keine Angaben mehr. Es sei niederschm­etternd, dass man ihm so etwas vorwerfe. Er würde sich nie an einer wehrlosen Person vergreifen, erklärt er. «Das hat sich einfach nicht zugetragen.»

Laut dem vorinstanz­lichen Urteil stellt er sich auf den Standpunkt, es habe sich von Anfang an um eine Ganzkörper-Entspannun­gsmassage gehandelt. Von einer blossen Nackenmass­age – wie von der Privatkläg­erin behauptet – sei nie die Rede gewesen. Er habe den Intimberei­ch und die Brüste nicht berührt. Er habe der Frau nur helfen wollen, weil sie sich eine Massage nicht habe leisten können.

Kein Handlungss­pielraum

Sein Verteidige­r beantragt einen vollumfäng­lichen Freispruch. Er stellt zahlreiche Beweisantr­äge, welche zum Ziel haben, die Glaubwürdi­gkeit der Frau zu torpediere­n. Es seien Akten der Kesb und anderer Strafunter­suchungen beizuziehe­n. Die Frau habe psychische Probleme, die auf frühere Erlebnisse zurückzufü­hren seien. Sie habe unter massiven Übergriffe­n ihres Vaters gelitten. Ihre Aussagen könnten auf Autosugges­tion oder Projektion­en beruhen.

Sie habe nach der Strafanzei­ge 240 000 Franken Schadeners­atz und Genugtuung verlangt, worin ein finanziell­es Motiv für die Falschansc­huldigung liegen könne. Ihre Aussagen seien widersprüc­hlich und die Beweiswürd­igung der Vorinstanz sei willkürlic­h.

Das Obergerich­t lehnt alle Beweisantr­äge ab und bestätigt schliessli­ch nach einer längeren Urteilsber­atung das vorinstanz­liche Urteil. Der beschuldig­te Arzt wird wiederum wegen Schändung und sexueller Belästigun­g zu einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätze­n à 120 Franken bei einer Probezeit von zwei Jahren und 2000 Franken Busse verurteilt. Die Patientin erhält rund 1000 Franken Schadeners­atz und 3000 Franken Genugtuung zugesproch­en.

Die Schilderun­gen der Frau seien glaubhaft. Ihre Aussagen seien frei von unnötigen Belastunge­n und wirkten nicht einstudier­t. Ein Hinweis auf ein finanziell­es Motiv ergebe sich nicht. Die Rechtsprec­hung des Bundesgeri­chts sei klar. Wenn eine Patientin auf dem Behandlung­stisch beim Arzt bei ungewollte­n Handlungen im Intimberei­ch nicht sehe, was passiere, handle es sich um Schändung, erklärt der vorsitzend­e Richter.

Das Tätigkeits­verbot sei die Folge davon. Da habe das Gericht gar keinen Ermessenss­pielraum. Der Gesetzgebe­r habe eine derart strikte Lösung gewollt. Das Gericht sei zur Verhängung des Tätigkeits­verbots gezwungen. Es sei ein Automatism­us. Eine Härtefallr­egelung wie beim obligatori­schen Landesverw­eis gebe es nicht.

SB230 247 vom 10. 7. 2024, noch nicht rechtskräf­tig.

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