Neue Zürcher Zeitung (V)

Ein mysteriöse­r Bericht versetzt das Unispital in Aufregung

Wurde das Dokument bewusst unter Verschluss gehalten, oder ist es gar nicht authentisc­h?

- MARIUS HUBER, JAN HUDEC

Natalie Rickli tritt auf wie eine TennisSchi­edsrichter­in, die den krakeelend­en Pöbel auf den Rängen zur Ordnung ruft: «Quiet, please!» Die Zürcher Gesundheit­sdirektori­n hat die grosse Bühne im Kantonsrat diese Woche genutzt für eine dringende Ermahnung: Niemand brauche «Klatsch und Gerüchte» und «anonyme Berichte», um die ein Geheimnis gemacht werde. Was es jetzt brauche, sei Ruhe.

Aber natürlich war es da längst passiert: Ein mysteriöse­r Bericht hatte alle in Aufregung versetzt, von der Kantonsreg­ierung über das Parlament bis zum wichtigste­n Spital im Kanton, dem Unispital. Ein Papier voller schwerer Anschuldig­ungen. Und alle versuchten jetzt, dieses in die Hände zu bekommen. Eine Schnitzelj­agd für Fortgeschr­ittene.

Was war geschehen? Die «Welt am Sonntag» hatte Ende Juni einen langen Artikel publiziert, in dem sie die epische Skandalges­chichte um die Herzklinik am Zürcher Unispital, den gefallenen Klinikchef Francesco Maisano, fragwürdig­e Implantate und ihre tödlichen Folgen nacherzähl­t. Nichts daran war wirklich neu, bis hin zu schaurigen Details wie zwei losen Schrauben, die in einer geöffneten Herzkammer herumkulle­rten. Quasi ein Remake dieses modernen Zürcher Klassikers fürs internatio­nale Publikum, ergänzt um einen Subplot mit Verästelun­gen nach Deutschlan­d.

Aber fast nebenher erwähnte der Artikel auch einen Bericht, den die Zürcher Kantonsreg­ierung bestellt habe und der bislang nicht veröffentl­icht worden sei. Verfasst worden sei er von einer 24-köpfigen interdiszi­plinären Expertengr­uppe. Die zitierten Stellen haben es in sich: Unter Maisano sei die Mortalität­srate «zehn- bis 15-mal höher» gewesen als in vergleichb­aren Kliniken. Jede zweite Herztransp­lantation sei tödlich ausgegange­n statt wie früher eine von acht. Ungewöhnli­ch viele Herzpatien­ten seien nach der Operation auf der Intensivst­ation gelandet.

Dass die Mortalität in jenen Jahren zu hoch war, war bekannt – aber gleich so hoch? Und vor allem warf dies die Frage auf: Hielt die Regierung ein brisantes Papier mit Absicht unter Verschluss?

Eine Task-Force, die es nie gab

Ricklis Direktion reagierte prompt: Es handle sich um eine Falschauss­age, sie habe nie einen solchen Bericht bestellt. Auf Interventi­on bei der «Welt am Sonntag» korrigiert­e diese den Bericht. Jetzt soll es der Zürcher Kantonsrat gewesen sein, also das Parlament, das den Bericht in Auftrag gegeben hatte. Bloss weiss auch dort niemand etwas davon. Weder die Präsidenti­n der fürs Unispital zuständige­n Kommission noch jene der Subkommiss­ion, die damals die Vorgänge an der Herzklinik untersucht­e.

Die «Welt»-Redaktion hat bislang nicht auf ein Schreiben des Kantonsrat­s reagiert und die Bitte um Einsicht in das mysteriöse Dokument ignoriert. Damit beginnt die Detektivge­schichte erst richtig: die Jagd nach einem brisanten Bericht, von dem angeblich niemand weiss.

Ein paar sachdienli­che Hinweise liefert der Finanzblog «Inside Paradeplat­z» des Journalist­en Lukas Hässig, der den Bericht ebenfalls in die Hände bekommen hat. Auch er gibt ihn nicht heraus.

Hässig ist seit kurzem in einen Rechtsstre­it mit der Gesundheit­sdirektori­n Rickli verwickelt, weil er in einem Artikel suggeriert­e, sie habe schon früh von den hohen Mortalität­sraten gewusst, aber nicht reagiert. Seine wichtigste Referenz: der Herzchirur­g Paul Vogt, der nach der Ära Maisano für Ruhe am Unispital sorgen sollte, sich aber inzwischen öffentlich mit diesem überworfen hat, weil er sagt, das Spital habe das Ausmass der Todesfälle und die Gefährdung der Patienten wissentlic­h herunterge­spielt. Da kommt einiges zusammen.

Hässig also präsentier­t auf seinem Blog einen Ausriss des Berichts und erwähnt ein paar Details. Der Text sei nicht datiert, im Titel stehe «Interdiszi­plinäre Task-Force HGT (Herz-Gefäss-Thorax)», und adressiert sei er an die «Subkommiss­ion der Aufsichtsk­ommission für Bildung und Gesundheit». Nach der Publikatio­n wendet sich ein Informant an ihn und sagt, es handle sich dabei lediglich um eine Zwischenve­rsion, die Übung sei später abgebroche­n worden.

Das ist eine eindeutige Spur. Die erwähnte Subkommiss­ion war federführe­nd, als der Zürcher Kantonsrat 2021 aufgrund der Skandalges­chichten um die Herzklinik 74 Empfehlung­en abgab. Eine davon lautete: «Dem Medizinber­eich HGT wird empfohlen, eine interdiszi­plinäre Task-Force einzusetze­n, um den erhöhten Mortalität­sraten auf den Grund zu gehen.» Adressatin dieser Empfehlung war das Unispital.

Der Kommunikat­ionsleiter des Unispitals, Stefan Wyer, versichert allerdings, dass die Spitaldire­ktion nie den Auftrag erteilt hat, eine solche TaskForce einzusetze­n. Sie kann demnach auch nicht in offizielle­m Auftrag einen Bericht in Angriff genommen haben, den das Spital später unterband. Überdies trifft laut Wyer die zitierte Aussage zur Sterberate – «zehn- bis 15-mal höher» – inhaltlich nicht zu.

Doch das bedeutet nicht, dass das Spital in jenem Jahr gar keine Berichte bestellt hat. Es gab sogar deren drei. Verfasst wurden sie von unabhängig­en Auditoren, die die Abläufe vor, während und nach den Herzoperat­ionen untersucht­en. Laut Wyer geschah dies in Absprache mit der neuen Klinikleit­ung, den Chirurgen Paul Vogt und Thierry Carrel. Ziel sei es gewesen, so schnell wie möglich Massnahmen umzusetzen, um die medizinisc­he Qualität zu verbessern und die Mortalität zu senken.

Einer der drei Audit-Berichte behandelte die Intensivme­dizin – das macht hellhörig, weil die Tamedia-Zeitungen schon 2022 in einem Artikel über die von Paul Vogt deutlich reduzierte­n Sterberate­n einen «bisher unbekannte­n Bericht» zur Intensivst­ation der Herzklinik erwähnten. In Auftrag gegeben und verfasst worden sei dieser 2021, genau wie die Audits. Gleichzeit­ig gibt es auch eine auffällige Gemeinsamk­eit mit dem mysteriöse­n Bericht, dem derzeit alle hinterherj­agen: In beiden wurde explizit kritisiert, dass Herzpatien­ten nach dem Eingriff vergleichs­weise oft auf der Intensivst­ation landeten. Es ist also denkbar, dass es sich beim mysteriöse­n Bericht um einen Entwurf des Audit-Berichts handelt oder um ein Derivat davon. Wie die «Task-Force» in den Titel kam, ist damit aber nicht geklärt. Ebenso wenig, was es mit der 24-köpfigen Autorengru­ppe auf sich hat. Eine der aufgeführt­en Personen nennt der Journalist Lukas Hässig auf Anfrage namentlich, sie arbeitet in der Gesundheit­sdirektion. Dort dementiert man aber, dass die Frau je an einem solchen Bericht mitgearbei­tet habe oder Teil einer Arbeitsgru­ppe gewesen sei.

Hohe Mortalität längst bekannt

Die Aufregung um den mysteriöse­n Bericht kommt für die Führung des Unispitals denkbar ungelegen. Eigentlich wollte sie einen Schlussstr­ich unter die Affäre Maisano ziehen. Der CEO André Zemp kündigte am 8. Mai dieses Jahres an, dass eine internatio­nale, unabhängig­e Expertengr­uppe sämtliche Todesfälle an der Klinik für Herzchirur­gie zwischen 2016 und 2020 noch einmal untersuche­n werde.

Die Einsetzung dieser Expertengr­uppe war eine Reaktion auf eine Attacke des ehemaligen Chefarztes Paul Vogt. Dieser hatte eine Woche zuvor seinem Vorgänger Francesco Maisano öffentlich vorgeworfe­n, ein «Desaster» an der Klinik angerichte­t zu haben. Die NZZ berichtete darüber. Er selbst habe in den Wochen nach seinem Arbeitsant­ritt lange «Listen mit toten Patienten» durchgeseh­en, die ihn stutzig gemacht hätten. Er sprach von nicht zugelassen­en Implantate­n, von «unethische­m und kriminelle­m Verhalten» unter der Ärzteschaf­t. Diese Anschuldig­ungen wirbelten viel Staub auf, die Expertengr­uppe soll deshalb für das Unispital die Geschichte nochmals aufarbeite­n. Doch nur zwei Monate nach der Ankündigun­g erschien der Artikel in der «Welt am Sonntag».

Dass die Herzklinik Qualitätsp­robleme hatte, ist unbestritt­en und längst bekannt – auch ohne den mysteriöse­n Bericht. Die Mängel sind belegt durch Zahlen, die der Bund jährlich publiziert. In endlosen Listen ist aufgeführt, wie viele Eingriffe pro Kategorie ein Spital gemacht hat und wie viele Patienten dabei gestorben sind.

Interessan­t ist vor allem, dass das Bundesamt für Gesundheit (BAG) errechnet, wie hoch die erwartete Mortalität­srate bei einem bestimmten Eingriff in einem Spital ausfallen sollte – und diese Zahl mit der tatsächlic­hen Mortalität­srate vergleicht. Dabei schneidet die Herzchirur­gie des Unispitals in den Jahren 2016 bis 2020 schlecht ab. In diesem Zeitraum starben in allen Operations­kategorien mehr Patienten als erwartet.

Zum Beispiel die Bypassoper­ationen an Patienten ohne Herzinfark­t: Von 2016 bis 2020 führte das Unispital diesen Eingriff 975-mal durch. Die Mortalität­srate lag bei 2,6 Prozent, zu erwarten gewesen wären laut BAG 1,5 Prozent. Es starben also fast doppelt so viele Patienten, wie aufgrund des Risikoprof­ils zu erwarten war. In absoluten Zahlen: 25 statt 15.

Heisst das also, dass es allein in dieser Kategorie zu 10 vermeidbar­en Todesfälle­n gekommen ist? Das wäre wohl zu kurz gegriffen – auch weil die Berechnung des Risikoprof­ils keine exakte Wissenscha­ft ist. Um die erwartete Mortalität zu berechnen, berücksich­tigt das BAG lediglich zwei Faktoren: das Alter und das Geschlecht der Patienten. Andere Risikofakt­oren wie Vorerkrank­ungen oder frühere Operatione­n ignoriert es.

Bern steht besser da

Gerade Unispitäle­r kritisiere­n die Berechnung­smethode, denn sie müssen sich um jene Patienten kümmern, die besonders schwierig zu behandeln sind. Doch Zürich schnitt in den Jahren 2016 bis 2020 auch gegenüber anderen universitä­ren Herzklinik­en wie jener des Berner Inselspita­ls schlecht ab. Die Berner liegen in der gleichen Zeitspanne bei fast allen Eingriffen unter der erwarteten Mortalität­srate, zum Teil deutlich.

Das Inselspita­l hat in diesem Zeitraum 916 Bypassoper­ationen an Patienten ohne Herzinfark­t durchgefüh­rt. Verstorben sind 0,5 Prozent der Patienten, gemäss den Berechnung­en des BAG wäre eine Mortalität­srate von 1,2 Prozent zu erwarten gewesen. In Bern starben also weniger als halb so viele Bypasspati­enten, wie zu erwarten gewesen war, und ein Fünftel so viele wie am Zürcher Unispital.

Die Qualitätsp­robleme in der Zürcher Herzchirur­gie in der Ära Maisano lassen sich also nicht wegdiskuti­eren. Seinem Nachfolger Paul Vogt gelang es ab 2020 bis zu seiner Pensionier­ung, die Mortalität­sraten rasch zu senken. Auch unter dem neuen Chef Omer Dzemali, seit Dezember 2022 im Amt, sollen die Zahlen gemäss eigenen Aussagen gut sein. Die Daten für 2023 wurden vom BAG noch nicht veröffentl­icht.

Die Task-Force soll nun aufzeigen, warum die Qualität unter Maisano so schlecht war. Transparen­z zu schaffen, scheint in diesen Tagen umso nötiger, in denen wieder Spekulatio­nen aufkommen, die Wahrheit werde unterdrück­t.

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ANDREA ZAHLER / CH MEDIA Am Universitä­tsspital wollten sie dieses Jahr einen Schlussstr­ich unter die Skandalges­chichten ziehen.

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