Neue Zürcher Zeitung (V)

Reform UK wird Politik der nächsten Jahre prägen

Die Rechtspart­ei des Brexit-Vorkämpfer­s Nigel Farage setzt die Konservati­ven, aber auch die neue Labour-Regierung unter Druck

- NIKLAUS NUSPLIGER, LONDON

Als sich diese Woche das frisch gewählte britische Unterhaus in Westminste­r versammelt­e, hätte der Kontrast zur vergangene­n Legislatur grösser kaum sein können. Labour ist mit 412 von 650 Abgeordnet­en die mit Abstand stärkste Partei – so gross, dass auf den Regierungs­bänken der Platz knapp wurde. Zudem ist das neue Parlament viel bunter als das alte. So sind 72 Liberaldem­okraten, fünf Grüne und etliche Unabhängig­e ins Unterhaus eingezogen – sowie fünf Vertreter der Rechtspart­ei Reform UK des Brexit-Vorkämpfer­s Nigel Farage.

Dass eine Partei rechts der Konservati­ven in substanzie­ller Zahl im Parlament vertreten ist, ist für Grossbrita­nnien ein Novum. Farage hat zwar schon früher mit der United Kingdom Independen­ce Party (Ukip) viel Staub aufgewirbe­lt und bei den nach dem Proporzwah­lrecht durchgefüh­rten Europawahl­en etliche Sitze gewonnen. Doch das Majorzwahl­recht sieht vor, dass in jedem Wahlkreis nur der erstplatzi­erte Kandidat ins Unterhaus einzieht (First Past the Post). Das benachteil­igt Kleinparte­ien. Daher war Ukip bisher bloss einmal ein Sitzgewinn durch einen 2015 von den Konservati­ven übergelauf­enen Kandidaten geglückt.

Kluft so gross wie noch nie

Auch diesmal wurde Farages neue Plattform Reform-Partei vom Mehrheitsw­ahlrecht ausgebrems­t. Gemäss Berechnung­en der Electoral Reform Society hätte Reform UK mit ihrem Wählerante­il von 14,3 Prozent 94 Parlaments­sitze errungen, wenn die Wahl nach dem Proporzwah­lrecht durchgefüh­rt worden wäre. Die Grünen wären im Verhältnis­wahlrecht auf 42 Sitze gekommen, Labour hingegen hätte gemäss diesen hypothetis­chen Berechnung­en bloss 236 Sitze gewonnen. In Wirklichke­it aber kam die neue Regierungs­partei mit einem Wählerante­il von 33,7 Prozent auf 63 Prozent der Parlaments­sitze. Noch nie war die Kluft zwischen Wählerante­ilen und Sitzgewinn­en grösser.

Mit fünf Abgeordnet­en kann Reform UK im Parlament gegen die LabourÜber­macht wenig ausrichten. Doch will Farage die Parlaments­vertretung als «Brückenkop­f» nutzen, um seiner rechtsnati­onalen Bewegung Schub zu verleihen. Dass der charismati­sche Politiker fähig ist, ein Parlament als Bühne zu nutzen, hat er als Europaabge­ordneter bewiesen. Bedenkt man, dass der mediale Wirbel in Westminste­r um ein Vielfaches grösser ist als in Brüssel und Strassburg, wird Farage auch ein Vielfaches an Aufmerksam­keit generieren.

Die Rechtspart­ei mag bei der Wahl vom Überdruss der Wähler in Bezug auf die Tories profitiert haben, dennoch ist ihr Aufstieg bemerkensw­ert. Farage gründete die Formation 2018 als BrexitPart­y. 2021 benannte sich die Partei in Reform UK um und opponierte gegen die Corona-Politik der konservati­ven Regierung. Doch fehlte es Reform UK an soliden Strukturen, weshalb bei der Prüfung von Kandidaten auch allerhand Extremiste­n durch die Maschen schlüpften.

Die Partei ist nicht basisdemok­ratisch organisier­t, sondern als eine Art Unternehme­n. Farage hält acht der fünfzehn Anteilsche­ine, womit er über eine Kontrollme­hrheit verfügt. Auch inhaltlich gibt der Chef den Ton an. Im Wahlkampf forderte Farage einen härteren Brexit und tiefere Steuern. Zudem behauptete er, die Nato habe den Ukraine-Krieg provoziert.

Vor allem aber griff er die Konservati­ven bei der Migrations­politik an. Tatsächlic­h haben seit dem Brexit nicht nur die irreguläre­n Überfahrte­n über den Ärmelkanal markant zugenommen, sondern auch die legale Einwanderu­ng. Nun fordert Reform UK die Netto-Null-Migration: Eine Arbeitskra­ft oder ein Familienmi­tglied eines Anwohners dürfte nur ins Land kommen, wenn zuvor eine andere Person Grossbrita­nnien verlassen hätte.

Eine Nachwahlbe­fragung ergab, dass der durchschni­ttliche Reform-Wähler männlich und über 50 Jahre alt ist, ein tiefes Bildungsni­veau sowie ein geringes Einkommen aufweist. Eine zweite Umfrage zeigte, dass die Reform-Wähler grossmehrh­eitlich die Einführung der Todesstraf­e begrüssen würden und eine harte Migrations­politik verlangen. In der Wirtschaft­spolitik sind sie gespalten: 42 Prozent fordern weniger staatliche Umverteilu­ng, 33 Prozent sähen gerne mehr Transfers von reich zu arm.

Keir Starmer wappnet sich

Die Rechtspart­ei mag nur fünf Unterhausm­andate errungen haben – und doch wird sie die britische Politik der kommenden Jahre beeinfluss­en. In über hundert Wahlkreise­n kam Reform UK auf den zweiten Platz. Ins Auge sticht, dass die Rechtsnati­onalen in vielen Bezirken des ehemaligen Industrieg­ürtels in Nordenglan­d nur von Labour geschlagen wurden. Daher befürchtet man in Starmers Umfeld, Reform könnte Labour diese Wahlkreise bei der nächsten Unterhausw­ahl von spätestens 2029 abjagen.

Lange dominierte in Labour-Kreisen die Vorstellun­g, dass wirtschaft­liche Prosperitä­t und kompetente Regierungs­führung genügten, um dem Populismus den Nährboden zu entziehen. Diese Sichtweise ist heute umstritten. Starmers einflussre­icher Kampagnenc­hef, der irischstäm­mige Politstrat­ege Morgan McSweeney, ist vielmehr als Anhänger der sogenannte­n «Blue Labour»-Lehre bekannt.

Gemäss dieser Doktrin soll sich Labour patriotisc­h und familienor­ientiert statt kosmopolit­isch und progressiv geben, um der postindust­riellen Arbeiterkl­asse fernab der urbanen Zentren eine emotionale Heimat zu bieten. Konkret könnte sich diese Strategie etwa im Bemühen äussern, von allzu progressiv­er Identitäts­politik abzusehen. Zudem hat sich Labour zum Ziel gesetzt, die irreguläre Migration über den Ärmelkanal, aber auch die legale Zuwanderun­g zu reduzieren.

Einen noch direkteren Einfluss übt Reform UK auf die Konservati­ve Partei aus. Der abgewählte Premiermin­ister Rishi Sunak hat sich bereit erklärt, interimist­isch als Tory-Chef im Amt zu bleiben, um der Partei eine Hauruckübu­ng bei der Regelung seiner Nachfolge zu ersparen. Dennoch ist der Richtungss­treit um die Zukunft der Partei bereits im Gang – und Farage spielt dabei eine Schlüsselr­olle.

Der ehemaligen Innenminis­terin Suella Braverman schwebt ein Bündnis mit Reform vor. Für den zentristis­chen Flügel hingegen ist Farage ein rotes Tuch. Auch die Kulturkämp­ferin und frühere Handelsmin­isterin Kemi Badenoch, die Ambitionen auf Sunaks Nachfolge hegt, mahnt zur Zurückhalt­ung. Es wäre töricht, einem Brandstift­er die Türe zu öffnen, der das Haus niederbren­nen wolle, sagt sie.

Tatsächlic­h sagt Farage ganz offen, er wolle den Konservati­ven zunächst die Rolle als «echte Opposition» streitig machen und sie 2029 als natürliche Regierungs­partei im rechten Lager ablösen. Während er den Tory-Richtungss­treit von der Seitenlini­e aus befeuert, will er der Reform-Partei solidere und demokratis­chere Strukturen verpassen. Seit Anfang Juni hat sich die Mitglieder­zahl um 25 0 0 0 auf 65 000 Mitglieder erhöht. Farage möchte bis zur nächsten Unterhausw­ahl eine «Armee des Volkes» rekrutiere­n – mit Reform UK als Speerspitz­e.

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STEPHEN LOCK / IMAGO Nigel Farage fokussiert­e die Wahlkampag­ne von Reform UK auf die Migrations­politik, wie hier in Dover.
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