Neue Zürcher Zeitung (V)

«Der russische Angriff weckte die Monster, die wir von den Grosselter­n geerbt hatten»

Die polnische Autorin Joanna Bator schöpft für ihre Romane aus der eigenen Geschichte. Im Gespräch mit Nadine A. Brügger erzählt sie von ihrer tristen Kindheit in einer ehemals deutschen Stadt

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Dort will sie hin – Joanna Bator zeigt aus dem Fenster auf die schroffen Berge, die Leukerbad wie eine hohle Hand umgeben. Die polnische Schriftste­llerin hat einen kaum sichtbaren Weg entdeckt, der an Bergwiesen, Bäumen und Wasserfäll­en vorbeiführ­t. Vielleicht bis hoch zu den grauen Felswänden.

Am nächsten Tag wird sie den Weg suchen und finden und seinen Endpunkt ergründen. So wie sie auch in ihren Büchern ebenso unerbittli­ch wie feinfühlig ergründet, was vielen verborgen bleibt. Meist sind das über Generation­en von Frauen weitergege­bene Kriegstrau­mata. So auch in ihrem neusten Roman «Bitternis», einem schlesisch­en Epos, das auf kleinem Raum ein grosses polnisches Trauma verarbeite­t. Das Buch schöpft auch aus ihrer eigenen Geschichte.

Joanna Bator, Sie sind in den 1970er Jahren in Niederschl­esien aufgewachs­en, einer Region, die deutsch war und erst nach dem Zweiten Weltkrieg polnisch wurde. Obwohl Sie im Alter von 18 Jahren weggezogen sind, spielen bis heute fast alle Ihre Bücher dort. Was macht diesen Zwischenor­t für Sie aus?

Er lässt mich nicht los. Nach dem Krieg zogen meine Grosselter­n nach Walbrzych, das bis dahin Waldenburg geheissen hatte. Es war eine deutsche Stadt, die meine polnischen Grosselter­n zu ihrer Heimat machen wollten. Aber es war ein düsterer Ort.

Was machte diesen Ort so düster?

Die Eltern meines Vaters lebten in einer deutschen Wohnung in einem deutschen Haus voller Dinge, die die Deutschen zurückgela­ssen hatten. Diese waren nicht gerade freundlich gebeten worden, ihre Heimat zu verlassen. Sie liessen materielle Dinge zurück, dazu auch ihre Wut und Verzweiflu­ng. Meine Grosselter­n brachten ausser ihren vier Kindern und den eigenen Kriegstrau­mata nichts mit und blieben in diesem fremden Zuhause zutiefst unglücklic­h.

Sie haben als Kind bei den Grosselter­n gelebt. Woran erinnern Sie sich noch?

An den Geruch von Alkohol und Zigaretten. Mein Grossvater war ein Alkoholike­r und starb, als ich sechs Jahre alt war. Er war mir gegenüber nie gewalttäti­g, aber seine Krankheit machte den Ort noch elender. Anderersei­ts waren da auch diese deutschen Gegenständ­e, die mich fasziniert­en. Ich spürte, dass sie eine Geschichte in sich trugen, die nicht die unsere war.

Ihre Grosselter­n haben die Besitztüme­r der früheren Bewohner nicht weggeräumt?

Nein, es war alles noch da, sie haben darin gelebt. Wenn man arm ist, wirft man keine Dinge weg, auch nicht solche, die man nicht braucht. Man sammelt sie an. Es gab zum Beispiel einen schönen Punschkrug, der ungenutzt herumstand. Meine Grosselter­n waren einfache Leute, sie wussten nicht, was sie damit machen sollten. Mein Grossvater hat viel Wodka getrunken, aber nie Punsch. Ich hänge nicht an materielle­n Dingen – selbst Bücher gebe ich fast immer weg, nachdem ich sie gelesen habe. Aber diesen Krug habe ich behalten.

Haben Sie jemals Punsch daraus getrunken?

Ja – und er hat mir überhaupt nicht geschmeckt! Ich mag lieber trockenen Rotwein. Aber ich wollte diesem Gegenstand für einmal seine alte Bedeutung wiedergebe­n. Davor hatte ich romantisch­e Kerzen darin und einmal sogar einen Fisch. Mittlerwei­le ist er leer und für mich zu einem Symbol unserer deutsch-polnischen Geschichte geworden. Dieses Zwischenra­ums, der nicht mehr deutsch, aber auch noch nicht ganz polnisch ist.

Wie gingen und gehen die verschiede­nen Generation­en mit diesem Zwischenzu­stand um?

Die Generation meiner Grosselter­n war mit der Gegenwart beschäftig­t. Sie übermalten die deutschen Buchstaben an den Häuserfass­aden, gaben den deutschen Orten polnische Namen und überklebte­n das «Waldenburg» auf den Postkarten mit einem «Walbrzych»Stempel. Der offizielle politische Diskurs lautete: Wir haben das Land vor den Deutschen gerettet.

Die erste Nachkriegs­generation wuchs also in einer übermalten Welt auf.

Und es war ihnen egal: Die Generation meiner Eltern blickte in die Zukunft. Sie zogen aus den alten deutschen Häusern in neue polnische Wohnblocks mit Warmwasser und Zentralhei­zung. Alles drehte sich um den Fortschrit­t. Sie steckten alles in eine bessere Zukunft für ihre Kinder.

Zu diesen Kindern gehörten auch Sie.

Meine Generation, die dritte Generation und die vierte Generation, die jetzt in ihren Dreissiger­n ist, hat endlich begonnen, in der Vergangenh­eit zu graben. Walbrzych ist aufgrund seiner Lage und Geschichte eine kulturell sehr interessan­te Gegend. Viele Künstler leben heute dort. Ich könnte das nie wieder.

Sie besuchen die Stadt aber immer wieder. Bald etwa für ein Literaturf­estival. Was ist es für ein Gefühl, zurückzuko­mmen?

Die Stadt hat sich seit meiner Kindheit sehr verändert. Ich spüre dort jetzt eine seltsame Fremdheit: Im Auto brauche ich zum Beispiel ein Navigation­sgerät. Um ehrlich zu sein, macht mich diese Entfremdun­g glücklich. Sie befreit mich von meiner Vergangenh­eit. Gleichzeit­ig kehre ich aber auch immer mit grossen Erwartunge­n zurück: Ich habe dort den Aufhänger für fast alle meine Romane gefunden. Daran konnte ich dann den ersten Faden knüpfen und mit dem Schreiben beginnen, sobald ich wieder weg war.

Wenn ein Gebiet eine neue nationale Identität erhält, bleibt eigentlich alles am Land selbst gleich. Die Berge und Wälder, das Klima, sogar viele der Häuser. Und doch scheint alles anders. Was zeichnet Walbrzych aus, wie unterschei­det es sich vom ehemaligen Waldenburg?

Ich habe lange darüber nachgedach­t. Ich fühle mich mit Polen nicht sehr verbunden, was sein Staatsgebi­et angeht. Ich fühle mich auch nicht mit der Landschaft verbunden, denn ausserhalb der Grenzen sieht das Land mehr oder weniger gleich aus. Ich habe in Japan und anderen Ländern gelebt. Nach Polen zurückgeke­hrt bin ich nur wegen der Sprache. Ich habe es vermisst, von der polnischen Sprache umgeben zu sein. Meine Heimat ist also das Polnisch.

Wenn Sie 25 Jahre früher geboren worden wären, wäre Ihre Heimat deutsch gewesen. Hatten Sie jemals den Drang, die Sprache zu lernen?

Meine Mutter wollte mich zwingen, Deutsch zu lernen. Sie wollte, dass ich einen netten deutschen Ehemann finde. Ich war strikt dagegen. Ich habe nichts gegen deutsche Ehemänner – meine Schwester hatte zwei davon –, das war einfach meine rebellisch­e Natur. Aber dann wurden meine Bücher übersetzt, und ich hörte meine Romane auf den Bühnen der deutschspr­achigen Länder. Nach zwei Jahren begann ich mehr und mehr zu verstehen.

Sie sollten als Kind nicht nur Deutsch lernen, sondern hatten auch Russischun­terricht in der Schule.

Ja, aber ich spreche es nicht mehr. Ich habe vergessen, wie. Das war ein unbewusste­r Vorgang: Ich wollte gar nie Russisch können.

Ähnlich geht es vielen Ukrainern, die sich bewusst dafür entscheide­n, kein Russisch zu sprechen.

Ich lebe jetzt in Zentralpol­en. Das ist näher an der ukrainisch­en Grenze als an Walbrzych. Ich kenne viele Ukrainer, die Russisch sprechen könnten – aber sie tun so, als würden sie nichts verstehen, wenn man sie auf Russisch anspricht.

Wie erleben Sie den Krieg in der Ukraine?

Ich lebe in einer kleinen, ganz besonderen Stadt, einer Gartenstad­t. Das ist ein offizielle­r Status. Es ist ein schöner, ruhiger, umweltbewu­sster und offener Ort. Bis zum Krieg in der Ukraine fühlte ich mich in meiner kleinen Stadt und in Europa sicher. «Wir sind in der EU» – was für ein gutes Gefühl. Dann kamen die Geflüchtet­en, und mir wurde klar, wie zerbrechli­ch alles ist. Es kann jeden treffen, auch mich. In jeder zweiten Wohnung wohnt jetzt eine ukrainisch­e Familie. Wir haben so viele Flüchtling­e in meiner Stadt, dass ich anfange, Ukrainisch zu verstehen.

Wie ist es, mit den ukrainisch­en Flüchtling­en zusammenzu­leben?

Schon vor dem Krieg hatten wir hier viele ukrainisch­e Arbeiter. Es sind Situatione­n wie diese, die es surreal machen: Unsere Putzfrau sieht sich seit Kriegsbegi­nn oft Beerdigung­en auf ihrem Handy an, weil sie in Polen ist und nicht dabei sein kann. Ich und meine Familie helfen gern Zivilisten. Aber ich bin zurückhalt­end, wenn es darum geht, die Streitkräf­te zu unterstütz­en. Denn Soldaten sind Soldaten, und ich bin Pazifistin. Gleichzeit­ig ist mir klar, dass es nur einen Weg gibt, gegen Putin zu gewinnen: den militärisc­hen. Wir in Polen sind also alle angespannt, ein bisschen verloren und auch nervös.

Sie haben gesagt, dass Polen erst vor kurzem begonnen habe, das Trauma des Zweiten Weltkriegs und wahrschein­lich auch der Sowjetzeit zu verarbeite­n. Was bedeutet dieser Krieg an der Grenze für die polnische Seele?

Das Generation­entrauma ist in Polen bis in die vierte Generation lebendig und stark. Erst jetzt, langsam, wäre es möglich gewesen, es zu heilen. Aber dann kam dieser russische Angriff. Und all unsere Monster wachten auf. Monster, die wir von unseren Grosselter­n geerbt hatten.

Glauben Sie, dass die Polen länger gebraucht haben, um über den Zweiten Weltkrieg hinwegzuko­mmen, als zum Beispiel Deutschlan­d oder andere Länder?

Ja. Wir waren auf so vielen Ebenen Opfer. Erst die deutsche Invasion, der Krieg, die sowjetisch­e Invasion, die Entscheidu­ng, Polen zu teilen. Die Umsiedlung­en und dann praktisch die sowjetisch­e Besatzung. Jeder in meiner Generation ist noch mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden. Mein Grossvater mütterlich­erseits ist zum Beispiel in einem Konzentrat­ionslager gestorben. Als der Krieg in der Ukraine begann, geschah etwas Seltsames: Viele von uns hatten ähnliche Träume. Es war, als ob die alten Geschichte­n wieder lebendig wurden.

Was war Ihr Traum?

Dass ich mit meiner Familie, meinem riesigen Hund und vier Katzen in meinem Mini Cooper Countryman fliehen muss. Aber plötzlich sind die Katzen weg, und dann fehlen auch unsere Pässe, und im Traum wird alles zu einer grosse Verzweiflu­ng.

Was hat Russlands Krieg in der Ukraine auch Polen genommen?

Mein Erwachsens­ein begann, als der Kommunismu­s in Polen zusammenbr­ach. Das war die beste Zeit überhaupt: Die Welt öffnete sich, vieles war möglich, und das Leben wurde grösser. Es lag diese brodelnde Hoffnung in der Luft. Plötzlich waren alle Bibliothek­en der Welt für mich offen. Ich konnte einfach hingehen und studieren. Die politische und wirtschaft­liche Lage in Polen ist heute natürlich viel besser als damals. Aber dieses Gefühl der Zuversicht ist verschwund­en.*

«Nach Polen zurückgeke­hrt bin ich nur wegen der Sprache. Ich habe es vermisst, von der polnischen Sprache umgeben zu sein. Meine Heimat ist also das Polnisch.

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MAGDA HUECKEL / SUHRKAMP «Mein Grossvater hat viel zu viel Wodka getrunken, aber nie Punsch», sagt die Schriftste­llerin Joanna Bator.

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