Neue Zürcher Zeitung (V)

Was geht im Kopf eines Teenagers ab?

Die beiden Animations­filme «Despicable Me 4» und «Inside Out 2» sind knallbunte­r Spass

- DANIEL HAAS

Die Realität ist blass, flach und öde. Wie sonst lässt sich die Hingabe erklären, mit der die Leute auf ihr Handy starren? Der Blick auf die konkrete Wirklichke­it gehört nicht mehr ins Repertoire sozialer Gesten, selbst beim Gehen wird die faktische Kulisse ausgeblend­et. Die entscheide­nden Dinge laufen im Display, ausserhalb des Screens spielen sich die Nebensache­n ab: wahrnehmen, begreifen, erkennen und so weiter.

Vielleicht ist das der Grund, warum der neuere Animations­film so überborden­d kreativ und suggestiv geworden ist. Die gerade gestartete­n Filme «Despicable Me 4» und «Inside Out 2» sind ein Kräftemess­en zwischen virtuellen Welten und ihren Schöpfern. Ist das Netz mit seinen bunten Sensatione­n neuerdings der Zielort für moderne Zeitgenoss­en, muss das Kino eben noch einen Zahn zulegen.

Visuell sind beide Filme atemberaub­end. Die Materialit­ät der gezeigten Welt hat eine Konkrethei­t, dass man hineinfass­en will in die Leinwand, um den Darsteller­n die Hand zu schütteln. Auch was die dynamische Wucht angeht, mit der Kulissen entstehen und verwandelt werden, scheint eine neue Innovation­sstufe erreicht. «Alles steht kopf» gilt auch für den Zuschauer, dem im Sperrfeuer der Bilder und Motive die Sinne schwinden.

Rasanz ist Pflicht

Dass das Ganze kein hypnotisch­er Bildertaum­el wird, liegt am exzellente­n Storytelli­ng. Beide Filme sind erzähleris­ch straff und extrem ökonomisch gebaut. Der von Kelsey Mann inszeniert­e «Inside Out 2» erzählt vom Teenagermä­dchen Riley und den Gestalten, die ihren mentalen Apparat verwalten. Als Personifik­ationen der Grundgefüh­le Freude, Trauer, Angst, Langeweile und Neid müssen sie eine Pubertätsk­rise meistern. «Despicable Me 4» (Regie: Chris Renaud, Patrick Delage) präsentier­t erneut den Meistersch­urken Gru, mittlerwei­le Familienva­ter mit drei Töchtern und Baby, wie er seine Nemesis, den bösen Maxime Le Mal, bekämpft.

Anders als viele Hollywood-Grossprodu­ktionen brauchen Animations­filme wenig mehr als 90 Minuten für ihre Story. Sie packen an Schauwerte­n aber mindestens so viel hinein wie ein Zweieinhal­b-Stunden-Werk von Marvel. Rasanz ist Pflicht, weil die jungen und jüngsten Zielgruppe­n nun mal keine Lust auf kontemplat­ive Pausen haben. Und auch die Eltern verzichten gern auf Ingmar Bergman zugunsten einer Kinosause aus Bits und Bytes.

Beide Filme haben didaktisch­en Mehrwert. Moralisch eindeutige Lektionen gehören für die erweiterte Zielgruppe Kinder plus Eltern einfach dazu – Ambivalenz ist etwas fürs Autorenkin­o oder sehr ambitionie­rte Genrekunst. In «Despicable Me 4» wird familiärer Zusammenha­lt bebildert und darüber hinaus die Pflicht, in sozialen Fragen grosszügig zu sein. Wenn das Nachbarmäd­chen erst einmal als blöde Bratze rüberkommt, sollte man trotzdem höflich bleiben. Sie könnte sich im Weiteren als heldenhaft­er Sidekick erweisen.

«Inside Out 2» stellt die Charakterf­rage: Muss man grundsätzl­ich solidarisc­h sein mit Freunden, oder darf man sie auch einmal ausbooten – schliessli­ch steht wie bei Riley das Fortkommen im Eishockeyt­eam auf dem Spiel. Natürlich darf man Freunde nicht ausbooten, aber bis man sich durchgewur­stelt hat zu dieser Einsicht, haben die internen Gefühlsakt­eure viel zu tun.

Italo-englische Minions

«Inside Out 2» ist der schlauere Film. Die Übertragun­g der Gemütslage eines Teenagers ins Spiel einzelner Charaktere ist schlüssig und milde ironisch. Psychologe­n sollten sich das anschauen, wenn sie mal wieder gelangweil­t sind von den Routinebes­chwerden ihrer Klientel. Es geht schon was ab im Kopf, man muss es sich nur richtig vorstellen. Das Kino als Vorstellun­gsapparat macht vor, wie’s geht.

«Despicable Me 4» ist dramaturgi­sch schlicht, gestattet sich aber mit den Minions einen Kniff, der die konvention­elle Story immer wieder durcheinan­derwirbelt. Die gelben Männchen in der Form einer Überraschu­ngseikapse­l leben hemmungslo­s ihren Hang zu Schadenfre­ude und Sadismus aus. Im Comic wird niemand wirklich verletzt – umso drastische­r können die Welt und ihre Bewohner beschädigt werden.

Die Minions, vor sich hin schnattern­d mit italo-englischem Phantasies­prech, agieren befreit von sozialen Regeln. Ihre Aggression ist niemals bösartig; es gibt kein amoralisch­es Kalkül, nur naive Enthemmung. Das wirkt entlastend – auch für Erwachsene im Würgegriff der verwaltete­n Welt.

Die Pseudowirk­lichkeit, die uns im Netz mit ihren Projektion­en umbraust, ist im Vergleich zur Kinoanimat­ion zwar plausibler, sie ist aber auch auf affirmativ­e Weise doof. Wenn schon Algorithme­n, dann lieber so: als knallbunte­r korrekter Spass.

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