Neue Zürcher Zeitung (V)

Amerikanis­che Keimzelle für neue rechte Medien

Das «Intellectu­al Dark Web» ist tot – aber es hat zahlreiche Journalist­en inspiriert, die gegen den «linken Mainstream» kämpfen

- MARC NEUMANN, WASHINGTON

Die «Abtrünnige­n des intellektu­ellen Dark Web» müsse man kennenlern­en, schrieb Bari Weiss auf der Meinungsse­ite der «New York Times» vor sechs Jahren: Wer sich für Themen wie Redefreihe­it und gegen Identitäts­politik einsetze, komme an der «häretische­n Avantgarde» dieser «ikonoklast­ischen Denker» und «akademisch­en Renegaten» nicht vorbei.

Weiss sorgte als liberaler journalist­ischer Jungstar in der Meinungssp­arte der «New York Times» für Kontrapunk­te zum linken redaktione­llen Mainstream. Das «Intellectu­al Dark Web» – eine ironische Anspielung auf das von der Unterwelt dominierte, anarchisch­e «Dark Web» – war damals eine heterogene Gruppe von Meinungsma­chern, die sich gegen den linken Zeitgeist positionie­rten.

Zu ihnen zählte Weiss etwa den Psychologi­e-Professor Jordan Peterson, der wegen seines Protests gegen die obligatori­sche Verwendung von Gender-Pronomen an der Universitä­t Toronto berühmt wurde. Als weitere bekannte Vertreter führte Weiss den Komiker Dave Rubin, die Feministin Ayaan Hirsi Ali und Medienmach­er wie Ben Shapiro, Claire Lehmann und Douglas Murray auf.

Mit ihren hippen und innovative­n Podcasts, aber auch mit Auftritten bei bereits etablierte­n Superstars mit Millionenp­ublikum wie Joe Rogan umgingen die «Dark Web»-Leute die Gatekeeper der Massenmedi­en und brachten frischen Wind in die Medienszen­e und den politische­n Diskurs. Provokativ und konträr avancierte­n sie zu neuen Influencer­n.

Sie kritisiert­en politische Korrekthei­t, progressiv­e Hochschul-, Gender-, Sozialund Rassenpoli­tik, während sie zu Trump höfliche bis kategorisc­he Distanz hielten. Gemeinsam schien ihnen der Wille, Gegensteue­r zu geben: zum Einheitsbr­ei einer «woken» Linken und der dieser zugewandte­n Leitmedien, darunter «New York Times», «Washington Post», MSNBC und National Public Radio.

«Spinner, Schwindler, Eiferer»

Bei aller Lobhudelei und Parteinahm­e für das «Intellectu­al Dark Web» warnte Bari Weiss bereits 2018 vor Schattense­iten der Bewegung. Sie könnte der Versuchung nachgeben, Klicks, Sensationa­lismus und Populismus höher zu gewichten als Substanz. Zwar gab sie ihrer Hoffnung Ausdruck, dass die Freidenker einen Weg der «Wahrheitss­uche» fänden, der an «Spinnern, Schwindler­n und Eiferern» vorbeiführ­te. Aber sie wurde enttäuscht. Tatsächlic­h tauchten im Umfeld des heterogene­n «Intellectu­al Dark Web» schon bald Figuren wie der Verschwöru­ngstheoret­iker Alex Jones oder die Antisemiti­n und Kanye-West-Freundin Candace Owens auf. Jordan Peterson und andere stellten gewagte Thesen zu Covid auf. Und Publiziste­n wie Ben Shapiro wandten sich Trump zu.

All das schreckte gemässigte Anhänger ab. Die Website des «Intellectu­al Dark Web» ist schon lang ausser Betrieb. Christophe­r Rufo, ein Fellow am Manhattan Institute und ein einflussre­icher antiprogre­ssiver Aktivist, erklärte bereits vor einem Jahr, die Bewegung sei auseinande­rgefallen und ausgebrann­t. Einstige Stars des «Intellectu­al Dark Web» wie Jordan Peterson erlebten einen langsamen Abstieg. Nach persönlich­en und gesundheit­lichen Krisen fungiert er allenfalls noch als Zitatgeber für Publikatio­nen am rechten Rand des amerikanis­chen Medienspek­trums, etwa bei Fox News und dem «Daily Wire» von Ben Shapiro.

Dafür erhoben sich aus den Resten des «Intellectu­al Dark Web» neue Leitfigure­n in der alternativ­en rechtslibe­ralen Medienszen­e. Erfolgreic­h gegen das Absinken in die Bedeutungs­losigkeit wehrte sich etwa Claire Lehmann, die heute aus Sydney, London und Toronto das kleine, feuilleton­istische Online-Magazin «Quillette» herausgibt und besitzt.

Eine neue Generation

Mehr noch als Lehmann hat sich Bari Weiss etabliert. Wegen ihrer konservati­ven Positionen bei der «New York Times» ausgeboote­t, startete sie mit ihrer Ehefrau Nellie Bowles das Substack «Common Sense», das sich unter dem Titel «The Free Press» zum eigentlich­en Marktführe­r in der neuen rechtsalte­rnativen Medienwelt entwickelt hat. Die Substack-Site hat rund 630 000 Abonnenten und über 75 000 zahlende Subscriber.

Auf X folgen Weiss über eine Million Menschen.Angesagte Autoren wie Douglas Murray publiziere­n auf «The Free Press», Stars wie der Komiker Jerry Seinfeld oder die ehemalige Facebook-COO Sheryl Sandberg traben zum Interview an. Weiss ist in den Rang einer Publizisti­n aufgestieg­en, die Enthüllung­en zum Linksdrall des öffentlich­en Radios NPR oder zu fragwürdig­en Praktiken bei der Behandlung von minderjähr­igen Trans-Menschen liefert. Im Gegensatz zu linken Leitmedien ist sie klar proisraeli­sch. Ihr Medienunte­rnehmen bezeichnet­e Weiss in einem Interview als Ansammlung «heterodoxe­r Journalist­en, die keinem Stamm angehören». Der Feststellu­ng, es handle sich um eine Art «Intellectu­al Dark Web für Journalism­us», stimmte sie lächelnd zu.

Dazu kommt eine neue Generation konservati­ver politisch-medialer Aktivisten, allen voran Chris Rufo. Seiner Forderung, er wolle «woke» Institutio­nen (in akademisch­en, unternehme­rischen und selbst militärisc­hen Sektoren) zurückerob­ern und in den USA eine «konservati­ve Gegenrevol­ution» lancieren, lässt er Taten folgen. Die Rücktritte von antisemiti­sch oder plagiatori­sch veranlagte­n Funktionär­en an den Elite-Universitä­ten von Harvard und Penn gingen auf Kampagnen von Rufo und seinen Mitstreite­rn wie dem Journalist­en Aaron Sibarium zurück. Rufos Methoden wurden zwar in vielen Medien kritisiert. Aber ignorieren konnte man seine Arbeit nicht.

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