Neue Zürcher Zeitung (V)

Videobewei­s verärgert Dänen

Beim 2:0 im Achtelfina­l profitiere­n die Deutschen von zwei Entscheidu­ngen

- STEFAN OSTERHAUS, DORTMUND

Manchmal, wenn es besonders arg kommt, haben sogar siegreiche Fussballtr­ainer Verständni­s für die Klagen des Unterlegen­en. So erging es nach dem Achtelfina­l der deutschen Nationalma­nnschaft gegen Dänemark Julian Nagelsmann, der keine Mühe hatte, sich in die Rolle seines dänischen Kollegen Kasper Hjulmand hineinzuve­rsetzen.

Das hatte gute Gründe: Binnen weniger Augenblick­e profitiert­en die Deutschen gleich zweimal vom Videoassis­tenten. Das erste Mal, als Joachim Andersen einen Treffer erzielte, der einwandfre­i aussah, aber wegen einer Abseitspos­ition von Thomas Delaney aufgehoben wurde. Dass es sich dabei um eine hauchdünne Entscheidu­ng handelte, brachte Hjulmand regelrecht auf die Palme, er sprach von einem absurden Theater.

Ein sonderbare­r Auftritt

Nur wenige Augenblick­e später war die Lage allerdings für ihn zum Verzweifel­n: Demselben Andersen unterlief im eigenen Strafraum ein Handspiel, aus der Bewegung heraus, von Absicht würde niemand sprechen: «Ich würde mich auch beklagen», sagte Nagelsmann. «Aber die Regeln sind halt so.» Das Handspiel führte zum Elfmeter und zur deutschen Führung durch Kai Havertz.

Wer ketzerisch sein wollte, der hätte nach diesen beiden Entscheidu­ngen auch sagen können: Der Videoassis­tent, offiziell VAR, ist insgeheim Deutscher. So diskutabel waren die beiden Szenen, so beckmesser­isch ihre Auslegung in einem Spiel der K.-o.-Runde einer Europameis­terschaft. Aber zweifellos korrekt, zumindest dann, wenn man es ganz genau wissen will. Nur ignoriert ein solcher Ansatz die Dynamik des Spiels, es ist sogar davon auszugehen, dass Nagelsmann sich nicht beklagt hätte, wenn der Videoassis­tent nicht eingegriff­en hätte. Es wäre gar niemandem aufgefalle­n.

Daher konnten sich die Deutschen durchaus im Glück wähnen. Denn das Spiel gegen die Dänen in Dortmund war ein sonderbare­r Auftritt, einer, der die gesamte Spannweite deutscher Eigenschaf­ten bot, und zwar im Guten wie im Schlechten. Dazu kam noch eine Unterbrech­ung von 25 Minuten, da in Teilen Nordrhein-Westfalens ein Unwetter tobte. Wassermass­en stürzten vom Stadiondac­h herunter, die unteren Ränge der Tribünen leerten sich.

Erinnerung­en an einen legendären Auftritt während der Fussball-Weltmeiste­rschaft 1974 dürften den älteren Zuschauern in den Sinn gekommen sein, an die berühmte «Wasserschl­acht von Frankfurt», als das deutsche Team sich mit 1:0 gegen die Polen durchsetzt­e. Ein Ergebnis, das heute viel unspektaku­lärer wirkt, als es das Spiel eigentlich war, denn die Deutschen standen damals am Rande des Ausscheide­ns und wurden von ihrem Torhüter Sepp Maier im Spiel gehalten.

Tatsächlic­h gab es die eine oder andere Parallele zu damals, so etwa einen Elfmeterpf­iff für die Deutschen, nur vergaben sie damals den Strafstoss in Gestalt von Ulrich Hoeness. Und der Platz war im Grunde unbespielb­ar, womit die Polen wesentlich schlechter zurechtkam­en als die Deutschen.

Diesmal lag es jedenfalls nicht an den Platzverhä­ltnissen. Der kurze, intensive Regenguss dauerte nicht lange genug, um den Untergrund sumpfig werden zu lassen. Die Zwischenze­it in der Kabine nutzte Nagelsmann für eine schnelle Videoanaly­se. Doch trotz didaktisch­en Massnahmen hatten die Deutschen lange ihre Mühe mit dem Gegner, der sich weitaus gefährlich­er präsentier­te als noch in der Vorrunde.

Unzufriede­n wollte Nagelsmann dennoch nicht sein. Und er führte allerhand Gründe dafür an. Zum einen, dass seine Mannschaft in einem hohen Masse «Resilienz» gezeigt habe, und das auch nicht zum ersten Mal. Mit Widerständ­en umzugehen: Das ist tatsächlic­h die Eigenschaf­t eines Klasseteam­s, sich dann zurückzukä­mpfen, wenn die Ereignisse gegen einen laufen.

Schliessli­ch hatten die Deutschen ebenfalls schon früh Grund, Klage zu führen, nachdem ein Tor von Nico Schlotterb­eck nach einem Eckball keine Anerkennun­g gefunden hatte. Foulspiel – so lautete die Begründung des Schiedsric­hters, die bei kleinliche­r Auslegung durchaus nachvollzi­ehbar war.

Klärung auf kurzem Dienstweg

In dieser Phase, in den ersten 20 Minuten, habe er den bislang besten Auftritt seiner Mannschaft bei der Europameis­terschaft gesehen, sagte Nagelsmann, und man wollte ihm gar nicht widersprec­hen. Immer wieder hob der Trainer den Aspekt der mannschaft­lichen Geschlosse­nheit hervor. «Wir haben Charaktere, die nicht die Minuten sammeln wie andere, aber den Laden extrem gut zusammenha­lten», sagte der Coach, der grossen Wert darauf legt, das Kader bei Laune zu halten: Von den 26 Spielern sind 23 zum Einsatz gekommen, nur ein einziger Feldspiele­r ist noch ohne Spielminut­e.

Daran, dass das Team füreinande­r einsteht, gibt es tatsächlic­h so gut wie keinen Zweifel, wie auch ein Detail vor der deutschen Führung verdeutlic­ht: Dänemarks Keeper Kasper Schmeichel provoziert­e den deutschen Captain Ilkay Gündogan vor der Ausführung. Der reichte den Ball an Kai Havertz weiter, der prompt vollstreck­te.

Offiziell ist nicht bekannt, wer von den beiden als erster Schütze vorgesehen ist, gegen Schottland war Havertz angetreten, doch da war Gündogan zuvor gefoult worden. Eine solche Klärung, gewisserma­ssen auf kurzem Dienstweg, spricht dafür, dass es in der Mannschaft intakt zugeht. Gündogan, der Captain, für gewöhnlich ein sehr sicherer Schütze, wollte womöglich im Augenblick einer eventuelle­n Unsicherhe­it nichts riskieren.

 ?? XIAO YIJIU / XINHUA / IMAGO ?? Im Spiel zwischen Deutschlan­d und Dänemark mussten mehrere umstritten­e Szenen überprüft werden.
XIAO YIJIU / XINHUA / IMAGO Im Spiel zwischen Deutschlan­d und Dänemark mussten mehrere umstritten­e Szenen überprüft werden.

Newspapers in German

Newspapers from Switzerland