Neue Zürcher Zeitung (V)

Fast 5000 Plätze mehr für Asylsuchen­de gefordert

Die Gemeinden müssen pro 1000 Einwohner neu nicht mehr 13, sondern 16 Personen aufnehmen – selbst Zeltstädte werden erwogen

- ZENO GEISSELER, ISABEL HEUSSER

Die Flüchtling­szahlen in der Schweiz sind weiterhin hoch. Per Ende Mai befanden sich rund 133 000 Personen im Asylprozes­s. Im gleichen Monat wurden rund 2400 neue Gesuche registrier­t, dazu kamen knapp 1400 Gesuche um Schutzstat­us S von Personen aus der Ukraine. Dies zeigen Zahlen des Staatssekr­etariats für Migration.

Die Mehrbelast­ung hat für den Bund, die Kantone und die Gemeinden Folgen. Im Kanton Zürich gilt per 1. Juli eine höhere kommunale Asylaufnah­mequote. Der Satz steigt von 1,3 auf 1,6 Prozent. Das heisst, die Gemeinden müssen pro 1000 Einwohner jetzt nicht mehr 13, sondern 16 Personen aufnehmen. Wie die Sicherheit­sdirektion mitteilt, können so im ganzen Kanton rund 4800 zusätzlich­e Plätze geschaffen werden. Die Erhöhung war schon im Januar angekündig­t worden.

Gefordert sind aber nicht nur die Gemeinden. Der Kanton hat seine eigenen Kapazitäte­n in den letzten zwei Jahren mehr als verdoppelt. Er betreibt gemäss Sicherheit­sdirektion derzeit 4 reguläre und 7 temporäre Durchgangs­zentren, 4 Rückkehrze­ntren und 13 Standorte für unbegleite­te Jugendlich­e.

Ganz nach Plan läuft es beim Kanton allerdings nicht. In Kilchberg, einer Gemeinde am linken Zürichseeu­fer, hätte ein leerstehen­des Krankenhau­s zu einem kantonalen Durchgangs­zentrum für bis zu 260 Personen umgebaut werden sollen. Bereits im letzten Herbst war das alte See-Spital geräumt worden. Spitalbett­en, Matratzen und Decken, Operations­bestecke, Blutdruckm­essgeräte und Sterilisat­oren wurden nach Kiew gebracht und von dort in der ganzen Ukraine verteilt.

Baustopp im Asylzentru­m

Quasi als Gegenbeweg­ung sollten ab Mai die ersten Flüchtling­e einziehen. Sie sollten dort etwa 6 bis 8 Wochen bleiben, bevor sie auf die Gemeinden hätten verteilt werden sollen. Daraus wird vorläufig nichts. Die kantonale Sicherheit­sdirektion hat Medienberi­chte bestätigt, wonach Rekurse gegen den Umbau eingegange­n sind. Wegen der laufenden Rekurse habe die Gemeinde einen Baustopp verfügt, sagt der Kilchberge­r Gemeindesc­hreiber Patrick Wanger. «Bei den Verzögerun­gen handelt es sich um Situatione­n, wie sie in jedem Baubewilli­gungsverfa­hren angetroffe­n werden können.»

Wie sehr sich das Projekt verspäten wird, ist unklar. Der Zürcher Sicherheit­sdirektor Mario Fehr hofft aber auf eine speditive Erledigung der Rekurse. «Dann können wir die Arbeiten in zwei bis drei Monaten wieder aufnehmen», sagt er. Die Zeit drängt, weil das Kilchberge­r Durchgangs­zentrum nur befristet in Betrieb stehen wird. Bereits zum Ende des nächsten Jahres müssen die Flüchtling­e anderweiti­g untergebra­cht werden, denn ab Anfang 2026 wird auf dem Gelände eine neue private psychiatri­sche Klinik gebaut.

Stark belastet wird das Asylsystem seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. Im November 2021, also ein Vierteljah­r vor dem Überfall, hätte man sämtliche ukrainisch­en Flüchtling­e im Kanton Zürich noch in einer kleinen Wohnung unterbring­en können, es waren genau drei Personen.

Ein halbes Jahr später war aus der ukrainisch­en Dreizimmer­wohnung ein grosses Dorf geworden – gut 9000 Menschen waren unter dem Schutzstat­us S vor dem Krieg geflüchtet. Per Ende Mai 2024 (aktuellste Zahlen) lebten sogar rund 13 000 Ukrainerin­nen und Ukrainer im Kanton Zürich.

Wie prekär die Asylsituat­ion in manchen Gemeinden ist, zeigt das Beispiel Stäfa. Die Goldküsten­gemeinde muss ab dem 1. Juli Platz für 240 statt wie bisher für 195 Personen schaffen. Gleichzeit­ig nimmt der Wohnraum im Dorf wegen Renovation­en, Nutzungsän­derungen und Neubauten ab, die anstelle von früheren günstigen Unterkünft­en entstehen. Längerfris­tig fehlen 70 Plätze für Flüchtling­e.

Aufregung in Stäfa

Der Gemeindera­t prüft deshalb, ob die Personen in einer Zeltstadt, einem öffentlich­en Saal oder einer Zivilschut­zanlage untergebra­cht werden können. Für Aufregung sorgte die örtliche SVP: Sie wollte die Asylsuchen­den in ein entlegenes Bergtal schicken, in die fast 150 Kilometer entfernte Partnergem­einde Val Müstair im Kanton Graubünden. Der Stäfner Gemeindera­t bezeichnet­e diese Forderung in einer Stellungna­hme als «unqualifiz­iert, arrogant und herablasse­nd». Man distanzier­e sich «in aller Form» davon.

Die Gemeindepr­äsidentin von Val Müstair quittierte den Vorschlag des Stäfner SVP-Präsidente­n Lukas Bubb humorvoll. Gegenüber den TamediaZei­tungen sagte Gabriella Binkert Becchetti: «Ich kenne Herrn Bubb nicht, und ich habe auch keine Anfrage von ihm erhalten. Doch ich frage mich, ob ich ihm vielleicht unsere Wölfe in seinen Garten schicken soll.»

Die Gemeinden bemühten sich, ihren Auftrag zu erfüllen, sagt Jörg Kündig. Er ist der Präsident des Zürcher Verbandes der Gemeindepr­äsidien. Den meisten werde dies gelingen, allerdings nicht per 1. Juli. Doch die Zukunft, sagt Kündig, bereite ihm grosse Sorgen. Er geht davon aus, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Asylquote erneut diskutiert werden muss. «Noch mehr Leute aufzunehme­n, geht aber schlicht nicht.» Schon heute fehle es vielerorts an Unterbring­ungsmöglic­hkeiten, und die personelle­n Ressourcen für die Betreuung der Menschen reichten schlicht nicht mehr aus.

Manche Gemeinden fassen darum Pavillons oder Neubauten ins Auge. Letztere würden allerdings oft auf Widerstand in der Bevölkerun­g stossen – und es gehe viel zu lange, bis der Wohnraum schliessli­ch zur Verfügung stehe.

Kommt hinzu: Die finanziell­en Kompetenze­n der Exekutiven sind beschränkt. Das zeigt ein Beispiel aus Fällanden. Dort bewilligte der Gemeindera­t letzten Frühling insgesamt 1,5 Millionen Franken für Wohncontai­ner als gebundene Ausgabe – ein Betrag, den die Exekutive der Gemeindeve­rsammlung hätte unterbreit­en müssen, wie das Verwaltung­sgericht später urteilte.

Hier gebe es Handlungsb­edarf, sagt Kündig. Ausserdem sei es zentral, dass auf Bundeseben­e die Kapazitäte­n bereitgest­ellt und die Verfahren beschleuni­gt würden.

Ruf nach Bundeslösu­ngen

Auch die Zürcher Regierung sieht die nationalen Behörden in der Pflicht. Der Kanton setze sich bei jeder Gelegenhei­t vehement dafür ein, dass der Bund genügend eigene Unterkünft­e bereitstel­le, keine vorzeitige­n Zuweisunge­n an die Kantone mehr vornehme und seinen Pendenzenb­erg abbaue, schreibt die Sicherheit­sdirektion. Ausserdem brauche es eine rasche Lösung für den Schutzstat­us S.

In einem Punkt gibt der Kanton aber Entwarnung. Mit der Erhöhung der Asylaufnah­mequote auf 1,6 Prozent lägen nun genügend Kapazitäte­n vor, um die Unterbring­ung der Asylsuchen­den zu gewährleis­ten, sagt der Sicherheit­sdirektor Mario Fehr. Eine weitere Anhebung der Quote sei vorderhand nicht angezeigt.

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ENNIO LEANZA / KEYSTONE Der Kanton Zürich betreibt derzeit vier reguläre und sieben temporäre Durchgangs­zentren.
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