Neue Zürcher Zeitung (V)

Staut sich schwüle Luft an den Alpen, erneuern sich Gewitter immer wieder

Der Luftdruck über Mitteleuro­pa ist deutlich niedriger als sonst im Sommer

- SVEN TITZ

Tobende Bäche und Flüsse, unterspült­e Strassen, donnernde Murgänge, von Gestein begrabene oder eingedrück­te Gebäude – die Bilder vom Wochenende aus dem Wallis und dem Tessin erwecken den Eindruck eines Déjà-vus: Hat sich all das nicht eine Woche zuvor schon einmal ereignet, nämlich im Süden Graubünden­s und im Wallis?

Meteorolog­en haben die Gefahr früh erkannt. Bereits am Donnerstag weisen sie warnend auf die Möglichkei­t von Unwettern hin. Ein kleines Gebiet tiefen Luftdrucks über Spanien zieht Ende der vergangene­n Woche langsam Richtung Mitteleuro­pa. Das Tief verstärkt sich, was bedeutet, dass der Luftdruck sinkt. Auf der Vorderseit­e des Tiefs wird sehr warme und feuchte Luft vom Mittelmeer angesaugt.

10 000 Blitze innert kurzer Zeit

In dieser Luftmasse, schwül wie in der Waschküche, bilden sich am Samstag auf der Alpensüdse­ite immer wieder kräftige Schauer und Gewitter. Sie stauen sich an den Bergen. Weil sich das Tief so langsam bewegt und die Windrichtu­ng über längere Zeit die gleiche bleibt, lösen sich diese Gewitter nicht rasch auf, sondern regenerier­en sich an Ort und Stelle über Stunden hinweg immer wieder.

Auf diese Weise kommen aussergewö­hnlich hohe Regenmenge­n zusammen. Laut Meteo Schweiz fallen im oberen Teil des Maggiatals zwischen 200 und 250 Liter Regen pro Quadratmet­er, und das innerhalb von 24 Stunden. Das ist mehr als der gesamte Niederschl­ag, der im Juni durchschni­ttlich in Lugano fällt. Im Grenzgebie­t zwischen Wallis und Piemont sind es mehr als 100 Liter Regen pro Quadratmet­er. Verstärkt werden die Sturzflute­n dadurch, dass in hohen Lagen auch Schnee schmilzt – dies gilt vor allem für das Wallis. Obendrein blitzt und donnert es in diesen Gewittern, was das Zeug hält. Die Meteorolog­en von Meteo Schweiz zählen innerhalb weniger Stunden mehr als 10 000 Gewitterbl­itze. Erst in den Morgenstun­den des Sonntags ist der Spuk vorüber.

Die Vorhersage dieser Unwetter bereitet den Fachleuten einige Schwierigk­eiten. Komplizier­t wird es dadurch, dass der Südwind eine Menge Saharastau­b mitbringt. Wüstenstau­b kann die Wetterprog­nosen durcheinan­derbringen, weil er die Wolkenbild­ung und die Sonneneins­trahlung beeinfluss­t. Laut Meteo Schweiz unterdrück­te dies die Entwicklun­g von Gewittern in der Deutschsch­weiz. Die Unsicherhe­it der Prognosen ist aber auch deshalb gross, weil Gewitter zu den dynamischs­ten und chaotischs­ten Wetterphän­omenen überhaupt zählen.

Heftige Gewitter löst die Wetterlage am Samstag auch in der Westschwei­z und in den Nachbarlän­dern aus. In Frankreich und im Nordwesten Italiens werden dabei an mehreren Orten Sturm- oder Orkanböen gemessen, und es fallen Hagelkörne­r vom Himmel, die teilweise die Grösse von Aprikosen haben. Im Aostatal und in Piemont treten Bäche und Flüsse über die Ufer, ganz ähnlich wie im Tessin.

Spezielle Grosswette­rlage

Seit Wochen ist die Witterung in Mitteleuro­pa unbeständi­g. Immer wieder wird der Alpenraum von heftigen gewittrige­n Regenfälle­n heimgesuch­t, die Überflutun­gen und Murgänge verursache­n. Der Grund dafür ist die bestehende Grosswette­rlage, die in diesem Jahr eine spezielle Form besitzt.

Nicht selten bildet sich im europäisch­en Sommer eine Zone hohen Luftdrucks, die von den Azoren über Westund Mitteleuro­pa bis nach Skandinavi­en reicht und wochenlang für trockenes, heisses Wetter sorgt. Doch im Sommer 2024 sieht die Grosswette­rlage anders aus: Der Luftdruck über Mitteleuro­pa ist deutlich niedriger als sonst. Immer wieder dringen Tiefdruckg­ebiete aus Nordwesten bis zum Alpenraum vor und rufen dort Unwetter hervor. Ein Wechsel zu sonnigem Hochdruckw­etter ist derzeit nicht in Sicht.

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