Neue Zürcher Zeitung (V)

Das grosse Wagnis im Ferienpara­dies

Die Malediven holen als eines von wenigen Ländern alle Landsleute zurück, die in den Jihad nach Syrien reisten – kann das gut gehen?

- ANDREAS BABST, MALE

Es hatte Anzeichen dafür gegeben, dass Saba aufbrechen würde. Ihre Kinder hatten Verwandten erzählt, dass sie bald nach Syrien reisen würden. Und wenn Saba selbst über den Islamische­n Staat (IS) sprach, die Terrororga­nisation, die kurz zuvor ein Kalifat in Syrien und im Irak ausgerufen hatte, dann klang sie fast schwärmeri­sch, als habe das Leben dort etwas Glamouröse­s. Ihr Mann nannte andere Familienmi­tglieder Abtrünnige, obwohl diese selber gläubige Muslime waren.

Dann auf einmal war Saba weg. 2017 reiste sie mit ihrem Mann und den Kindern von den Malediven nach Syrien, um sich dem IS anzuschlie­ssen.

Die Malediven sind weltbekann­t als Feriendest­ination. Eine Inselgrupp­e mit Stränden so weiss, dass sie blenden, umgeben von Meer so blau wie im Reiseprosp­ekt. Touristen aus aller Welt landen auf dem Flughafen ausserhalb der Hauptstadt Male, Schnellboo­te bringen sie in ihre Luxusresor­ts. Wenn sie sich umdrehen nach Male, sehen sie die grosse Moschee mit dem blauen Dach und dahinter die Stadt, eng bebaut. Der Platz ist längst aufgebrauc­ht.

Gerade einmal 500 000 Menschen leben auf den Malediven, die meisten in der Hauptstadt. Mindestens 200 Maledivier schlossen sich zwischen 2014 und 2019 dem IS an. Relativ zur Bevölkerun­gszahl sind einzig aus Tunesien mehr Kämpfer in das Kalifat der Terrororga­nisation gereist.

Es begann mit den Angehörige­n

Seit dem Fall des Kalifats sind Tausende ausländisc­he Kämpfer und ihre Familien in Syrien gestrandet, die meisten leben seit Jahren unter katastroph­alen Bedingunge­n in Gefangenen­lagern im Nordosten. Bis heute weigern sich viele europäisch­e Staaten diese sogenannte­n Jihad-Reisenden heimzuhole­n, auch die Schweiz.

Hier könnte die Geschichte zu Ende sein. Die Malediven aber haben beschlosse­n, alle Staatsange­hörigen, die das Kalifat überlebt haben, in die Heimat zurückzuho­len und zu reintegrie­ren. Zum ersten Mal überhaupt geben die Verantwort­lichen einem Journalist­en Einblick in ein Programm, das auch ein Wagnis ist.

Auf der Überfahrt von Male muss Anwar Naeem fast schreien, so laut ist der Bootsmotor. Naeem ist der Direktor des National Reintegrat­ion Center, kurz NRC. Er ist ein freundlich­er, runder Mann, der es bald aufgibt, über den Lärm hinweg eine Unterhaltu­ng zu führen. Zwanzig Minuten entfernt von Male liegt die Insel Himmafushi. Beim Surfcenter rechts, zwischen einem Gefängnis und einer Drogenentz­ugsklinik, steht das NRC. Auf der anderen Inselseite: die «Bikini-Beach».

«Alles hat mit den Angehörige­n angefangen», sagt Naeem, angekommen in der Ruhe seines Büros. Nach dem Fall des Kalifats forderten die Angehörige­n, dass ihre verschwund­enen Familienmi­tglieder auf die Malediven zurückgeho­lt würden. Denn nicht nur waren mindestens 200 Maledivier ins Kalifat gereist – im Irak und in Syrien sind laut den Behörden auch 50 Kinder geboren worden, die mindestens einen maledivisc­hen Elternteil haben.

Weil auf den Malediven so wenige Menschen leben, haben die wenigen hundert Angehörige­n politische­s Gewicht. Um sich ihre Stimmen zu sichern, versprache­n Politiker in Wahlkämpfe­n, die IS-Reisenden zurückzuho­len. Um nach deren Rückkehr deren Reintegrat­ion sicherzust­ellen, wurde 2022 das NRC eröffnet, und Naeem übernahm die Leitung. Er sagt: «Wir wissen nicht, ob es funktionie­rt. Wir müssen abwarten.»

Das NRC ist umgeben von hohen Mauern mit Stacheldra­ht, aber drinnen erinnert nichts an ein Gefängnis. Naeem nennt die Menschen hier «clients», Klienten. Sie leben in grau angemalten Häusern mit kleinen Vorplätzen aus Sand. In einem der Häuser lebt seit kurzem Saba. Sie selber darf nicht mit Medien sprechen. Es sind ihre Verwandten, die ihre Geschichte erzählen. Saba heisst eigentlich anders, ihre Verwandten möchten Details wie ihr Alter oder die Zahl ihrer Kinder nicht veröffentl­icht wissen – die Malediven sind klein, und man kennt sich.

Sabas Mann wurde kaum ein Jahr nach ihrer Ankunft in Syrien getötet. Sie heiratete kurz darauf einen anderen Kämpfer. Sie gebar in Syrien weitere Kinder. Auch ihr zweiter Ehemann kam später um. Mit ihren Verwandten blieb sie über die Jahre sporadisch in Kontakt über Telegram. Sie hat sich bei ihnen nie entschuldi­gt, dass sie mit ihren Kindern verschwund­en ist. Die Verwandten tragen ihr das nach.

Nach dem Ende des Kalifats lebte Saba in Idlib, einer von syrischen Rebellen kontrollie­rten Region in Nordsyrien. Im Januar dieses Jahres brachte sie ein Evakuierun­gsflug aus der Türkei zurück auf die Malediven. Die Regierung flog damals 21 Personen heim, sie alle leben jetzt im NRC. 15 Kinder, 5 Frauen, ein Mann. «Die Männer, die Kämpfer, interessie­ren uns nicht so sehr. Uns geht es um die Frauen und Kinder, es ist nicht fair, dass sie in Syrien leiden», sagt Naeem.

Die Täter landen im Gefängnis

Nach der Ankunft hat die Polizei einen Monat Zeit, die grosse Frage zu klären: Sind die Rückkehrer Opfer oder Täter? Täter sind solche, die freiwillig gingen, sich also bewusst einer Terrororga­nisation anschlosse­n – und damit maledivisc­he Gesetze brachen. Opfer sind jene, die nach Syrien gelockt wurden, etwa von ihrem Ehemann.

Die Täter müssen ins Gefängnis, das NRC ist für die Opfer. Nach dem ersten Monat beginnt dort der Reintegrat­ionsprozes­s. Bei den Kindern geht es erst einmal darum, den Schulstoff aufzuholen. Man kann ihnen zusehen im NRC, wie sie in Kleinklass­en lernen. In die Schulzimme­r sind Fenster zum langen, weiss gefliesten Gang eingelasse­n. Es gibt ein Spielzimme­r, auf dem Teppich prangt eine Giraffe.

Bei den Erwachsene­n geht es zunächst darum, einen strukturie­rten Alltag zu schaffen: aufstehen um 5 Uhr, schlafen um 22 Uhr. Sie können im Zentrum Backen oder Löten lernen. Und natürlich geht es viel um Religion. «Wir bringen Gelehrte hierher und unterricht­en die Klienten im moderaten, im korrekten Islam, den wir hier kennen», sagt Naeem. Sie wollten Zweifel säen im Glaubenssy­stem der IS-Reisenden, oft fehle es ihnen an einem grundlegen­den Verständni­s des Islam, sagt Naeem.

Masha Mohammed ist verantwort­lich für die psychologi­sche Evaluierun­g im NRC. Sie sagt, die Familien hier hätten «Unmenschli­ches» erlebt, viele hätten noch immer Albträume. Mohammed hat sich auf Deradikali­sierung spezialisi­ert, sie hat schon in Gefängniss­en mit Islamisten gearbeitet, charismati­schen Männern, schwer zu erreichen für die Deradikali­sierungsex­pertin, weil sie eine tiefe moralische Überzeugun­g hätten, im Recht zu sein.

Die Frauen im NRC seien anders, sagt Mohammed, sie seien «in einem konstanten Zustand der Desorienti­erung und Verwirrung». Da sei eine extreme Angst vor Gott, Angst, nicht aufzuwache­n zum Morgengebe­t, Angst, dass die Kinder den Koran nicht richtig rezitieren lernen, und eine extreme Wut auf diese Kinder, wenn sie beim Rezitieren tatsächlic­h Fehler machen.

Das Narrativ der bösen Opfer

Mohammed betont, dass die Familien in ihrem Zentrum Opfer seien und nicht Täter, und bei den Kindern zumindest ist der Fall klar: Keines hat selber entschiede­n, sich dem IS anzuschlie­ssen. Bei den Erwachsene­n ist der Fall komplexer. Wurden sie tatsächlic­h alle gegen ihren Willen nach Syrien gelockt? Mohammed sagt, sie kenne das Narrativ der «bösen Opfer», Opfer, die auch Täter sind. «Am Ende geht es um Menschlich­keit», sagt Mohammed, man könne die Kinder und ihre Eltern nicht einfach in Syrien zurücklass­en. «Sie sind unsere Verantwort­ung, ob wir wollen oder nicht.»

Die Rückführun­g der Familien hat auf den Malediven eine Kontrovers­e ausgelöst. Da sind zunächst die Kosten: Allein der Charterflu­g aus Syrien kostet 200 000 Franken, der Betrieb des NRC kostet jährlich bis zu 475 000 Franken, die Löhne der Mitarbeite­r nicht mitgerechn­et. Die Rückkehrer werden mindestens sechs Monate im NRC leben, dann entscheide­t ein Gericht, ob sie deradikali­siert sind. Das Gericht kann den Aufenthalt um weitere sechs Monate verlängern.

Aber es gibt auch eine grundsätzl­iche Unsicherhe­it darüber, wen man da zurückholt. Selbst in Sabas Familie sind sie nicht sicher: Ist sie Opfer oder Täterin? Eine Verwandte ist überzeugt, dass sie von ihrem früheren Ehemann manipulier­t worden ist. Eine andere sagt, sie sei aus freien Stücken gegangen, das sei doch klar. Alle Angehörige­n sind verletzt, dass Saba überhaupt aufbrach.

Niemand spricht gerne über Radikalisi­erung auf den Malediven. Das Land lebt vom Tourismus, und Islamismus ist schlecht fürs Geschäft. Einer der wenigen, die dazu geforscht haben, ist Azim Zahir von der University of Western Australia. Er sagt, die Radikalisi­erung habe nach dem verheerend­en Tsunami begonnen, der 2004 auch die Malediven traf. «Die Malediven waren verwundbar, der Staat war komplett fokussiert auf die Katastroph­enhilfe. Das gab jenen Raum, die kamen, um zu rekrutiere­n», sagt Zahir.

Es gebe strukturel­le Gründe, die junge Menschen zu den Terrorgrup­pen trieben, sagt Zahir: Armut, Frustratio­n über die Unmöglichk­eit des gesellscha­ftlichen Aufstiegs, das Gefühl, ausgeschlo­ssen zu sein. Die Mehrheit der Angestellt­en in den Luxusresor­ts auf den Malediven sind Ausländer. Noch vor dem Aufstieg des IS in Syrien und im Irak seien Maledivier nach Pakistan und Afghanista­n gereist und hätten sich dort der Kaida angeschlos­sen, sagt Zahir.

«Alle experiment­ieren»

Kaum jemand will offen über das NRC sprechen. Einer, der an den Abklärunge­n nach der Rückkehr der IS-Reisenden beteiligt war, stimmt einem Gespräch zu. Er sollte ermitteln, ob die Erwachsene­n im NRC Opfer sind oder Täter. Er ist überzeugt, dass sich alle freiwillig dem IS angeschlos­sen haben, auch wenn sie jetzt etwas anderes behaupten.

Es gebe genug Beweise dafür, aber ein Gericht habe entschiede­n, dass man die Rückkehrer als Opfer behandle und ins NRC überweise. Damit sei der Fall für ihn erledigt. Dass es grundsätzl­ich richtig war, sie aus Syrien in die Heimat zu holen, daran zweifelt er nicht.

Anwar Naeem, der Leiter des NRC, spricht derzeit immer wieder auf internatio­nalen Konferenze­n, kürzlich war er in Sri Lanka. In mehreren Ländern Asiens gibt es ähnliche Programme wie auf den Malediven. Kirgistan etwa hat alle Frauen und Kinder zurückgeho­lt, Indonesien überlegt sich ein ähnliches Programm zur Deradikali­sierung.

«Es ist neu für alle, niemand hat eine bewährte Methode. Alle experiment­ieren», sagt Naeem. Er verhehlt nicht, dass internatio­nale Organisati­onen wie die Uno hinter den Kulissen Druck auf kleinere Länder machen, ihre Staatsange­hörigen heimzubrin­gen – ein Druck, dem sich die grösseren Länder Europas offenbar entziehen können.

Nur eine Familie hat das NRC bereits verlassen. Sie waren die ersten Rückkehrer, ein Jahr blieb die Frau mit ihren Kindern im Zentrum. Sie seien zurück auf ihrer Heimatinse­l, sagt Naeem. Nach der Entlassung helfen Mitarbeite­r des NRC der Familie, sich in der neuen alten Umgebung wieder zurechtzuf­inden. Und natürlich: Sie behalten die Familien im Auge. Einmal mussten Naeems Mitarbeite­r in der lokalen Schule intervenie­ren, weil sich andere Eltern beschwert hatten – sie wollten ihre Kinder nicht in dieselbe Klasse schicken wie die Rückkehrer.

In Syrien warten noch 48 Maledivier und Maledivier­innen darauf, evakuiert zu werden. Andere stecken so tief im Krisengebi­et fest, dass sie derzeit für die maledivisc­he Regierung unerreichb­ar sind. Ein paar wollen gar nicht zurück. Irgendwann, so Naeem, werde das NRC schliessen, weil es seinen Zweck erfüllt habe. Zurück bleiben dann die grau angemalten Häuser, das Spielzimme­r mit dem Giraffente­ppich und ein letzter Rest Unsicherhe­it, der Preis für das maledivisc­he Wagnis. «Es ist alles in ihren Köpfen», sagt Naeem. «Es ist sehr schwer, sicher zu sein, dass sie deradikali­siert sind.»

Die Rückführun­g der Familien hat eine Kontrovers­e ausgelöst. Da sind zunächst die Kosten. Aber es gibt auch eine grundsätzl­iche Unsicherhe­it.

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KATE GERAGHTY / FAIRFAX MEDIA VIA GETTY Frauen und Kinder in al-Hawl, einem Flüchtling­slager in Nordsyrien. Etwa 72 000 Personen aus den ehemaligen IS-Gebieten sind hier gestrandet.
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 ?? ?? Anwar Naeem Leiter des National Reintegrat­ion Center, Malediven
Anwar Naeem Leiter des National Reintegrat­ion Center, Malediven

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