Neue Zürcher Zeitung (V)

Sturzflute­n und Erdrutsche im Wallis und im Tessin

Unwetter kosten mindestens vier Menschen das Leben

- MATTHIAS VENETZ, GRÔNE

etz. Grône / pja. Locarno · Nur schon die Zahlen von Meteo Schweiz sind erschrecke­nd. Mehr als 10 000 Blitze wurden am Wochenende innert 24 Stunden registrier­t. Im oberen Maggiatal fielen rund 200 Liter Regen pro Quadratmet­er. Derweil gingen im Grenzgebie­t zwischen dem Wallis und Piemont rund 150 Liter Regen pro Quadratmet­er nieder. Verstärkt wurden die Fluten noch dadurch, dass auch Schnee im Hochgebirg­e schmolz, insbesonde­re im Wallis. Und so erlebten das Wallis und das Tessin das zweite Katastroph­en-Wochenende in Folge.

Die Rhone trat im Wallis an mehreren Stellen über das Ufer. Zahlreiche Verkehrsst­rassen wurden gesperrt. Auch ein Teilstück der Autobahn 9 musste am Sonntagmor­gen geschlosse­n werden. Die Simplonpas­s-Strasse ist nach einem Murgang bis auf weiteres nicht befahrbar. Mehrere Gemeinden im Saastal sind derzeit nur per Helikopter zu erreichen. Ein Feriengast wurde in einem Hotel in Saas-Grund leblos aufgefunde­n. Er wurde dort mutmasslic­h von den Wassermass­en überrascht. Eine weitere Person wird im Walliser Binntal vermisst.

Im Kanton Tessin verwandelt­e ein Erdrutsch das Maggiatal in ein Katastroph­engebiet. Im Laufe des Sonntags wurden dort drei Leichen geborgen. Nach einer weiteren Person wird laut den Behörden noch gesucht. Eine Brücke wurde durch den reissenden Fluss zerstört, mehrere Seitentäle­r waren auf dem Landweg nicht mehr erreichbar. Im am stärksten betroffene­n Gebiet sind auch die Kommunikat­ionsnetze und die Stromverso­rgung unterbroch­en. Wie der Katastroph­en-Warndienst Alertswiss mitteilte, sind zudem einige Gemeinden von der Trinkwasse­rversorgun­g abgeschnit­ten.

Beide Kantone haben am Sonntag die Armee um Hilfe gebeten und diese auch umgehend erhalten. Die Schweizer Armee hat in den Unwetterge­bieten Super-Puma-Helikopter im Einsatz. Auf Gesuch der Kantone würden weitere Einsatzmit­tel zur Verfügung gestellt, hiess es.

Zum zweiten Mal innerhalb einer Woche ist es im Wallis zu Überschwem­mungen und Murgängen gekommen. Einige Dörfer sind noch immer abgeschnit­ten, der Simplon- und der Nufenenpas­s sind gesperrt. Im Gommer Binntal wird ein 52-jähriger Mann vermisst. In SaasGrund fanden Rettungskr­äfte einen Mann tot in einem Hotel. Er sei, so mutmasst die Polizei, von den Wassermass­en überrascht worden.

Am Sonntagvor­mittag bat der Kanton Wallis die Schweizer Armee um Unterstütz­ung. Am Nachmittag trat der Staatsrat Frédéric Favre in Grône, im Mittelwall­is, vor die Medien. Neben Favre sassen ein halbes Dutzend Experten und Sachverstä­ndige des Kantons. Sie sprachen von «Ereignisse­n» auf dem gesamten Kantonsgeb­iet. Die Lage erinnere an die verheerend­en Unwetter im Jahr 2000, als ein Murgang das halbe Grenzdorf Gondo mit sich gerissen und weite Teile des Rhonetals unter Wasser gesetzt hatte. Gemessen an «einzelnen Indikatore­n», so der Staatsrat Favre, sei die aktuelle Lage aber gravierend­er.

Erneut ein Jahrhunder­tereignis

Raphaël Mayoraz, der Chef der Dienststel­le für Naturgefah­ren, sagte, eine Naturkatas­trophe wie die aktuelle finde nach den bekannten Wettermode­llen alle hundert Jahre statt. Nach dem Jahr 2000 habe man nun aber schon wieder ein Jahrhunder­tereignis. Dann sagte er: «Diese Modelle bilden unsere Realität nicht mehr ab.» Die ersten Erklärunge­n des Dienstchef­s Mayoraz klangen simpel: In den Bergen sammelte sich in letzter Zeit mehr Schmelzwas­ser als in vergangene­n Jahren. In den vergangene­n Wochen regnete es mehr als zu dieser Jahreszeit üblich. So konnten die Böden kein Wasser mehr aufnehmen. Das Wasser sammelte sich und staute sich anderswo.

Ab Samstagmit­tag zogen von Süden her etliche Gewitter über das Wallis. Besonders betroffen waren das Goms, das Saas- und das Mattertal, aber auch das Val d’Anniviers, das Val d’Hérens und das Rhonetal selbst. Die Niederschl­agsmengen waren im Oberwallis noch einmal grösser als am vergangene­n Wochenende. Laut dem «Walliser Boten» fielen im Gommer Binntal innert acht Stunden 156 Liter Regen pro Quadratmet­er.

Nach diesen starken Niederschl­ägen brachen kleine Bergbäche in den südlichen Seitentäle­rn aus ihren Flussläufe­n aus und rissen Böschungen, Bäume und Felsbrocke­n mit sich. Mancherort­s trugen sie den Schlamm und den Schutt in die Dörfer und bis in die Häuser. So zum Beispiel in Saas-Grund, im Saastal. Dort ging beim südlichen Dorfausgan­g ein Murgang nieder. Zudem trat der Triftbach am anderen Ende des Dorfes über die Ufer und schob Bäume, Gestein und Schlamm durch ein Quartier. Die Kantonsstr­asse verschwand darunter. Die Kommunikat­ionsnetze im Dorf brachen zusammen, und das Wasser des Triftbachs floss durch die Wohnungen. Der Gemeindepr­äsident sagte am Sonntag, es sei nun wichtig, den Bach wieder zu «kanalisier­en».

In Zermatt trat die Vispa, wie schon am vergangene­n Wochenende, über die Ufer. Schlimmere­s konnte dieses Mal verhindert werden. Das Kraftwerk Grande Dixence pumpte über Verbindung­sstollen zum Lac de Dix im Val d’Hérens erhebliche Wassermeng­en ab.

Der «Walliser Bote» berichtete ab Samstag via Live-Ticker über die Entwicklun­g. Dort waren halbstündl­ich neue Meldungen zu lesen. In Obergestel­n floss der Milibach zeitweise über die Strasse ab und überschwem­mte die Gleise der Regionalba­hn. In Münster war es der Minstigerb­ach, in Selkingen der Walibach. Die Meldungen von Bächen, die ausserhalb der angrenzend­en Dörfer nur wenige kennen, glichen sich. Und sie verdeutlic­hten ein grosses Problem: All diese Bäche münden in die Rhone, und so musste auch das Wasser und das Geschiebe, das sie mit sich führten, dort für weitere Probleme sorgen.

Ausgerisse­ne Bäume, Schutt und Steine stauten sich an Engpässen und vor Brücken, so dass die Rhone an mehreren Stellen über die Ufer trat und ganze Quartiere überschwem­mte. So zum Beispiel zwischen Raron und Gampel, dann bei Leuk und später zwischen Chippis und Siders. Bei Siders stand am Sonntag zudem die Autobahn 9 unter Wasser. Die regionalen Krisenstäb­e sperrten etliche Brücken über den Fluss.

Das Wasser geht zurück

Mehrere hundert Personen wurden evakuiert. 22 Führungsst­äbe, 700 Feuerwehrl­eute, 130 Zivilschüt­zer und 100 Mitarbeite­r des Kantons standen im Einsatz. Um sich in der unübersich­tlichen Lage ein Bild zu machen, flogen Mitglieder des Kantonalen Führungsor­gans am Sonntag mit einem Super-Puma der Armee über das Kantonsgeb­iet.

Die Rhone hat ihren Höchststan­d am Sonntagnac­hmittag überschrit­ten. Der Dienstchef Mayoraz sagte, die Wassermass­en sollten in der Rhone schnell zurückgehe­n. Doch die Situation bleibe instabil, denn die Zuflüsse der Rhone stünden weiterhin unter Druck. Unter Druck stehen auch die Einsatzkrä­fte, denn die Auswirkung­en des Hochwasser­s vom vergangene­n Wochenende waren noch nicht behoben, als es am Samstag erneut zu Überschwem­mungen kam.

Bereits jetzt werden die Einsatzkrä­fte durch Kolleginne­n und Kollegen aus den Kantonen Waadt und Genf unterstütz­t. Nun erhofft man sich im Wallis Entlastung durch die Armee. Laut Marie Claude Noth-Ecoeur, Dienstchef­in für zivile Sicherheit, soll die Armee den Kanton zunächst in der Region Siders und Chippis unterstütz­en, später auch bei Aufräumarb­eiten in den Seitentäle­rn.Wie lange diese dauern werden, ist derzeit noch nicht absehbar. Vielleicht Wochen, möglicherw­eise aber auch Monate. Klar ist aber jetzt schon: Der Gewässersc­hutz ist im Wallis wieder ein hochbrisan­tes Thema.

2015 hat die Walliser Stimmbevöl­kerung der dritten Rhonekorre­ktion zugestimmt, einem Milliarden­projekt, das die Rhone verbreiter­n und vertiefen und so zum Hochwasser­schutz beitragen soll. Der zuständige Staatsrat Franz Ruppen gab vor einigen Wochen eine Studie zum Projekt in Auftrag und möchte nun Änderungen vornehmen. Das Projekt soll weniger Boden beanspruch­en und günstiger werden.

Vergangene Woche haben Umweltverb­ände eine Medienmitt­eilung versandt und sowohl die Studie als auch Ruppen selbst kritisiert. Laut dem «Walliser Boten» planen sie gar eine kantonale Initiative. Die neuerliche­n Überschwem­mungen dürften den Druck auf Ruppen verstärken.

Das Wasser des Triftbachs floss in Saas-Grund durch die Wohnungen. Der Gemeindepr­äsident sagte, es sei wichtig, den Bach wieder zu «kanalisier­en».

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JEAN-CHRISTOPHE BOTT / KEYSTONE Die Rhone überflutet die A 9 bei Siders – und verwandelt sie in eine zweite Wasserstra­sse.
 ?? JEAN-CHRISTOPHE BOTT / KEYSTONE ?? Ein Erdrutsch hat viel Schlamm und Geröll nach Saas-Grund getragen.
JEAN-CHRISTOPHE BOTT / KEYSTONE Ein Erdrutsch hat viel Schlamm und Geröll nach Saas-Grund getragen.
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JEAN-CHRISTOPHE BOTT / KEYSTONE Das Industrieg­ebiet von Chippis steht unter Wasser.
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 ?? MICHAEL BUHOLZER / KEYSTONE ?? Die eingestürz­te Visletto-Strassenbr­ücke zwischen Visletto und Cevio.
MICHAEL BUHOLZER / KEYSTONE Die eingestürz­te Visletto-Strassenbr­ücke zwischen Visletto und Cevio.
 ?? SAMUEL GOLAY / TI-PRESS / KEYSTONE ?? Blick aus einem Helikopter auf zerstörte Häuser in Fintana im Maggiatal.
SAMUEL GOLAY / TI-PRESS / KEYSTONE Blick aus einem Helikopter auf zerstörte Häuser in Fintana im Maggiatal.

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