Sturzfluten und Erdrutsche im Wallis und im Tessin
Unwetter kosten mindestens vier Menschen das Leben
etz. Grône / pja. Locarno · Nur schon die Zahlen von Meteo Schweiz sind erschreckend. Mehr als 10 000 Blitze wurden am Wochenende innert 24 Stunden registriert. Im oberen Maggiatal fielen rund 200 Liter Regen pro Quadratmeter. Derweil gingen im Grenzgebiet zwischen dem Wallis und Piemont rund 150 Liter Regen pro Quadratmeter nieder. Verstärkt wurden die Fluten noch dadurch, dass auch Schnee im Hochgebirge schmolz, insbesondere im Wallis. Und so erlebten das Wallis und das Tessin das zweite Katastrophen-Wochenende in Folge.
Die Rhone trat im Wallis an mehreren Stellen über das Ufer. Zahlreiche Verkehrsstrassen wurden gesperrt. Auch ein Teilstück der Autobahn 9 musste am Sonntagmorgen geschlossen werden. Die Simplonpass-Strasse ist nach einem Murgang bis auf weiteres nicht befahrbar. Mehrere Gemeinden im Saastal sind derzeit nur per Helikopter zu erreichen. Ein Feriengast wurde in einem Hotel in Saas-Grund leblos aufgefunden. Er wurde dort mutmasslich von den Wassermassen überrascht. Eine weitere Person wird im Walliser Binntal vermisst.
Im Kanton Tessin verwandelte ein Erdrutsch das Maggiatal in ein Katastrophengebiet. Im Laufe des Sonntags wurden dort drei Leichen geborgen. Nach einer weiteren Person wird laut den Behörden noch gesucht. Eine Brücke wurde durch den reissenden Fluss zerstört, mehrere Seitentäler waren auf dem Landweg nicht mehr erreichbar. Im am stärksten betroffenen Gebiet sind auch die Kommunikationsnetze und die Stromversorgung unterbrochen. Wie der Katastrophen-Warndienst Alertswiss mitteilte, sind zudem einige Gemeinden von der Trinkwasserversorgung abgeschnitten.
Beide Kantone haben am Sonntag die Armee um Hilfe gebeten und diese auch umgehend erhalten. Die Schweizer Armee hat in den Unwettergebieten Super-Puma-Helikopter im Einsatz. Auf Gesuch der Kantone würden weitere Einsatzmittel zur Verfügung gestellt, hiess es.
Zum zweiten Mal innerhalb einer Woche ist es im Wallis zu Überschwemmungen und Murgängen gekommen. Einige Dörfer sind noch immer abgeschnitten, der Simplon- und der Nufenenpass sind gesperrt. Im Gommer Binntal wird ein 52-jähriger Mann vermisst. In SaasGrund fanden Rettungskräfte einen Mann tot in einem Hotel. Er sei, so mutmasst die Polizei, von den Wassermassen überrascht worden.
Am Sonntagvormittag bat der Kanton Wallis die Schweizer Armee um Unterstützung. Am Nachmittag trat der Staatsrat Frédéric Favre in Grône, im Mittelwallis, vor die Medien. Neben Favre sassen ein halbes Dutzend Experten und Sachverständige des Kantons. Sie sprachen von «Ereignissen» auf dem gesamten Kantonsgebiet. Die Lage erinnere an die verheerenden Unwetter im Jahr 2000, als ein Murgang das halbe Grenzdorf Gondo mit sich gerissen und weite Teile des Rhonetals unter Wasser gesetzt hatte. Gemessen an «einzelnen Indikatoren», so der Staatsrat Favre, sei die aktuelle Lage aber gravierender.
Erneut ein Jahrhundertereignis
Raphaël Mayoraz, der Chef der Dienststelle für Naturgefahren, sagte, eine Naturkatastrophe wie die aktuelle finde nach den bekannten Wettermodellen alle hundert Jahre statt. Nach dem Jahr 2000 habe man nun aber schon wieder ein Jahrhundertereignis. Dann sagte er: «Diese Modelle bilden unsere Realität nicht mehr ab.» Die ersten Erklärungen des Dienstchefs Mayoraz klangen simpel: In den Bergen sammelte sich in letzter Zeit mehr Schmelzwasser als in vergangenen Jahren. In den vergangenen Wochen regnete es mehr als zu dieser Jahreszeit üblich. So konnten die Böden kein Wasser mehr aufnehmen. Das Wasser sammelte sich und staute sich anderswo.
Ab Samstagmittag zogen von Süden her etliche Gewitter über das Wallis. Besonders betroffen waren das Goms, das Saas- und das Mattertal, aber auch das Val d’Anniviers, das Val d’Hérens und das Rhonetal selbst. Die Niederschlagsmengen waren im Oberwallis noch einmal grösser als am vergangenen Wochenende. Laut dem «Walliser Boten» fielen im Gommer Binntal innert acht Stunden 156 Liter Regen pro Quadratmeter.
Nach diesen starken Niederschlägen brachen kleine Bergbäche in den südlichen Seitentälern aus ihren Flussläufen aus und rissen Böschungen, Bäume und Felsbrocken mit sich. Mancherorts trugen sie den Schlamm und den Schutt in die Dörfer und bis in die Häuser. So zum Beispiel in Saas-Grund, im Saastal. Dort ging beim südlichen Dorfausgang ein Murgang nieder. Zudem trat der Triftbach am anderen Ende des Dorfes über die Ufer und schob Bäume, Gestein und Schlamm durch ein Quartier. Die Kantonsstrasse verschwand darunter. Die Kommunikationsnetze im Dorf brachen zusammen, und das Wasser des Triftbachs floss durch die Wohnungen. Der Gemeindepräsident sagte am Sonntag, es sei nun wichtig, den Bach wieder zu «kanalisieren».
In Zermatt trat die Vispa, wie schon am vergangenen Wochenende, über die Ufer. Schlimmeres konnte dieses Mal verhindert werden. Das Kraftwerk Grande Dixence pumpte über Verbindungsstollen zum Lac de Dix im Val d’Hérens erhebliche Wassermengen ab.
Der «Walliser Bote» berichtete ab Samstag via Live-Ticker über die Entwicklung. Dort waren halbstündlich neue Meldungen zu lesen. In Obergesteln floss der Milibach zeitweise über die Strasse ab und überschwemmte die Gleise der Regionalbahn. In Münster war es der Minstigerbach, in Selkingen der Walibach. Die Meldungen von Bächen, die ausserhalb der angrenzenden Dörfer nur wenige kennen, glichen sich. Und sie verdeutlichten ein grosses Problem: All diese Bäche münden in die Rhone, und so musste auch das Wasser und das Geschiebe, das sie mit sich führten, dort für weitere Probleme sorgen.
Ausgerissene Bäume, Schutt und Steine stauten sich an Engpässen und vor Brücken, so dass die Rhone an mehreren Stellen über die Ufer trat und ganze Quartiere überschwemmte. So zum Beispiel zwischen Raron und Gampel, dann bei Leuk und später zwischen Chippis und Siders. Bei Siders stand am Sonntag zudem die Autobahn 9 unter Wasser. Die regionalen Krisenstäbe sperrten etliche Brücken über den Fluss.
Das Wasser geht zurück
Mehrere hundert Personen wurden evakuiert. 22 Führungsstäbe, 700 Feuerwehrleute, 130 Zivilschützer und 100 Mitarbeiter des Kantons standen im Einsatz. Um sich in der unübersichtlichen Lage ein Bild zu machen, flogen Mitglieder des Kantonalen Führungsorgans am Sonntag mit einem Super-Puma der Armee über das Kantonsgebiet.
Die Rhone hat ihren Höchststand am Sonntagnachmittag überschritten. Der Dienstchef Mayoraz sagte, die Wassermassen sollten in der Rhone schnell zurückgehen. Doch die Situation bleibe instabil, denn die Zuflüsse der Rhone stünden weiterhin unter Druck. Unter Druck stehen auch die Einsatzkräfte, denn die Auswirkungen des Hochwassers vom vergangenen Wochenende waren noch nicht behoben, als es am Samstag erneut zu Überschwemmungen kam.
Bereits jetzt werden die Einsatzkräfte durch Kolleginnen und Kollegen aus den Kantonen Waadt und Genf unterstützt. Nun erhofft man sich im Wallis Entlastung durch die Armee. Laut Marie Claude Noth-Ecoeur, Dienstchefin für zivile Sicherheit, soll die Armee den Kanton zunächst in der Region Siders und Chippis unterstützen, später auch bei Aufräumarbeiten in den Seitentälern.Wie lange diese dauern werden, ist derzeit noch nicht absehbar. Vielleicht Wochen, möglicherweise aber auch Monate. Klar ist aber jetzt schon: Der Gewässerschutz ist im Wallis wieder ein hochbrisantes Thema.
2015 hat die Walliser Stimmbevölkerung der dritten Rhonekorrektion zugestimmt, einem Milliardenprojekt, das die Rhone verbreitern und vertiefen und so zum Hochwasserschutz beitragen soll. Der zuständige Staatsrat Franz Ruppen gab vor einigen Wochen eine Studie zum Projekt in Auftrag und möchte nun Änderungen vornehmen. Das Projekt soll weniger Boden beanspruchen und günstiger werden.
Vergangene Woche haben Umweltverbände eine Medienmitteilung versandt und sowohl die Studie als auch Ruppen selbst kritisiert. Laut dem «Walliser Boten» planen sie gar eine kantonale Initiative. Die neuerlichen Überschwemmungen dürften den Druck auf Ruppen verstärken.
Das Wasser des Triftbachs floss in Saas-Grund durch die Wohnungen. Der Gemeindepräsident sagte, es sei wichtig, den Bach wieder zu «kanalisieren».