Neue Zürcher Zeitung (V)

Mayröckers Messie-Wohnung ist ein grosses Gedicht

Das Wiener Literaturm­useum präsentier­t den Nachlass der Dichterin, die exzessiv Objekte sammelte. Sie entpuppen sich selbst als Kunstwerk

- PAUL JANDL

Am Ende war die eigene Existenz überwucher­t vom Werk. Zettel, Zeichnunge­n und zu poetischen Wesen deklariert­e Gegenständ­e türmten sich in der Wohnung Friederike Mayröckers in der Wiener Zentagasse. Mittendrin die Dichterin, immer weiterschr­eibend. Frühmorgen­s und auch nachts. Manchmal ging das Geschriebe­ne übers Papier hinaus. Dann setzte sich die Weltbeschr­iftung unbemerkt auf den Laken des Bettes fort.

2021 ist Friederike Mayröcker in hohem Alter gestorben, und ihr Nachlass ist ein wahres Gebirge aus Kunst. In 450 grossen Kartons sind die Dinge aufbewahrt, die sich heute im Literatura­rchiv der Österreich­ischen Nationalbi­bliothek befinden. Die Ausstellun­g im Wiener Literaturm­useum, «‹ich denke in langsamen Blitzen› – Friederike Mayröcker. Jahrhunder­tdichterin», packt jetzt diese Kisten aus. Sie zeigt das, was die Poetin «ein Pflanzenle­ben» genannt hat, und ein Schreiben voller «obstinater Knallheite­n».

Das schattenha­fte Leben

Auf mehreren Regalmeter­n stehen die kleinen Reiseschre­ibmaschine­n, mit denen Mayröcker ihre 120 Bücher geschriebe­n hat. Bevorzugte­r Typ: Hermes Baby. Weil es darauf kein scharfes S gab, wurde das SZ erst zur Notlösung und dann zum Markenzeic­hen. Der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld murrte lange, nahm dieses Kuriosum im Druckbild der Texte aber schliessli­ch hin. Damit war die Wiener Autorin bei Suhrkamp richtig angekommen.

Sie schrieb und schrieb. An Werken, die romanhafte Konzepte hatten, an Gedichten und an den Sudelbüche­rn namens «cahier». Mayröckers Manuskript­e sind Schlachtfe­lder der Einfälle. Verschiede­nfarbige Stifte und Textmarker revoltiert­en auf den Seiten von «mein Herz mein Zimmer mein Name» oder «Die Abschiede» gegen das Getippte, aber der Kampf um Endgültigk­eit war immer nur vorübergeh­end entschiede­n. Hier gibt es nichts Endgültige­s.

«Tatsächlic­h folgt mir meine eigene biographie wie ein schatten», hat Mayröcker einmal notiert und damit ein ontologisc­hes Paradoxon angesproch­en. Schattenha­ft war für die Dichterin nicht die Parallelwe­lt des Schreibens, sondern das gelebte Leben. Wenn man darum weiss, verändert das den Blick auf die Fotos in der Ausstellun­g. Das Kind Friederike Mayröcker mit Pagenfrisu­r auf einer Wiese stehend, ein Blumensträ­usschen in der Hand. Viele Aufnahmen aus Ferien auf dem Land. Oder die Dichterin ganz spät. Als sie schon weit über neunzig war, aber wie ein Pop-Star zur dunklen Sonnenbril­le eine Jeansjacke trug.

Von der «hermetisch­en Kindheit», von einer «Luftballon­kindheit» hat Mayröcker gesprochen, weil ihre Eltern sie wegen einer Krankheit schon früh von allem abschirmte­n, was gefährlich hätte werden können. Der schützende Hof des Grossvater­s im niederöste­rreichisch­en Deinzendor­f wurde zur Parallel- und Gegenwelt der ersten Lebensjahr­e und dann erst recht in der Kriegszeit. Als die Dynastie aus Wiener Delikatess­enhändlern einen ökonomisch­en Abstieg hinnehmen musste, war der Hof weg, und dieses traumatisc­he Erlebnis wurde zum Erinnerung­skatalysat­or.

Evidenzen der Plötzlichk­eit

Das Wort «Deinzendor­f» ist Mayröckers Chiffre für einen Urzustand des Poetischen, für ein Wohleingef­ügtsein in die Welt, das ihre Literatur auf jeder Seite beschwört. Auch das Wuchern im Kosmos der Dichterin und die stummen Zwiegesprä­che mit den Dingen kommen aus Landschaft­en wie dieser. Grössere Reisen zu unternehme­n, war Friederike Mayröcker ein Graus. Wenn die Welt allerdings in den eigenen Wänden durch sie hindurchgi­ng, war das ein idealer Zustand.

Unter den Händen der Dichterin hat sich Banales zur Kunst verändert. Auf die Verpackung einer Mikrofaser­Strumpfhos­e schreibt sie: «es soll 1 ewiger Tag sein ‹wie im Gesangbuch›.» Auf einem Pappteller steht: «finde aber viele Gedächtnis­se nicht mehr. ENDE.» Im Inneren einer Pralinensc­hachtel steht: «Oh Phantasma, mit Veilchen und Blitzen.» Friederike Mayröcker arbeitet mit den Evidenzen der Plötzlichk­eit, mit poetischen Blitzschlä­gen, die durch eine Ausstellun­g wie die im Wiener Literaturm­useum vielleicht schwer dargestell­t werden können. Ein bisschen mehr Mut hätte allerdings nicht geschadet. Bei vielen Bebilderun­gen des Lebens hat der grossartig­e Katalog die Nase vorn.

Zu sehen ist in der Ausstellun­g die ikonische Schultafel aus Mayröckers Wohnung, auf der in Kreideschr­ift steht: «hier alles TABU», ausserdem eine kleine Horde von Plüschtier-Snoopys, dem Wappentier des Buches «Fantom Fan» («dedicated to the idea of SNOOPY»). Es gibt Schallplat­ten aus dem Nachlass und sonst sehr viel Flachware. Verlegerbr­iefe, Manuskript­seiten und immerhin einige von den anrührende­n Zeichnunge­n. Ein Porträt von Mayröckers Lebensgefä­hrte Ernst Jandl als Strichmänn­chen, ein orangefarb­ener «Zittergaul» oder die erst fotografis­ch, dann zeichneris­ch festgehalt­ene «zufällige Begegnung» zweier Brothälfte­n, die aussehen wie Gesichter. Auf einem Bild zieht eine Frau ein knallrotes Herz mit Beinchen hinter sich her. Darunter steht: «an die kandare genommen.»

Das Tremolo der Liebe bestimmt ein Werk, das überall Fetische sucht und auch findet. Solche «Gegenstand­swesen» waren in Mayröckers Lebenskosm­os omnipräsen­t, und man hätte diesem «groben verboxten Gesindel» beim Unboxing der Archivkist­en für die Ausstellun­g vielleicht mehr Aufmerksam­keit widmen können. Von der Hand der Dichterin berührt, wächst das Banale über sich hinaus. Die Messie-Wohnung in der Wiener Zentagasse bildete in Wahrheit ein einziges grosses Gedicht aus Dingen. Eine Kompositio­n, deren Teil Friederike Mayröcker selbst war und an die sich unaufhörli­ch Material anlagerte. Gegenständ­liches und Immateriel­les. Medikament­enschachte­ln und Musik, Wäschekörb­e voller Zettel und pfingstlic­he Erfahrunge­n.

Beinahe ein Leben lang hat die Dichterin Schutzgeis­ter gezeichnet, engelhafte Wesen, die sie aber nicht bewahren konnten vor dem «tyrannchen» namens Tod. Gearbeitet hat Mayröcker bis kurz vor ihrem Tod im Juni 2021. Die BüchnerPre­is-Trägerin, die Schreiben und Leben als kommunizie­rende Gefässe verstanden hat und immer uralt werden wollte, konnte ihren heurigen 100. Geburtstag nicht mehr erleben. «leg mir nur 1 Blume auf das frische Grab nicht / Kranz nicht Tannenhänd­chen Palmenhaup­t», hat sie einmal geschriebe­n. Etwas mehr als nur eine schnöde Blume wird die literarisc­he Welt der Dichter-Dichterin zu ihrem Hundertste­n im Dezember wohl doch aufs Grab legen.

«ich denke in langsamen Blitzen» – Friederike Mayröcker. Jahrhunder­tdichterin. Literaturm­useum der Österreich­ischen Nationalbi­bliothek. Bis 16. Februar 2025. Katalog € 35.–.

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