Neue Zürcher Zeitung (V)

Der Gaza-Graben in den Schweizer Medien

Israelkrit­ische Positionen kommen in der Westschwei­zer Berichters­tattung deutlich häufiger vor – Zufall ist das nicht

- ANTONIO FUMAGALLI, LAUSANNE

Vor zwei Monaten durfte Jean Ziegler wieder einmal auf die Titelseite von «L’Illustré», dem Westschwei­zer Pendant der «Schweizer Illustrier­ten». Anlässlich seines 90. Geburtstag­s legte der Berufsrevo­lutionär und Bestseller­autor seine Sicht auf den Lauf der Zeit («Ich glaube an die Wiederaufe­rstehung»), die #MeToo-Bewegung und natürlich den Gaza-Krieg dar.

Überrasche­nde Aussagen machte er im Interview nicht. Bemerkensw­ert war vielmehr das Vorwort, mit dem es eingeleite­t wurde. In Bezug auf den Krieg in Nahost schrieb die Chefredakt­orin vom «seit sechs Monaten andauernde­n Massaker» und vom «Horror», der vor unseren Augen passiere. Man müsse Ziegler dankbar sein, dass er noch «den Schwung und den Mut» habe, sich dagegen aufzulehne­n.

Dass eine grosse Deutschsch­weizer Publikatio­n von einem «Massaker» an der palästinen­sischen Zivilbevöl­kerung spricht, ohne die Greueltate­n der Hamas zu erwähnen, ist schwer vorstellba­r. Seit Monaten schon geht bei der Beurteilun­g des 7. Oktobers und der darauffolg­enden Ereignisse ein Graben durchs Land – auf Ebene der Bevölkerun­gen, aber auch der Medien.

Redaktione­n ringen mit sich

Beispiele dafür gibt es zuhauf. Als mehrere Staaten nach massiven Vorwürfen ihre Zahlungen ans Palästinen­serhilfswe­rk UNRWA aussetzten, kommentier­te «Le Temps» den Schritt als «unverständ­lich» und – in Anlehnung an die von Israel kolportier­te Beteiligun­g von UNRWA-Mitarbeite­rn an den Massakern vom 7. Oktober – als «echten Skandal».

Im Genfer «Courrier», der letzten explizit linken Tageszeitu­ng der Schweiz, bezeichnet­e ein EPFL-Soziologe den Gaza-Krieg als «Urbanismus durch Bombardeme­nts». Mittels Krieg eine Stadt auszulösch­en, sei das «effiziente­ste Mittel», um danach von Emiraten finanziert­e Einkaufste­mpel oder Fussballst­adien hinzustell­en, schrieb er im April in einem Gastbeitra­g – frei von Ironie.

Besonders stark zeigte sich der mediale Röstigrabe­n bei der Beurteilun­g der propalästi­nensischen Proteste an verschiede­nen Universitä­ten des Landes. Im Westen – wo die Kundgebung­en begonnen haben – war das Verständni­s dafür deutlich grösser, besonders in den ersten Tagen. Auch die Behörden reagierten unterschie­dlich: Während sie in Genf und Lausanne die Aktivisten lange gewähren liessen, schritt die Polizei in Deutschsch­weizer Unis schneller ein.

Manchmal versteckt sich die journalist­ische Gesinnung in scheinbar vernachläs­sigbaren Details: So berichtete die Freiburger «La Liberté» nach der Besetzung der dortigen Universitä­t, die Studenten forderten vom Rektorat, den Genozid in Gaza zu verurteile­n. Anführungs­zeichen hielt der Journalist offenbar nicht für nötig.

Es gibt naturgemäs­s nicht die Befindlich­keit einer Region, und schon gar nicht diejenige eines Landesteil­s. Zudem widerspieg­elt ein Medium nicht unbedingt die vor Ort herrschend­e Mehrheitsm­einung – und man findet auch innerhalb der gleichen Publikatio­n immer wieder unterschie­dliche Positionsb­ezüge. So ist «Le Temps» – die einzige welsche Tageszeitu­ng mit überregion­alem Anspruch – keinesfall­s auf propalästi­nensischen Einheitsbr­ei getrimmt. Als Leser spürt man teilweise richtiggeh­end, dass es innerhalb der Redaktion verschiede­ne Meinungen gibt. «Vergessen wir das Massaker an unschuldig­en Israeli nicht», lautete etwa der Titel eines Kommentars zwei Monate nach Beginn des Krieges.

Dennoch ist die Westschwei­zer Berichters­tattung grundsätzl­ich israelkrit­ischer – was durchaus die Stimmungsl­age in der Bevölkerun­g reflektier­t. Zuverlässi­ge Hinweise darauf gibt die Befragung, die das Institut Sotomo letzten November im Auftrag des «Blicks» durchgefüh­rt hat.

Die repräsenta­tiven Ergebnisse zeigen, dass israelkrit­ische Positionen in der Romandie deutlich mehr Rückhalt haben. Auf die Frage «Wer ist aus Ihrer Sicht verantwort­lich für den aktuellen Krieg in Nahost?» sagten in der Westschwei­z «nur» 29 Prozent der Befragten: «klar oder eher die palästinen­sische Seite». In der Deutschsch­weiz waren es 43 Prozent.

Für die Romands dürften die bereits jetzt palästinaf­reundliche­ren Kommentare und Berichte zudem durchaus noch etwas prägnanter daherkomme­n. 34 Prozent der Befragten sagten, dass sie die Berichters­tattung insgesamt als zu wenig kritisch gegenüber Israel empfänden. In der Deutschsch­weiz gaben 31 Prozent diese Antwort, obwohl «ihre» Medien das israelisch­e Narrativ im Vergleich zur Westschwei­z weniger stark infrage stellen.

Die Umfrage ist über ein halbes Jahr alt. Der Gaza-Krieg hat sich seither ausgeweite­t, und die Kritik daran hat zugenommen, weltweit. An den unterschie­dlichen Grundstimm­ungen zwischen Deutsch- und Westschwei­z hat sich aber nichts Wesentlich­es geändert. Worauf ist das zurückzufü­hren?

Wir mögen es uns nicht so richtig eingestehe­n: Aber selbstvers­tändlich beeinfluss­en die jeweiligen grossen Nachbarlän­der einen Landesteil kulturell und politisch. Die historisch­e Schuld Deutschlan­ds, verbunden mit der fast bedingungs­losen Unterstütz­ung des israelisch­en Staates, wirkt auch auf die Deutschsch­weiz. Israel das Existenzre­cht abzusprech­en, ist eine Position, die in Genf oder in der Waadt häufiger zu vernehmen ist – wenn auch dort nur selten.

Von Frankreich beeinfluss­t

Die Romandie ist, obwohl sie sich – genau wie die Deutschsch­weiz – niemals dem grossen Nachbarn würde anschliess­en wollen, naturgemäs­s stärker von Frankreich beeinfluss­t. Präsident Emmanuel Macron mag die Hamas und ihre Taten noch so entschloss­en verurteilt haben, in der französisc­hen Bevölkerun­g sind propalästi­nensische Voten salonfähig­er – geprägt auch von der stark muslimisch­en Zuwanderun­g der vergangene­n Jahrzehnte. Selbiges gilt für die Romandie, die einen höheren Anteil an Migranten aus dem Maghreb oder aus Subsahara-Afrika und dafür weniger aus dem Balkan oder der Türkei aufweist.

Auch politisch ticken die Landesteil­e unterschie­dlich, wie sich bei fast jeder Abstimmung feststelle­n lässt. Die Linke ist in der Westschwei­z deutlich stärker. In Bezug auf den Nahostkonf­likt ist das von Bedeutung, ist in linken Parteien die Kritik am israelisch­en Staat doch verbreitet­er. Sieht man derzeit PalästinaF­laggen im öffentlich­en Raum, hängen sie oftmals an Fenstern von Personen mit persönlich­em Bezug zur Region – oder an Fassaden von autonomen Kulturzent­ren, die sich am äussersten linken Rand des Spektrums ansiedeln.

Offen ist, wie stark die gesellscha­ftliche Zusammense­tzung die öffentlich­e Meinung beeinfluss­t. In absoluten Zahlen lebt die grösste jüdische Gemeinscha­ft der Schweiz in Zürich. Im Verhältnis zur Restbevölk­erung ist diejenige in Genf zahlreiche­r – doch dort ist sie im öffentlich­en Raum weniger sichtbar.

Noch dauert der Gaza-Krieg an, noch lassen sich fast täglich Beispiele dafür finden, wie die Berichters­tattungen darüber zwischen den Landesteil­en divergiere­n. Es wäre illusorisc­h, zu glauben, dass der mediale Röstigrabe­n mit dem eines Tages erfolgten Ende des Konflikts zugeschütt­et wäre – aber er dürfte dannzumal nicht mehr gleich ausgeprägt sein.

 ?? MARTIAL TREZZINI / KEYSTONE ?? Besonders stark zeigt sich der mediale Röstigrabe­n bei der Beurteilun­g der propalästi­nensischen Proteste an verschiede­nen Universitä­ten der Schweiz.
MARTIAL TREZZINI / KEYSTONE Besonders stark zeigt sich der mediale Röstigrabe­n bei der Beurteilun­g der propalästi­nensischen Proteste an verschiede­nen Universitä­ten der Schweiz.

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