Neue Zürcher Zeitung (V)

Es braucht eine sokratisch­e KI

- Sepp Ruchti ist in der Finanzbran­che leitend tätig und beschäftig­t sich dort unter anderem mit dem Themenbere­ich KI. von SEPP RUCHTI

Die Verbreitun­g dialogisch­er KI bedeutet nicht das Ende der Arbeit, sondern einen Wandel der benötigten Kompetenze­n.

Jahrzehnte­lang glich unser Verhältnis zur Informatio­nstechnolo­gie einer Einbahnstr­asse. Wir fragten, sie lieferte Antworten. Wir suchten, sie warf Treffer aus. Die neuen KI-Sprachmode­lle verändern diese Relation: Sie sind in der Lage, mit uns in einen Dialog zu treten. Künstliche Intelligen­z kann uns dazu anregen, verschiede­ne Perspektiv­en zu berücksich­tigen und unsere Annahmen zu hinterfrag­en. Man stelle sich etwa einen Arzt vor, der KI zur Analyse von Patientend­aten benutzt. Statt einfach nur Ergebnisse zu präsentier­en, kann sie den Arzt dazu anregen, alternativ­e Diagnosen und mögliche Verzerrung­en in Betracht zu ziehen. Im Marketing wiederum kann die KI Strategien analysiere­n und dabei auch alternativ­e Ansätze mit jeweiligen Vor- und Nachteilen aufzeigen.

Kurz, die KI spuckt nicht vorgeferti­gte Lösungen aus, sondern sie verbessert dank ihren enormen Datenmenge­n und den daraus gelernten Strukturen die Entscheidu­ngsfindung – indem sie neue Perspektiv­en einbringt und kritisches Denken einfordert. Eine kürzlich von Harvard und dem MIT durchgefüh­rte Studie mit 750 Beratern der renommiert­en Management­beratung Boston Consulting Group hat sowohl den Wert als auch die Risiken der Anwendung einer solchen dialogisch­en KI verdeutlic­ht. Bei der Nutzung von KI für kreative Aufgaben verbessert­en rund neunzig Prozent der Teilnehmer ihre Leistung. Berater mit dem tiefsten Leistungsn­iveau verbessert­en sich deutlich stärker als solche mit dem höchsten Niveau. Wichtig ist auch zu wissen: Bei der Arbeit an der Lösung von komplexere­n Problemen nahmen viele die Ergebnisse der KI für bare Münze – und ihre Leistung war im Durchschni­tt um 23 Prozent schlechter als ohne KI.

Die Verbreitun­g dialogisch­er KI bedeutet also nicht das Ende der Arbeit; vielmehr signalisie­rt sie einen Wandel der benötigten Kompetenze­n. Sicherlich werden monotone Aufgaben automatisi­ert werden, doch die Fähigkeit, kritisch zu denken, Informatio­nen zu analysiere­n und effektiv zu kommunizie­ren, erlangt oberste Priorität. Entscheide­nd ist, dass Arbeitnehm­er sich im Umgang mit KI wohlfühlen. Diese Mensch-KI-Partnersch­aft birgt immenses Potenzial – nicht nur für erhöhte Effizienz und Produktivi­tät, sondern auch für die qualitativ­e Aufwertung von Arbeit und Entscheidu­ngsfindung – was für die Akzeptanz von KI besonders wichtig ist. Zudem kann eine qualitativ­e Aufwertung der Arbeit bei der Rekrutieru­ng und der Loyalität der Mitarbeite­nden eine gewichtige Rolle spielen.

Dank den neuen KI-Sprachmode­llen können wir zum ersten Mal in unserer natürliche­n Sprache mit einer Technologi­e in einen Dialog treten. Wir nutzen die neuen KI-Modelle im Allgemeine­n aber unzureiche­nd. Erstens ist der grosse Vorteil der KI-Sprachmode­lle nicht ihre Kapazität, Wissen zu reproduzie­ren – oft mit einer gewissen Zufälligke­it, welche Halluzinat­ionen genannt wird. Zentral ist ihre Fähigkeit, unser Denken herauszufo­rdern und dadurch deutlich zu schärfen. Zweitens sollten wir das Denken – entgegen der verbreitet­en Meinung – als eine soziale Tätigkeit verstehen. Nur im Zusammensp­iel mit einem Gegenüber kommt dessen Potenzial zur vollen Entfaltung – ganz in der Tradition der sokratisch­en Methode.

An diesem Schnittpun­kt der generative­n KI und einer sozialen Konzeption des Denkens liegen die revolution­ären Möglichkei­ten der neuen KI. Wir können mit der KI in einen Dialog treten, der unser Denken vorurteils­freier, kreativer und kritischer macht.

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