Der Churer «Nazi-Stein» entzündet eine alte Debatte neu
Wie geht die Schweiz mit der NS-Geschichte um? Ein Grabmal sorgt für Kontroversen
Lange hatte sich niemand für das Soldatengrab auf dem Churer Friedhof interessiert. Doch als letztes Jahr eine SRF-Recherche den nationalsozialistischen Hintergrund des Grabsteins offenlegte, änderte sich das schlagartig. Plötzlich war im SRF von dem Churer «Nazi-Stein» die Rede. Selbst die BBC kam vorbei und titelte: «Nazi monument at Swiss cemetery sparks controversy». Ein Nazi-Denkmal auf einem Schweizer Friedhof – das musste eine alte Kontroverse auslösen: Wie geht die Schweiz mit der NS-Geschichte um?
Alles begann mit dem Artikel von Stefanie Hablützel. Die Journalistin wuchs in Chur auf und entdeckte das Grabmal zufällig. Ein mannshoher, 13 Tonnen schwerer Granitstein auf dem Friedhof Daleu, wuchtig und grob behauen. Auf Augenhöhe ist ein Reichsadler in den Stein gemeisselt, links und rechts verwitterte Schriftzüge, die kaum noch zu entziffern sind. Darunter steht in Fraktur: «Hier ruhen deutsche Soldaten 1914– 1918.» Ein Kriegsdenkmal für deutsche Soldaten, die im Ersten Weltkrieg gefallen waren. Auf den ersten Blick ein Kriegerdenkmal wie viele andere.
Als Hablützel herausfand, dass der Gedenkstein erst 1938 aufgestellt worden war, wurde sie stutzig. Ihre Recherche ergab: Auftraggeber des Steins war der deutsche Volksbund Kriegsgräberfürsorge, der sich um Gräber von im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten kümmerte. Ab 1933 war der Volksbund eine stramm nationalsozialistische Organisation.
Seit Hitlers «Machtergreifung» liess der Volksbund überall im Ausland Kriegsgräber bauen. Denn die Nationalsozialisten nutzten den Ersten Weltkrieg für ihre Propaganda. Hitler feierte die Soldaten als Vorkämpfer des «Dritten Reiches», liess ihnen Denkmäler errichten und feierte sie am sogenannten «Heldengedenktag». Auch in Chur sollen Nazis 1938 Grabkränze mit Hakenkreuzen auf dem Denkmal abgelegt haben.
Eine Parallelgesellschaft
Nationalsozialisten in Chur? Davon hätten in der Stadt die wenigsten gewusst, sagt Stefanie Hablützel. Auch deswegen habe ihre Recherche so viel ausgelöst. Sie sagt: «Die NS-Zeit ist im kollektiven Gedächtnis verdrängt worden.» Das Denkmal habe den Leuten gezeigt, wie wenig man wisse. Der Stein sei wie die Spitze eines Eisberges.
«Bestimmte NS-Organisationen, die man aus Deutschland kennt, hat es auch in der Schweiz gegeben: NSDAP, Hitlerjugend, Deutsche Arbeitsfront», sagt Martin Bucher. Er ist Historiker und hat ein Buch über die Hitlerjugend in der Schweiz geschrieben. Auf ihrem Höhepunkt sei die Hitlerjugend mit rund 50 Standorten in der Schweiz präsent gewesen. Über 2500 deutsche Kinder und Jugendliche waren Mitglieder. Familien, die sich weigerten, wurde gedroht. Etwa damit, Reisepässe nicht zu verlängern. So sollte die deutsche Bevölkerung ideologisch beeinflusst werden.
Und was hielt die Schweiz von dieser nazideutschen Parallelwelt? Martin Bucher sagt: «Die Schweizer Behörden haben die NS-Organisationen toleriert und gewähren lassen.» Man habe gewusst, dass sie ihre Leute indoktrinierten. Zwar sei das Deutsche Reich für die Schweiz eine Bedrohung gewesen. Aber auch ein wichtiger Handelspartner.
Die Duldung führte so weit, dass 1942 im Zürcher Hallenstadion einer der grössten nationalsozialistischen Anlässe ausserhalb Deutschlands stattfinden konnte. 12 000 Deutsche haben dort, gesäumt von riesigen Hakenkreuz-Bannern, das Erntedankfest gefeiert. Damit die Veranstaltung stattfinden konnte, drohte Deutschland, im Fall einer Verweigerung einen wichtigen Kohleliefervertrag nicht zu unterschreiben. Also fand das Fest mit bundesrätlicher Unterstützung statt.
Stefanie Hablützel sagt: «Wir schauen Fotos aus dem Hallenstadion von 1942 an und denken: Was? Hier? Unglaublich!» Ähnlich hat Hablützels Recherche zum Kriegerdenkmal in Chur aufgerüttelt. «Die Leute waren bewegt», sagt Hablützel. In den Tagen nach der Veröffentlichung setzte eine Art Friedhofstourismus ein. Auch an der Migros-Kasse sprach man über den «Nazi-Stein».
Als Tino Schneider Hablützels Artikel las, wurde er hellhörig. Schneider kommt aus Chur, ist Mitte-Politiker und Historiker und brachte den Stein in die Politik. Gemeinsam mit der SP reichte die Mitte-Partei einen Vorstoss im Churer Stadtparlament und im Bündner Kantonsparlament ein. Die Forderung: eine vertiefte Aufarbeitung der Bündner NS-Geschichte.
Der Kanton wurde aktiv und lancierte ein mehrjähriges Forschungsprojekt zur Geschichte des Faschismus und Nationalsozialismus in Graubünden. Die Churer Stadtregierung aber lehnte ab. «Weitere Forschungsarbeiten würden voraussichtlich keine weiteren Erkenntnisse zur Geschichte des Nationalsozialismus in Chur liefern», hiess es im Bericht. «Das Thema Nationalsozialismus empfinde ich in der Lokalpolitik wie eine heisse Kartoffel», sagt Schneider. Niemand wolle sich die Finger verbrennen.
Keine unabhängige Forschung
Zwar wollte die Stadt keine weiteren Nachforschungen, aber man willigte in die Errichtung einer Informationstafel ein. Die Tafel soll zukünftig neben dem Stein stehen und über den Wissensstand zum Hintergrund des Grabsteins informieren. Als der Textentwurf im März veröffentlicht wurde, stellte sich heraus: Das städtische Parlament hatte den eigenen Stadtarchivar Ulf Wendler beauftragt. Ein grober Fehler.
Es wurde Kritik am Vorgehen der Stadt Chur laut. Mit dem intern vergebenen Auftrag sei keine faktenbasierte und unabhängige Forschung gegeben, sagte Sacha Zala, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte, dem SRF. Den eigenen Stadtarchivar zu beauftragen, berge die Gefahr der politischen Einflussnahme.
Vor allem aber der Inhalt der Tafel wurde angeprangert. Historiker Martin Bucher sagt: «Die Tafel wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet.» Es fehlen Ausführungen zum Nationalsozialismus in Chur, zur Rolle der Churer Behörden und zur Nutzung des Denkmals an Feiertagen des «Dritten Reichs». Auch die nationalsozialistische Gesinnung des Volksbunds wird lediglich angedeutet. «Das erweckt den Eindruck, dass die Stadt Chur den Bezug des Denkmals zum Nationalsozialismus bagatellisieren möchte», so Bucher.
Die Informationstafel ist in drei Kapitel gegliedert. Eines widmet sich dem «deutschen Grabdenkmal», eines den Begrabenen und ein drittes dem Volksbund in der Schweiz. In dem Text heisst es, dass der spezifisch nationalsozialistische Kontext des Churer Denkmals nicht ohne weiteres erkennbar und ohne Hintergrundwissen leicht übersehbar sei. Aber auch aus der Tafel geht nur bedingt der Wille zur Aufarbeitung dieses Kontexts hervor.
Der letzte Satz lautet: «Die Regierung des Kantons Graubünden sowie der Gemeinderat und der Stadtrat von Chur gedenken mit dieser Tafel der Opfer, welche die Kriege des 20. Jahrhunderts gefordert haben.» Kein Wort zu den Opfern des Nationalsozialismus. Stattdessen eine Pauschalformel für das gesamte 20. Jahrhundert.
Tino Schneider ist unzufrieden. Wieder meldete er sich im Stadtparlament zu Wort. Der Text gehe allen kritischen Fragen aus dem Weg und müsse ergänzt werden, damit die Bevölkerung offen und ehrlich informiert werde. Aber der Stadtpräsident lehnte jede Änderung ab. Es sei nicht Sache der Politik, die Arbeit des Stadtarchivars zu korrigieren. Schneider sagt: «Der Stadtrat macht es sich zu einfach.» Doch das sehen nicht alle so. Nach der Publikation von Hablützels Artikel meldete sich der Churer Kunsthistoriker Leza Dosch zu Wort. Es seien keine Nazis in dem Denkmal begraben, sondern Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, sagte er auf Radio Südostschweiz. Auch eine nationalsozialistische Ästhetik sei nicht erkennbar. Von einem «Nazi-Stein» könne also keine Rede sein.
«Bitte kein Tamtam»
In einigen Kreisen wurde die gesamte Recherche infrage gestellt. «Für mich ist das ‹populistische› Mediensprache und keine Geschichtsforschung», so Jan-Andrea Bernhard, Titularprofessor für Kirchengeschichte an der Universität Zürich, gegenüber der «WoZ». Und der FDP-Politiker Rainer Good sagte im SRF-Interview, man wisse jetzt über die Hintergründe des Steins Bescheid und solle nicht so ein «Tamtam» machen.
Der freisinnige Churer Stadtrat Urs Marti zeigt sich irritiert über die polarisierte Debatte. Die Stadtregierung sei offen für Kritik, sagt er im Gespräch mit der NZZ. Man könne die Informationstafel in Zukunft durchaus anpassen und korrigieren. Marti spricht vom «Dazulernen», von verschiedenen «Varianten» der Aufarbeitung. Dass die Stadt grundsätzlich etwas falsch gemacht hat, bezweifelt er. Zwei Fachleute des Kantons hätten den Text des Stadtarchivars gegengelesen. Marti sagt: «Ich habe den Eindruck, man versucht, das Haar in der Suppe zu suchen.»
«Die politische Diskussion kam nie richtig vom Fleck», sagt Journalistin Stefanie Hablützel. Das Parlament habe eine kritische Umsetzung gescheut. Für sie geht es um die grundsätzliche Frage: «Wie wollen wir mit problematischer Geschichte umgehen?»
Der Fall passe zum Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus, sagt Martin Bucher. Die sei zwar aufgearbeitet worden, aber nur unter Druck. «Ich erinnere an die Bergier-Kommission, die auf Druck des Auslands eingesetzt wurde.» Da sei es ähnlich gewesen: «Man hat einen Bericht gemacht. Aber wirkliche Schlüsse, die in Politik und Gesellschaft geflossen sind, hat man daraus nicht gezogen.»
Zwar wollte die Stadt keine weiteren Nachforschungen, aber man willigte in die Errichtung einer Informationstafel ein.