Neue Zürcher Zeitung (V)

Elise Chabbey scheitert, doch sie überzeugt

An der Tour de Suisse hat die Genferin den Männern einiges voraus

- SEBASTIAN BRÄUER, VILLARS-SUR-OLLON

Erfolge lassen sich nicht erzwingen, wer wüsste das besser als Elise Chabbey? Minuziös hatte die Genferin die Auftakt-Etappe der Tour de Suisse Women geplant und Trainingse­inheiten am Col de la Croix absolviert. Dort setzte sich die 31-Jährige am Samstag bergauf vom Feld ab. In der Abfahrt, die sie perfekt kannte, baute sie den Vorsprung aus.

Erst nach 50 Kilometern wurde Chabbey kurz vor dem Ziel in Villars-surOllon von zwei Fahrerinne­n überholt. Der Schweizeri­n stand die Enttäuschu­ng ins Gesicht geschriebe­n, doch sie musste sich keine Vorwürfe machen: Sie hatte deutlich gemacht, dass ihr ein Etappensie­g an der Tour de Suisse die Welt bedeutet hätte. Am Montag und Dienstag will Chabbey weitere Versuche starten, ihren Traum doch noch zu verwirklic­hen.

So spontan wie aussichtsl­os

Erzwingen lassen sich Erfolge nicht, aber wahrschein­licher werden sie durch aufopferun­gsvolles Engagement eben doch. Das bewies der Belgier Thibau Nys. Zwei Tage vor dem Start des Männerrenn­ens kam er am GP Gippingen kurz vor dem Ziel unglücklic­h zu Fall. Statt über sein Pech zu lamentiere­n, fuhr der 21-Jährige noch am selben Abend nach Rüschlikon, um die welligen und kurvenreic­hen Schlusskil­ometer des dritten Teilstücks der Tour de Suisse zu begutachte­n. «Von dieser Etappe habe ich schon lange geträumt», sagte er später. Die Streckenbe­sichtigung lohnte sich: Nys erkämpfte sich in Rüschlikon dank einem perfekt getimten Sprint den Tagessieg.

Die Schweizer Männer erweckten an der Tour de Suisse in diesem Jahr nicht den Eindruck, mit demselben Perfektion­ismus ans Werk zu gehen wie Elise Chabbey und Thibau Nys. Auch sie suchten ihr Glück und attackiert­en. Doch die meisten Bemühungen wirkten ebenso spontan wie aussichtsl­os. Abgesehen vom zweiten Rang Stefan Bisseggers im kurzen Auftakt-Zeitfahren blieb ein Etappensie­g in weiter Ferne. Auf welligen Tour-de-Suisse-Etappen ist Bissegger in der Lage, nach langen Fluchten zu triumphier­en, das bewies er 2021 in Gstaad. Dieses Jahr musste er auf den Teilstücke­n, die ihm gelegen wären, zum eigenen Missfallen Helferdien­ste verrichten. Es blieb ihm ein verzweifel­t anmutender Angriff auf der sechsten Etappe, wo ein Sieg angesichts des schweren Schlussans­tiegs nach Blatten von vornherein illusorisc­h war.

Die beiden Schweizer im Team UAE, Marc Hirschi und Jan Christen, äusserten vor dem Rennen ebenfalls Hoffnungen, auf eigene Rechnung fahren zu können. Als es darauf ankam, schlüpften sie jedoch in Helferroll­en für ihre Captains Adam Yates und João Almeida, denen in der Gesamtwert­ung ein ungefährde­ter Doppelsieg gelang.

Eine Bronchitis warf Stefan Küng aus dem Konzept. Er bewies in der Vergangenh­eit immer wieder, dass er die Tour de Suisse als Chance zur Profilieru­ng begreift, mehrfach eroberte er das Leader-Trikot. 2024 musste Küng die Landesrund­fahrt kurzfristi­g zum Aufbautrai­ning für spätere Saisonziel­e umdefinier­en. Er bestritt das Rennen also so verhalten wie andere, die schon jetzt die Tour de France oder die Olympische­n Spiele anvisieren.

Erfolge Einheimisc­her wichtig

Küng fordert seine Landsleute auf, egoistisch­er zu denken. «Man muss sich als Fahrer fragen, wie man seine Karriere gestalten will», sagt er. Wer nicht aufpasse, könne dauerhaft in Helferroll­en hineingera­ten. Profi-Kollegen wie Hirschi und Christen hätten ein enormes Potenzial. Doch in ihrem Team sei es in World-Tour-Rennen schwierig, eigene Möglichkei­ten zu erhalten. Küng wechselte einst von der Mannschaft BMC zur Equipe FDJ, also von einem Topteam ins Mittelfeld des Pelotons. Manche hätten den Transfer als Rückschrit­t aufgefasst, sagt er. Ihm habe er jedoch geholfen, sich zum Leader zu entwickeln.

Wenn die besten Schweizer ihre Fähigkeite­n an der Tour de Suisse besser zur Geltung brächten, wäre das nicht nur in ihrem eigenen Interesse. Erfolge von Einheimisc­hen erhöhen die öffentlich­e Aufmerksam­keit. Das zeigte sich 2021. Seinerzeit triumphier­ten auf drei unterschie­dlichen Teilstücke­n erst Küng, dann Bissegger und schliessli­ch der 2023 tödlich verunglück­te Gino Mäder. Gemeinsam lösten sie eine ungeahnte Euphorie aus.

Ungewisse Zukunft

Gerade in einem Jahr, in dem die Landesrund­fahrt im Schatten der Fussball-EM stattfinde­t, müssen die Veranstalt­er um Aufmerksam­keit kämpfen. Erste Indizien deuten zwar auf gute Einschaltq­uoten hin, doch die wirtschaft­lichen Sorgen sind akut. Während beim Männerrenn­en 2024 ein überschaub­ares Defizit entstehen dürfte, klafft bei der Finanzieru­ng des Frauenrenn­ens eine alarmieren­de Lücke. Die Zukunft der Tour de Suisse Women ist offen. Er gehe davon aus, dass die Veranstalt­ung 2025 stattfinde, sagte der Renndirekt­or Olivier Senn am Sonntag. Garantiert sei dies jedoch nicht. Senn richtete einen Appell an potenziell­e Sponsoren sowie an die Politik: Gefragt sei nicht nur, die Bedeutung des Frauenspor­ts zu betonen, sondern ihn auch tatsächlic­h finanziell zu unterstütz­en.

Immerhin gelang es Senn und seinen Mitstreite­rn, die durchgehen­de Fernsehübe­rtragung des Rennens zu retten. Wegen der Ukraine-Friedensko­nferenz auf dem Bürgenstoc­k waren weiträumig­e Gebiete im Wallis zur Sicherheit­szone erklärt worden, was während der Etappe nach Blatten den Einsatz von Helikopter­n infrage stellte. SRF war laut Senn drauf und dran, an jenem Tag auf Live-Bilder zu verzichten. Erst spät gelang es, unerfreuli­che wirtschaft­liche Konsequenz­en zu vermeiden.

Für die an vielen Fronten geforderte­n Organisato­ren sind engagierte Auftritte wie jener von Elise Chabbey am Col de la Croix von enormer Bedeutung. Sie generieren Spannung und wecken Sympathien. Im kommenden Jahr, wenn die Rundfahrt in Küssnacht am Rigi startet, können die Männer wieder nachziehen.

 ?? GIAN EHRENZELLE­R / KEYSTONE ?? Ein Angriff, der lange vorbereite­t war: Die Genferin Elise Chabbey wollte unbedingt die erste Etappe der Tour de Suisse Women gewinnen.
GIAN EHRENZELLE­R / KEYSTONE Ein Angriff, der lange vorbereite­t war: Die Genferin Elise Chabbey wollte unbedingt die erste Etappe der Tour de Suisse Women gewinnen.

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