Neue Zürcher Zeitung (V)

Rechtsextr­eme verteilen homophobe Flyer

Die Zurich Pride verläuft weitgehend friedlich – Misstöne gibt es trotzdem

- ROBIN SCHWARZENB­ACH

«Lasst uns laut sein heute! Wo isch Züri?» Die Menge auf dem Helvetiapl­atz jubelt. Der Moderator auf der Bühne ruft zurück: «Happy Pride!» Der Grossanlas­s der Regenbogen-Community am Samstagnac­hmittag ist lanciert. Auch dieses Jahr sind Tausende schwule, lesbische, bisexuelle Menschen, Transperso­nen und Nonbinäre dabei. Und viele Männer und Frauen, die nicht queer sind und zum Teil ihre Kinder mitgebrach­t haben, um die Anliegen der übrigen Teilnehmer zu unterstütz­en. Laut Stadtpoliz­ei zogen mehr als 20 000 Pride-Besucher durch die Strassen, deutlich weniger als 2023, aber immer noch genug für eine fröhliche Party unter Gleichgesi­nnten.

Da wäre zum Beispiel Richard, 60, ein Amerikaner, der in Spreitenba­ch als Lagerist arbeitet. Er hält ein Schild hoch mit einer Aufschrift, die man vielleicht nicht unbedingt erwartet hätte: «Ikea». Das schwedisch­e Möbelhaus ist ebenfalls vertreten, genauso wie die Automarke Mini (samt Kleinwagen), der Telekomanb­ieter Sunrise, die CaféKette Starbucks und viele weitere Firmen, deren queere Angestellt­e am Umzug mitmarschi­eren.

Richards Gruppe verteilt Ikea-Einkaufsta­schen in Regenbogen­farben. Auch die Aufdrucke auf den T-Shirts der IkeaMitarb­eiter sind sympathisc­h, sie stehen aber auch für die Absicht der Unternehme­n, ihre Botschafte­n an der Pride zu platzieren: «Let love start at home.» Richard sagt: «Yeah, in a way, it’s advertisem­ent.» Aber er sei hier, um seine schwulen Freunde in Zürich zu unterstütz­en. Bei Ikea sei man divers. «We support everything.» Er selber sei übrigens mit einer Frau verheirate­t, seit 31 Jahren, sagt Richard und strahlt übers ganze Gesicht.

Dritter Geschlecht­seintrag

Etwas weniger guter Laune ist Michelle Halbheer, als sie am Helvetiapl­atz ans Mikrofon tritt und eine kämpferisc­he Rede hält. Die Co-Präsidenti­n der Zürcher Mitte ist eine Transfrau. Bis vor knapp zwei Jahren hiess sie Mike und war ein Mann, der eine Frau sein wollte. Seither ist sie Michelle Halbheer. Sie hat ihren Namen und ihr Geschlecht geändert. Halbheer hat klare Vorstellun­gen, was sich für queere Menschen ändern müsse in der Schweiz: «Wir brauchen belastbare Zahlen, um das Ausmass der Diskrimini­erung sichtbar zu machen!» – «Es ist Zeit für einen dritten Geschlecht­seintrag. Lieber Bundesrat, die Gesellscha­ft ist bereit dafür!» Und schliessli­ch: «Wir dürfen nicht zulassen, dass wichtige Behandlung­en für Transjugen­dliche verboten werden!»

Halbheer befürworte­t die Abgabe von Pubertätsb­lockern, also von Medikament­en, die die Entwicklun­g des biologisch­en Geschlecht­s stoppen. Die Schweiz verfolgt hier eine liberale Praxis. Doch der Umgang mit diesen Medikament­en bei Jugendlich­en ist umstritten, da die Selbsteins­chätzung der Betroffene­n bis anhin höher gewichtet wurde als mögliche Folgen für Körper und Psyche junger Menschen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizi­eren können, mit dem sie zur Welt gekommen sind.

Halbheer will von solchen Bedenken nichts wissen, zumindest nicht bei ihrem Auftritt an der Pride: «Mir geht es heute besser, vielen meiner Bekannten geht es heute besser dank diesen Behandlung­en! Das ist kein Luxus, sondern für viele von uns überlebens­notwendig. Wir müssen hier als Community zusammenst­ehen!», ruft sie den applaudier­enden Demonstran­ten zu.

Ob alle Anwesenden damit einverstan­den sind oder die komplexe Thematik verstanden haben, lässt sich nicht sagen. Die meisten der übrigen Forderunge­n an der Pride sind knapper formuliert: «Kiss more Girls», «Free Hugs» steht auf selbstgeba­stelten Plakaten, oder auch: «Fuck Rainbow Capitalism» – eine Spitze gegen Ikea und die anderen Unternehme­n an der Pride? Eine Frau lässt die wenigen Zuschauer am Strassenra­nd auf einem Pappschild wissen: «Wänn’s dich juckt, wie mir liebet, dänn gang di go wäsche!»

An dem Umzug vom Helvetiapl­atz zur Landiwiese laufen neben Jungen und Junggeblie­benen auch ältere Menschen mit («queer altern»). Ebenso vertreten ist eine Gruppe jüdischer Demonstran­ten. Eine israelisch-schweizeri­sche Doppelbürg­erin sagt: «Wir solidarisi­eren uns mit jüdischen Queers.» Und die Gruppe «Queers for Palestine», die ebenfalls mitläuft an der Pride, obwohl sie sich nicht angemeldet hat? «Schade», sagt die Frau. «Aber was will man machen? Ihr Hass stoppt unsere Liebe nicht.»

Die antiisrael­ischen Trittbrett­fahrer haben es sich nicht nehmen lassen, trotzdem am Umzug mitzumarsc­hieren. Mitten in der Demo, in sicherem Abstand von den jüdischen Teilnehmer­n: Ungefähr 50 Personen schwenken Palästina-Flaggen und skandieren die üblichen Parolen, die sonst am 1. Mai herumgebot­en werden und in den vergangene­n Wochen auch an Sitzstreik­s an der Universitä­t und ETH Zürich zu hören waren («Hoch! Die! Internatio­nale Solidaritä­t!» / «Stop the genocide! End the occupation!»).

Drohne wirft Flugblätte­r ab

Ein Mann im Regenbogen-T-Shirt am Strassenra­nd kann da nur den Kopf schütteln. «Furchtbar. Das ist zynisch. Die haben keine Ahnung, dass Homosexuel­le in Palästina um ihr Leben fürchten müssen», sagt er, als die kreischend­en Israel-Kritiker an ihm vorbeizieh­en. Es passierte also genau das, was die Organisato­ren der Pride vermeiden wollten: Der Umzug wurde für eine Aktion missbrauch­t, die nichts mit den Anliegen queerer Menschen zu tun hat.

Nach Angaben der Stadtpoliz­ei indes verlief der Umzug «grundsätzl­ich friedlich».Allerdings gab es ein weiteres obskures Grüppchen, das die Kundgebung zu stören versuchte. Sechs Schweizer und ein Deutscher wurden für weitere Abklärunge­n auf eine Polizeiwac­he gebracht. Wie die Stadtpoliz­ei in einer Medienmitt­eilung schreibt, gehören die Männer zur rechtsextr­emen Szene. Demnach waren sie unter anderem mit einem Motorboot unterwegs und hatten homophobe Flyer verteilt – per Drohne.

Newspapers in German

Newspapers from Switzerland