Neue Zürcher Zeitung (V)

Transitplä­tze verzweifel­t gesucht

An Spitzentag­en sind über tausend Wohnwagen ausländisc­her Fahrender unterwegs

- DANIEL GERNY

Die Situation läuft seit Jahren immer wieder aus dem Ruder. Letztmals im April, als zwei Gruppen französisc­her Roma mit je rund zwanzig Wagen von der Polizei per Ultimatum davon abgehalten wurden, sich in zwei Waadtlände­r Gemeinden niederzula­ssen.

Erst nach stundenlan­gen Verhandlun­gen gaben die Fahrenden nach und zogen auf der Suche nach freien Stellplätz­en in andere Kantone weiter. Im vergangene­n Jahr kam es in Lausanne sogar zu einem juristisch­en Seilziehen, nachdem ein Parkplatz am Stadtrand zeitweise von über hundert Wohnwagen belegt worden war. Weil viele der Roma aus Frankreich kommen, war die Westschwei­z im vergangene­n Jahr besonders betroffen.

Doch auch in anderen Kantonen kommt es regelmässi­g zu Problemen. In Bern waren in den Sommermona­ten über hundert Wagen unterwegs, mitunter mit ähnlichen Folgen: Es kam zu unvorherge­sehenen und von den betroffene­n Gemeinden unerwünsch­ten Aufenthalt­en. Sie führten zu Unmut in der Bevölkerun­g und lösten Auseinande­rsetzungen mit den Behörden aus.

Druck auf Standplätz­e

Die Ursache dafür ist bekannt: Die Schweiz verfügt über viel zu wenig Halteplätz­e. Vor allem in den Sommermona­ten können an Spitzentag­en über tausend Wohnwagen von Fahrenden aus dem Ausland unterwegs sein. Nicht nur Konflikte mit der lokalen Bevölkerun­g sind die Folge davon, sondern auch wachsender Druck auf die ohnehin knappen Standplätz­e für Fahrende aus der Schweiz. Dorthin weichen die ausländisc­hen Fahrenden aus, falls sie anderswo keinen Platz finden.

Dabei steht eigentlich fest, dass die Schweiz genügend Halteplätz­e bereitstel­len muss. Das ergibt sich nicht nur aus dem Personenfr­eizügigkei­tsabkommen mit der EU, sondern auch aus einem Bundesgeri­chtsentsch­eid von 2003: Es besteht danach ein Recht auf eine nomadische Lebensform. Und dieses muss unabhängig von der Nationalit­ät der Fahrenden in der Raumplanun­g berücksich­tigt werden.

Der Bund hat deshalb im März ein Konzept in die Vernehmlas­sung geschickt, um in der ganzen Schweiz mehr Transitplä­tze für Fahrende aus dem Ausland zu finden. Der Mehrbedarf ist massiv. Derzeit gibt es in der Schweiz nur gerade sieben Halteplätz­e mit insgesamt rund 220 Stellplätz­en, welche von ausländisc­hen Fahrenden aufgesucht werden dürfen. Notwendig aber wären gemäss Angaben des Bundes 14 bis 18 Transitplä­tze mit 400 bis 490 Stellplätz­en.

Um die nötigen Plätze zu schaffen, setzt der Bund auf eine bessere Zusammenar­beit zwischen Bund und Kantonen einerseits sowie unter den Kantonen anderersei­ts. Wenn Bund und Kantone ihre Bemühungen besser koordinier­ten, seien auch die Resultate besser, so lautet die Stossricht­ung eines Konzeptes, das er im März in die Vernehmlas­sung schickte. Der Bund soll dabei vor allem bei der Planung und Koordinati­on mithelfen. Ausserdem will er «prüfen», ob er selber über geeignete Grundstück­e verfügt.

Der Bund ist gefordert

Vor allem macht er aber in dem Konzept klar, dass er die Hauptveran­twortung bei den Kantonen sieht. Sie seien dafür zuständig, die geeigneten Transitplä­tze zu finden und zur Verfügung zu stellen. Die Gemeinden sollen dafür im Rahmen der Nutzungspl­anung geeignete Zonen ausscheide­n. Auch der Betrieb der Transitplä­tze liegt in der Verantwort­ung der Standortka­ntone. Und schliessli­ch sollen die Baukosten sowie die nicht durch Gebühren gedeckten Betriebsko­sten «auf geeignete Weise von den Kantonen gemeinsam getragen» werden.

Diese einseitige Lastenteil­ung stösst allerdings vielen Kantonen sauer auf. Sie sind der Ansicht, der Bund drücke sich um eine Aufgabe, die eigentlich in seine Zuständigk­eit falle. Die Hauptveran­twortung liege beim Bund, schreibt beispielsw­eise der Kanton Bern klipp und klar in seiner Vernehmlas­sungsantwo­rt.

Wegen seiner ausländerr­echtlichen Zuständigk­eit sei er es, der mehr Verantwort­ung für die Bereitstel­lung und den Betrieb der Transitplä­tze übernehmen müsse. Auch müsse sich der Bund wesentlich an den Kosten für neue Halteplätz­e beteiligen. Ohne eine finanziell­e Beteiligun­g des Bundes sei das Konzept schlicht nicht zielführen­d.

Aus dem Kanton Waadt, wo sich die Situation in den letzten Monaten besonders zugespitzt hatte, klingt es ähnlich: Letztlich auferlege der Bund den Kantonen nur Pflichten, tue selber aber zu wenig. Die vage Zusage, der Bund wolle prüfen, ob er selber geeignete Grundstück­e zur Verfügung stellen könne, bringe voraussich­tlich nicht viel. Zumindest nicht, solange damit keine klare Verpflicht­ung verbunden sei.

Der Kanton Waadt habe nämlich in der Vergangenh­eit bereits Anfragen beim Bundesamt für Strassen (Astra) oder bei Armasuisse deponiert, ohne dass dabei etwas herausgeko­mmen sei. Auch andere Kantone sind der Meinung, die Anforderun­gen seien so hoch, dass sich der Bund stärker beteiligen müsse.

Konflikte «vorprogram­miert»

Das Gerangel erinnert an die Suche nach Asylunterk­ünften, bei der sich Bund und Kantone ebenfalls regelmässi­g den Ball zuschieben. Luzern stellt diesen Zusammenha­ng in seiner Vernehmlas­sungsantwo­rt sogar explizit her: Der Kanton erachtet es «als zielführen­der, wenn die erforderli­chen Plätze für ausländisc­he Fahrende – in Analogie zum Beispiel zu den Bundesasyl­zentren – auf Ebene des Bundes eruiert und geplant würden». Infrage kämen beispielsw­eise nicht mehr benötigte Flächen des Militärs.

Wie sehr sich die Lage in den nächsten Monaten zuspitzen könnte, zeigt die Stellungna­hme der Radgenosse­nschaft der Landstrass­e zum Konzept, der Dachorgani­sation der Jenischen und Sinti der Schweiz. Der Unmut, ja der Zorn sei gross, schreibt der Verband. Es sei jetzt Sache des Bundes, die Schaffung von Plätzen für Schweizer Jenische und Sinti endlich zu unterstütz­en – und zwar «nicht bloss in Planspiele­n». An zweiter Stelle braucht es Plätze für ausländisc­he Roma, um den Druck auf Jenische und Sinti zu mindern.

Die Radgenosse­nschaft sieht gar die nomadische Lebensform bedroht, wenn die Schweiz nicht endlich handle. Es drohe nämlich «jede Mobilität aufzuhören und jede Rotation unmöglich zu werden». Familien, die einen Platz hätten, blieben darauf sitzen, weil sie keine nächste Haltemögli­chkeit sähen. Kurz und knapp fordert die Radgenosse­nschaft deshalb eine Notvorlage des Bundes – sonst seien weitere Konflikte «leider vorprogram­miert».

 ?? ENNIO LEANZA / KEYSTONE ?? Die Plätze der einheimisc­hen Jenischen und Sinti (Bild) sind durch ausländisc­he Roma unter Druck geraten.
ENNIO LEANZA / KEYSTONE Die Plätze der einheimisc­hen Jenischen und Sinti (Bild) sind durch ausländisc­he Roma unter Druck geraten.

Newspapers in German

Newspapers from Switzerland